Rede von Joachim Holstein, Bürgerbahn – Denkfabrik, auf der 741. Montagsdemo am 20.1.2025
Liebe Stuttgarterinnen und Stuttgarter, liebe Freundinnen und Freunde einer vernünftigen Bahn mit einem gescheiten Bahnhof,
am letzten Dienstag erschien in der „Süddeutschen Zeitung“ ein Artikel mit dem Titel „Wer nicht bremst, verliert.“[1] Es geht um Zwangsbremsungen bei der Bahn, wenn ein Lokführer ein rotes Signal überfährt, oder wenn er schneller unterwegs ist als erlaubt.
Wahrscheinlich haben alle von uns sowas schon mal erlebt – und wir möchten vermutlich lieber nicht wissen, was passiert wäre, wenn diese Sicherung nicht eingebaut und einprogrammiert worden wäre oder wenn sie nicht funktioniert hätte.
Also eine gute Sache, diese Zwangsbremse, ganz im Gegensatz zur Schuldenbremse – die unter anderem Investitionen in mehr Schulen, mehr Kitas, mehr Gleise, mehr Oberleitungen und so weiter verhindert. Verabschiedet wurde diese Schuldenbremse 2009 als Reaktion auf die Bankenkrise von 2007-2008. Sprich: weil der Staat den Banken milliardenschwere Rettungsringe zuwarf und Rettungsschirme aufspannte, wurde anschließend der gemeinen Bevölkerung der Geldhahn zugedreht.
Im Deutschlandfunk gab es dazu Ende 2023 einen Beitrag, den der Sender so präsentierte: „Die Schuldenbremse war eines der folgenschwersten Gesetze der letzten Jahre. Es schränkt die Handlungsfähigkeit von Regierungen bis heute massiv ein. Dass das Gesetz so entscheidend war, wurde aber vor dem Beschluss in den Medien kaum transportiert.“[2]
Dabei hatte es mahnende Stimmen gegeben – die Ökonomen Peter Bofinger und Gustav Horn kritisierten, dass die Schuldenbremse „das zentrale Ziel der Zukunftsvorsorge einer Volkswirtschaft“ gefährde. 15 Jahre später geben die meisten Fachleute ihnen Recht, etwa Monika Schnitzer, die neue Vorsitzende des Sachverständigenrats, die eine Reform der Schuldenbremse fordert, um mehr Investitionen in die Transformation der Wirtschaft zu ermöglichen.
Eingebrockt hatte uns diese Suppe die erste Merkel-Regierung, Finanzminister war damals Peer Steinbrück, und den Verkehrsminister stellte mit Wolfgang Tiefensee auch die SPD. Fünf Monate später übernahm Wolfgang Schäuble als innigster Anbeter der von Angela Merkel erfundenen schwäbischen Hausfrau für acht Jahre das Finanzministerium, und das Verkehrsministerium ging an die CSU, gut vier Jahre Peter Ramsauer, knapp vier Jahre Alexander Dobrindt, fünf Monate kommissarisch Christian Schmidt und knapp vier Jahre Andreas Scheuer.
Was diese Politik der Schuldenbremse flächendeckend angerichtet hat, muss ich hier wahrscheinlich nicht weiter ausbreiten.
Es gibt also gute und schlechte Bremsen. Zu der guten, der Zwangsbremsung bei der Bahn, gibt es allerdings noch ein großes Aber, und das hängt mit der Firmenpolitik der Deutschen Bahn zusammen. Die „Süddeutsche“ referiert, dass es pro Jahr bei der DB über 10.000 Zwangsbremsungen gibt, das sind knapp 30 pro Tag, beziehungsweise etwa alle 50 Minuten eine Zwangsbremsung. Bei 2.700 Lokführern macht das im Durchschnitt 4 Zwangsbremsungen pro Kopf und Jahr.
Die „Süddeutsche“ hebt hervor: „Kein Lokführer erlebt so etwas gerne oder produziert es gar absichtlich.“ Richtig. Niemand auf der Schiene sabotiert die Bahn. Die Sabotage der Bahn findet ganz woanders statt, da würden mir so zwei, drei Gebäude in Berlin und Frankfurt einfallen. Was also macht der Bahntower angesichts von „in der Regel drei bis fünf“ Zwangsbremsungen pro Kopf und Jahr?
Er macht die Lokführerinnen und Lokführer zur Minna, schreibt die „Süddeutsche“: Die Bahn hat nun trotzdem die Regeln für ihre 2.700 Lokführer verschärft. Künftig müssen sie nach jeder Zwangsbremsung ein ‚klärendes Gespräch‘ mit ihrem Chef führen, ordnet die Bahn in einer internen Weisung an ihre Führungskräfte an, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Bei mehr als acht Vorfällen binnen eines Jahres kann eine Schulung fällig werden. Und bei 16 Zwangsbremsungen ‚darf der Triebfahrzeugführer nicht mehr eingesetzt werden‘, heißt es in dem Dokument. Die betroffenen Lokführer selbst wurden von der DB zunächst nicht informiert.
Die betroffenen Lokführer und ihre Gewerkschaften sind empört. Antanzen zum Rapport, drohender Jobverlust ... „die Maßnahmen treffen die Falschen“, sagt die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG. Der Bahnvorstand sondert Sprechblasen ab, man wolle doch nur „herausfinden, welche Kollegen sich womöglich unsicher im Umgang mit dem Regelwerk fühlten“.
Ja, das kann man sich lebhaft vorstellen, da könnte der prominenteste Lokführer der DB – „Peterle Sky“ auf Instagram – glatt noch eines seiner vom DB-Vorstand so geliebten Videos drehen: Fragt also der Gruppenleiter: „Lokomotivführer Lukas, wie schnell dürfen Sie fahren, wenn in der Dienstunterlage 200 steht?“ Da sagt Lukas der Lokomotivführer natürlich: „200, Chef“. Fragt der Chef: „Sind Sie sicher?“ Sagt Lukas: „Klar, das steht da doch!“
So könnte es in einer idealen Welt laufen. Da wäre niemand unsicher. Ist ja im Auto eigentlich auch niemand. Wenn das gelbe Ortsschild auftaucht, gilt Tempo 50, wenn im roten Kreis plötzlich eine 40 steht, gilt 40, und so weiter.
Aber wir sind nicht in einer idealen Welt, sondern wir sind im Land der Schuldenbremse, wo es so wenig Lokführer gibt, dass manche 600 Überstunden vor sich herschieben, und wo die Bahn schlampert, wie die „Süddeutsche“ schreibt und einen Lokführer zitiert: Auch er habe im vergangenen Jahr ein paar Zwangsbremsungen verursacht. Aber nicht, weil er unachtsam gewesen sei. Gerade wenn es Umleitungen gebe, stelle die Bahn-Tochter DB InfraGo oft nicht die nötigen Unterlagen bereit. Man müsse sich alles selbst zusammensuchen, etwa die Langsamfahrstellen und die Fahrplanmitteilungen. Es werde immer schwieriger, alles im Blick zu haben.
Schau an. Das „klärende Gespräch“, um das „unsichere Gefühl“ beim Umgang mit dem Regelwerk herauszuarbeiten, würde also in der Realität ganz anders ablaufen: Fragt der Gruppenleiter: „Lokomotivführer Lukas, wie schnell dürfen Sie fahren, wenn in der Dienstunterlage 200 steht?“ Da sagt Lukas: „Das weiß ich nicht. Vielleicht 200, vielleicht aber auch weniger.“ Fragt der Chef: „Wieso sind Sie sich da nicht sicher?“ Sagt Lukas: „Weil ich nicht weiß, ob ich die richtigen Unterlagen bekommen habe.“ Sagt der Chef: „Äääähhh ...“ Sagt Lukas: „Genau.“
Die „Süddeutsche“ dazu: „Auch unter den Führungskräften, die künftig nach jedem Zwischenfall ein Gespräch führen sollen, herrscht bislang jedoch Ratlosigkeit. ‚Wenn ich bei jeder Zwangsbremsung ein Gespräch führen soll, fährt bald kein Zug mehr‘, sagt eine von ihnen. Natürlich sei es ein Problem, wenn übermüdete oder überlastete Lokführer unterwegs seien. Der Fehler liege jedoch im System.“
Da trifft die anonyme Führungskraft den Nagel auf den Kopf: Der Fehler liegt im System.
Und das gilt nicht nur für das Tempolimit, sondern auch für andere Bereiche. Da gibt es den Ehrgeiz mancher Regierungen, den schnellsten Zug zu haben, auch wenn der nur zwei Triebköpfe und drei Mittelwagen hatte, spezialbehandelt wurde, und eine verstärkte Oberleitung brauchte, um auf 574,8 km/h zu kommen. Da werden auch im Fahrbetrieb Geschwindigkeiten jenseits der 300 abgefeiert – ich erinnere mich noch gut an eine Fahrt im TGV von Strasbourg nach Lyon, wo auf der Neubaustrecke durch die Berge überall „320“ über den Gängen aufleuchtete ... aber eine halbe Stunde später, als derselbe Zug mit vielleicht 50 Sachen durch die Peripherie von Dijon schlich, hatte man die Tempoanzeige in den Waggons rechtzeitig abgeschaltet.
Es mag ja für den Fahrgast ein im wahrsten Sinne des Wortes erhebendes Gefühl sein, wenn ein ICE mit 300 Sachen über eine Hügelkuppe im Westerwald rauscht oder der spanische AVE von der kastilischen Hochebene abkippt und runter nach Córdoba oder nach Zaragoza donnert – aber mal ernsthaft: Eisenbahnen werden nicht gebaut, um Achterbahnfeeling zu erleben, sondern dafür gibt es die „G’sengte Sau“ in Tripsdrill.
Diese Hochgeschwindigkeiten haben aber nicht nur das Problem des exponentiell anwachsenden Energieverbrauchs und des drastisch höheren Aufwands für Rollmaterial und Unterbau – nein, sie senken auch die Effizienz im System: es passen weniger Züge pro Stunde auf die Strecke. Bei Shinkansen, AVE & Co. habe ich Zugfolgen von 3 bis 4 Minuten gefunden, also 15 bis 20 Züge pro Stunde. Die Stuttgarter S-Bahn kommt hier unten auf 24 Züge pro Stunde, die Münchner S-Bahn fährt 27 Züge pro Stunde, also auch etwa alle 2 Minuten. Die U-Bahnen in Paris und Toulouse kommen auf 1 Minute und 20 Sekunden, das sind 45 Züge pro Stunde.
Warum das geht? Die fahren alle gleich schnell. Niemand überholt, niemand muss ausweichen, um einen schnelleren Zug vorbeizulassen. Das kann man im täglichen Leben beobachten – achtet mal auf stark ausgelastete Rolltreppen, vor denen sich manchmal Schlangen und Staus bilden, weil alle den Spruch „rechts stehen, links gehen“ beherzigen und lieber warten, um sich nur auf der rechten Seite auf die Stufen zu stellen, damit die linke Hälfte freibleibt, falls mal ein paar Eilige kommen. Viel effizienter ist es, wenn man sich auch links hinstellt und die Rolltreppe zweireihig nutzt, in London hat man den Effekt mal wissenschaftlich ausgemessen.
Auf einer Bahnstrecke hat man aber normalerweise nur ein Gleis pro Richtung, da muss dann bei unterschiedlich schnellen Zügen immer wieder das Ausweichen und Überholen sichergestellt werden, Weichen müssen umgestellt werden, und wenn der wieder anfahrende Zug sich in die Hauptstrecke einfädelt, dann kostet das zusätzliche Zeit. Es ist also geradezu eine Binsenweisheit, dass bei Mischung von langsamen und schnellen Zügen insgesamt weniger Züge fahren können.
Wenn also hier nicht der Geschwindigkeitsrausch gebremst wird, sagen wir von 320 auf maximal 200 oder 180 km/h, dann verliert man Kapazität, entweder bei den Fernzügen oder den Nahverkehrszügen oder bei den Güterzügen. Womöglich bei allen. Die DB hat zum Beispiel schon auf der Strecke von Dresden Richtung Prag abgelehnt, Trassen für alle angefragten Nachtzüge bereitzustellen, weil laut Deutscher Bahn nur einer pro Stunde zwischen die anderen Züge passt.
Wer den Hochgeschwindigkeitswahn nicht bremst, verliert Kapazität – daher teilen wir als Bürgerbahn die Forderung vieler Bahn-Initiativen nach „Takt vor Tempo“.
Gebremst werden muss aber auch der Drang nach unvernünftigen Neubauprojekten, und da springe ich jetzt mal ganz weit weg, nämlich auf die mexikanische Halbinsel Yucatán und ins brasilianische Amazonasgebiet. Beides ökologisch sensible Regionen, beides Gebiete mit bedeutender indigener Bevölkerung und Tradition – und beides Gebiete, in denen die Deutsche Bahn dabei hilft, Bahnstrecken durch den Dschungel zu schlagen.
Zuständig ist eine DB-Sparte, die für Engineering und Consulting und Operations zuständig ist – kurz: die DB E.C.O. Group. Man hofft vermutlich, dass das Auge die drei Großbuchstaben als ECO liest und das Hirn das mit „öko“ in Verbindung bringt, aber das genaue Gegenteil ist der Fall: es geht um Regenwaldrodung, Vertreibung von Mensch und Tier und die Gefahr von Umweltverschmutzung. In Mexiko ist es der Touristenzug „Tren Maya“, der zahlungsfähigen Ausländern vom Hotspot Cancún aus die bequeme Reise durch den Dschungel ermöglichen soll, in Brasilien geht es um Soja und Eisenerz.
Die NGO „Rettet den Regenwald“ hat Petitionen gestartet, um die beiden Projekte zu stoppen, die Links stehen auf dem Flyer mit meinem Redetext.[3] Auch dort gilt: Wer die Umweltzerstörer nicht bremst, verliert seine Lebensgrundlage!
In Mexiko verfolgt man jetzt in Bezug auf die sogenannten Cenotes, das sind teilweise mit Wasser gefüllte Höhlen, die den Maya heilig sind, einen Ansatz, der in Ecuador, Kolumbien, Neuseeland und Spanien schon in Gesetzen verankert wurde: auch die Natur hat Rechte, und so wie ein Verbraucherschutzverband im Namen von Verbrauchern klagen kann, können dort „Wächter der Natur“ im Namen von Wäldern, Bergen, Flüssen oder Seen gegen Umweltzerstörung klagen.
Vielleicht sollte man das auch mal hierzulande anregen, um die Tunnelmafia zu bremsen, damit ein – ich zitiere von der städtischen Website – „Kulturerbe, um das uns viele Städte beneiden“ nicht verlorengeht.
Eines ist doch klar: Wenn man die hiesigen Mineralquellen fragen würde, was sie von Stuttgart 21 halten, wenn die Quellen offiziell anerkannte „Quellenschützer“ hätten, dann hätten die schon lange und immer wieder das gesagt, was wir hier immer gefordert haben und immer fordern werden:
Oben bleiben!
[1] https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/deutsche-bahn-lokfuehrer-zwangsbremsungen-li.3181659
[2] https://www.deutschlandfunk.de/2009-und-die-folgen-schuldenbremse-und-keiner-diskutiert-darueber-dlf-b6ec2c8a-100.html
[3] https://www.regenwald.org/petitionen/1163/keine-touristenbahn-im-regenwald-der-maya
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