Der Digitale Knoten Stuttgart – Segen oder Fluch?

Rede von Dr.-Ing. Hans-Jörg Jäkel, Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21, Ingenieure22, auf der 717. Montagsdemo am 29.7.2024

Alle Projektpartner von Stuttgart 21, aber auch die Medien, berichten immer wieder in fast schon euphorischen Darstellungen über die Zukunft der Eisenbahn mit einem Digitalen Knoten Stuttgart (DKS). Als Beispiel möchte ich Herrn Bernhard Bauer, den Vorsitzenden des Vereins Bahnprojekt Stuttgart-Ulm e.V. – auch bekannt als Ministerial­direktor im Verkehrsministerium am schwarzen Donnerstag im September 2010 – aus dem ganz aktuellen Projektmagazin „Bezug“ vom Juli 2024 zitieren: „Der Digitale Knoten ist ein Leuchtturm-Projekt, das mutig in die Zukunft weist und von dem selbst Schweizer Verkehrsexperten schwärmen, weil sich dadurch mehr Züge auf modernere Weise ins System bringen lassen“. Der für die S-Bahn zuständige Leitende Direktor beim Verband Region Stuttgart, Herr Dr. Wurmthaler, schwärmt im gleichen Heft: „Die Digitalisierung ermöglicht also eine enorme Kapazitätssteigerung, mit der wir auch den ansteigenden Bedarf an Mobilität abdecken können“. Bei solchen Aussichten sollten doch demnächst goldene Zeiten für die Menschen in der Region Stuttgart anbrechen, und der Digitale Knoten kann nur ein Segen sein.

Doch das ist er keinesfalls! Beim Projekt Stuttgart 21 haben die Projektpartner doch jede Glaub­würdigkeit verloren – nicht nur bei den Kosten und Terminen, sondern auch bei der Digitalisierung. Das möchte ich mit meiner Rede deutlich machen, und es ist sicher nicht überraschend, wenn ich die Antwort auf die Titelfrage vorwegnehme: Der Digitale Knoten Stuttgart – so wie er von der Deutschen Bahn umgesetzt wird – ist ein Fluch – zumindest für die Bahnfahrer.

Die Digitalisierung des Eisenbahnbetriebs und das europäische Zugsicherungssystem ETCS, die sind daran aber nicht schuld. Mit ETCS wird die Signalisierung einer Zugfahrt in den Führerraum verlagert. Das ist ja eine wirklich gute Sache, wenn der Lokführer – insbesondere bei sehr schlechter Sicht – nicht mehr darauf angewiesen ist, die am Gleis aufgestellten Signale zu beobachten, sondern umfangreichere Fahrtinformationen dauerhaft auf seinem Display angezeigt bekommt. Eine solche Führerraumsignalisie­rung ist bei der Deutschen Bahn mit dem System LZB (linienförmige Zugbeeinflussung) schon seit vielen Jahren im Einsatz und ist bei Geschwindigkeiten über 160 km/h erfor­derlich. Die LZB soll durch ETCS abgelöst werden.

2020 haben die Projektpartner von Stuttgart 21 beschlossen, die früheren Planungen einer Doppelsignalisierung, also sowohl konventionelle Signale als auch ETCS, weitgehend durch den Digitalen Knoten Stuttgart zu ersetzen. Im Tiefbahnhof und der Tunnelspinne, aber auch auf den zentralen Teilen der S-Bahn wird nur noch auf ETCS ohne Signale als konventionelle Rückfallebene gesetzt. Außerdem soll das auf der Grundlage von ETCS mögliche automatisierte Fahren (ATO) ziemlich weitgehend umgesetzt werden. Dafür werden immer neue Ideen entwickelt, die dann zu der irrsinnigen Behauptung führen, dass auf jedem Gleis des Tiefbahnhofs alle 5 Minuten ein Zug fahren kann. Über all die denkbaren Möglichkeiten von ATO haben die Vertreter der DB dann auch immer wieder informiert. Eine Veröffentlichung bezeichnete die Projektbetreiber sogar als „die jungen Wilden“ aus Stuttgart. Dabei war wahrscheinlich mehr der Automatisierungshype als ein stabiler Bahnbetrieb der Antrieb.

Aber Ideen, Konzepte, Beschlüsse und Hochglanzpräsentationen zum DKS sind das eine, die Umsetzung eine andere – offenbar sehr viel schwierigere – Aufgabe. Das betrifft sowohl die Streckenausrüstung – den Hauptgrund für die erneute Termin­verschiebung der Inbetriebnahme – als auch sämtliche Fahrzeuge, die im Tiefbahnhof und bei der S-Bahn Stuttgart im DKS verkehren können. Die Umrüstung der S-Bahn-Triebwagen begann 2022, aber in dem bereits zitierten Beitrag von Dr. Wurmthaler heißt es dazu im Juli 2024 immer noch: „Momentan wird an den ersten Prototypen gearbeitet“. Wie können die Verantwortlichen da noch ruhig schlafen?

Auch die mehr als 100 Regionalzüge des Landes, die im Tiefbahnhof verkehren sollen, müssen mit ETCS ausgerüstet werden. Ein gemeinsamer Artikel von Alstom und dem Verkehrsministerium Baden-Württemberg vom Juni 2024 in der Zeitschrift Eisenbahntechnische Rundschau trug den bezeichnenden Titel: „Quo vadis DSD-Fahrzeugausrüstung?“. Ich könnte aus den fünf kritischen Seiten viele bedenkliche Aussagen zitieren, möchte mich hier aber auf zwei leicht gekürzte Sätze aus dem Fazit des Artikels beschränken: „Die Nachrüstung … und sinnhafte Ausrüstung von Neufahrzeugen … steht erkennbar am Scheideweg. Ohne eine starke Koordination der Fahrzeug- und Infrastrukturausrüstung durch den Bund … droht eine weitreichende Fragmentierung und mehrfache Ausrüstung von Fahrzeugen. Ohne eine starke Koordination wird der Sektor mit knappen Ressourcen … kollabieren.

Das ist einerseits der Ruf an den Bund nach mehr Geld, aber auch nach mehr Steue­rung. Beides sehe ich im Ministerium von Herrn Wissing nicht ansatzweise gegeben, denn passend dazu hat der Spiegel am 19. Juli 2024 informiert, dass die Ausrüstung mit digitaler Steuerungstechnik für alle Züge in Deutschland (etwa 13.000) auf 38 Milliarden Euro taxiert wird. Vor sechs Jahren hatte man noch mit 4 Milliarden gerechnet.

Bei all dem soll Stuttgart 21 mit dem DKS nun Ende 2026 in Betrieb gehen, also (nur) mit digitaler Infrastruktur im Tiefbahnhof, in den Tunneln und bei der S-Bahn. Und alle dort verkehrenden Fahrzeuge müssen mit ETCS ausgerüstet sein. Wie war das mit den Prototypen der S-Bahn? An denen wird „momentan gearbeitet“.

Für die Inbetriebnahme 2026 hatte die DB die wesentlichen Einschränkungen des Bahnverkehrs Anfang Juli bekannt gegeben. Ich kann Euch diese Grausamkeiten nicht ersparen. Stellt sich dann wirklich noch die Frage nach Segen oder Fluch des DKS?

  • Unterbrechung der Panoramabahn ab 22. April 2026
  • Sperrung der Filderbahn (S2 und S3 ab S-Vaihingen) ab 22. April bis 22. Mai
  • Sperrung der S-Bahn von S-Nord bis S-Hbf ab 25. Juni bis 12. September
  • Stammstreckensperrung der S-Bahn ab 8. Juli bis 12. September
  • Sperrung der S-Bahn in S-Bad Cannstatt ab 8. Juli bis 12. September
  • Sperrung der Fernbahn in S-Bad Cannstatt ab 12. Oktober bis 12. Dezember

In einem wunderbaren Buch über die Geschichte der Eisenbahn in Stuttgart gibt es ein extra Kapitel: „Inbetriebnahme des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs“. Darin heißt es: „Die Aufnahme des Betriebs im neuen Personenbahnhof verdient besondere Erwäh­nung, da sie angesichts der Kürze der Umstellungsphase und der bis ins Detail durch­dachten Arbeitsabläufe heute noch bemerkenswert ist“. Diese Würdigung bezieht sich auf die Umstellung vom Bahnhof an der Bolzstraße hin zu unserem Kopfbahnhof an der Schillerstraße. Dafür waren nur einige Stunden in der Nacht vom 22. zum 23. Oktober 1922 erforderlich. Was wird man wohl mal über Stuttgart 21 schreiben?

Seit Samstag gibt es die jährliche Stammstreckensperrung in den Sommerferien. Eigentlich sollten diese Sperrungen nur bis 2023 gehen, aber für die Inbetriebnahme des DKS in 2026 wird das jetzt noch drei Jahre so weitergehen. Und was ist mit 2025? Mitte Juli hat die DB InfraGO dazu kurzfristig zu einer Videokonferenz eingeladen. Und noch einmal muss ich zitieren, denn allein diese Einladung beantwortet die Frage nach Segen oder Fluch des DKS eindeutig. Es heißt: „Damit die Inbetriebnahmephasen auch technisch vollständig umgesetzt werden können, müssen im Fahrplanjahr 2025 noch umfangreiche Vorarbeiten durchgeführt werden. Aktuell können Sie diese weder aus der KiGBau noch aus anderen Unterlagen entnehmen. Deshalb möchten wir in einem 1. Termin alle zusätzlichen Sperrungen für das erste Quartal 2025 vorstellen, welche im Großraum Stuttgart angemeldet wurden.“ Mit dem Titel „Notwendige Sperrungen im 1. Quartal 2025 für Stuttgart 21“ werden auf fast 30 Seiten umfangreiche Einschrän­kungen bei der S-Bahn, im Regional-, Fern- und Güterverkehr für Bad Cannstatt, Feuerbach und Vaihingen aufgelistet.

Das Nahverkehrsdreieck wird also erst mal zum Bermuda-Dreieck, und es macht fassungslos, wenn es dazu fünf Monate vorher keine offiziellen Unterlagen gibt! Laut Protokoll der Videokonferenz hat der Geschäftsführer des VVS, Herr Hachenberger, angemerkt, dass für den Ersatzverkehr der VVS mit einbezogen werden soll. In welch schlimmen Zustand befinden sich denn die Planungen? Auch im Verkehrsministerium Baden-Württemberg war man darüber nicht informiert.

Es geht dabei nicht nur um kurzfristige Sperrungen einzelner Strecken in der Nacht oder mal am Wochenende, sondern beispielsweise sollen beide Gleise der Fernbahn vom Hauptbahnhof bis nach Zuffenhausen vom 22. Februar bis 24. März an allen Wochenenden und in der ersten Woche auch Montag bis Freitag komplett gesperrt werden. Die Auswirkungen werden so manchen Fluch bewirken. Ich nenne nur einige:

  • Ausfall einiger Fernverkehrslinien zwischen Karlsruhe und München
  • Umleitung von Fernverkehrslinien über Bietigheim bzw. S-Münster
  • Ausfall des Zwischentakts bei S4, S5 und S6
  • S6 als Schienenersatzverkehr zwischen Zuffenhausen und Schwabstraße
  • MEX17, MEX18 und RE8 als Schienenersatzverkehr Bietigheim – Hauptbahnhof
  • Ausfall des IRE1 zwischen Karlsruhe und Stuttgart

All diese Sperrungen und Einschränkungen im Bahnverkehr haben die Projektbefür­worter immer wieder verschwiegen. Auch bei der Entscheidung für den Digitalen Knoten Stuttgart wurden die Abhängigkeiten und die vielfältigen Belastungen bei der Umrüs­tung von Strecken und Fahrzeugen nur wenig bedacht. So schlimm sie auch sind und so oft wir darüber fluchen, sie machen mehr als deutlich, dass 2026 mit Sicherheit nicht das letzte Jahr sein wird, in dem der Kopfbahnhof Stuttgart in Betrieb bleibt.

Auch wir können „Oben bleiben“.

Rede von Hans-Jörg Jäkel als pdf-Datei

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein abgelegt und mit , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.