Rede von Tom Adler, Demoteam, auf der 715. Montagsdemo am 15.7.2024
Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,
es gibt Situationen, da ‚pfupfert‘ es auch uns im Demoteam, hier selber etwas zu sagen – bei wichtigen Ereignissen, wenn es Diskussionsbedarf unter uns in der Bewegung gibt. In so einer besonderen Situation sind wir gerade: Seit einigen Wochen ist das Klima-Skandalprojekt in einer neuen, überaus krisenhaften Phase.
Das, was von der Projektpropaganda ständig als „Projektfortschritt“ abgefeiert wurde, hat sich, je näher die ständig verschobenen Inbetriebnahmetermine kommen, in der harten Wirklichkeit als unübersehbare Projekt-Bruchstellen erwiesen, die in immer kürzeren Abständen ans Licht kommen.
Manche von uns, vor allem die, die heute nicht mehr zu unseren Demos kommen, werden bei so einer Diagnose müde abwinken mit dem Gefühl: „Ach, alles in vielen Jahren Widerstand zig-fach erlebt!“ – und täglich grüßt das Murmeltier! Manche Hoffnung auf das nahe bevorstehende Endes des Projekts wurde ja tatsächlich enttäuscht. Zu sehr war nur der Wunsch der Vater des Gedankens. Aber Hoffnung zu haben ist zutiefst menschlich. Wäre das anders, stünden auch wir nicht mehr hier!
Was, liebe Freund*innen, ist heute also anders, warum spreche ich von einer neuen Krisenphase des Projekts?
Punkt 1: Die Glaubwürdigkeit? Sooo im Oarsch!
Ein Blick zurück nach 2013 macht das verständlich: Damals gewinnt noch das S21-Kommunikationsbüro – namentlich der Herr Dietrich – einen Prozess gegen die Stuttgarter Zeitung. Die hatte tatsächlich Ungeheuerliches geschrieben: dass Stuttgart 21 nicht 2021 sondern erst 2022 in Betrieb gehe – und das Kommunikationsbüro das auch wissen müsse. Das Gericht hat das bewertet als eine „wahrheitswidrige, den Kläger herabwürdigende Tatsachenbehauptung ... und damit die Glaubwürdigkeit des Kommunikationsbüros in dieser Form in Frage gestellt.“
Kein Gericht der Welt würde heute mehr so ein Urteil fällen. Jeder Richter würde der Bahn ins Gesicht lachen, wenn sie Journalisten verklagen würde, die schreiben, dass die Bahn selber wisse, dass Stuttgart 21 nicht 2025, nicht 2026 und nicht 2027 ff in Betrieb gehen könne …
Das ist die erste Krise in einer Kombination von Stuttgart-21-Krisen: die Glaubwürdigkeit! Glaubwürdigkeit?? Die ist SOOO im Oarsch!!
Liebe Freund*innen, es ist nicht das einzelne Problem, das das Projekt und seine bisherigen Unterstützer noch tiefer als 2013 in große Schwierigkeiten bringt. Es ist diese Verdichtung und Kombination vieler einzelner Krisenmomente, die diese neue Phase kennzeichnen. Das schafft Rückenwind für uns, den wir nutzen müssen!
Die erodierende mediale Rückendeckung…
… ist für Bahn und Tunnelparteien Krisenmoment Nummer zwei. Heute bezeichnen x Journalisten Stuttgart 21 als größtes anzunehmendes Kosten-Desaster der Deutschen Bahn. Einige rechnen dabei sogar scharf ab mit der Rolle der Medien. Die meisten hatten sich ja als durch und durch unkritische propagandistische Projekt-Begleiter zur Verfügung gestellt, schreibt der Leitartikler der WELT am 10. Mai: „Eine erhebliche Mitverantwortung dafür trägt eine politische Öffentlichkeit, in der während des jahrzehntelangen Streits nicht Argumente, sondern Klischees zählten.“
Drittes Krisenmoment: Bahn auf neuem Niveau des Desasters
Dass die Bahnpolitik und damit Stuttgart 21 auch medial verschärft in der Kritik steht, ist nicht überraschend. Nach fast zwei Jahrzehnten auf geplanten Verschleiß gefahrener Bahninfrastruktur präsentiert sich die Deutsche Bahn heute auf einem nie dagewesenen Desaster-Niveau. Sooo am Oasch, eben! Vor allem für Bahnreisende. Auch die Schulden sind heute noch höher als vor der kompletten Entschuldung durch den Bund vor 30 Jahren. Und die Bundesregierung setzt da jetzt noch einen drauf, kürzt Mittel für die hoch verschuldete Bahn und diskutiert, ob sie der Bahn statt Zuschüssen Kredite geben wird – was die Schuldenlast noch vergrößern würde. Wissing will mit Steuergeld sowieso lieber Autobahnen bauen lassen.
Das ist zwar Wahnsinn, aber der Wahnsinn hat Methode: denn mit dieser Politik bereiten SPD, Grüne und FDP einem neuen Privatisierungsvorstoß den Boden – dem Privatisierungsvorstoß einer CDU-geführten Bundesregierung nämlich – die Tage der Ampel sind ja absehbar gezählt. Und Friedrich Merz hat gestern öffentlich gesagt, wie er die Bahn „sanieren“ will: durch Abbau von Angebot auf der Schiene! Man kann gar nicht so viel essen, wie man kotzen möchte bei solchen Forderungen, im Angesicht der beschleunigten Klimakatastrophe!
Der Zustand der Deutschen Bahn ist so verheerend, dass sogar Infrastrukturvorstand Huber kleinlaut zugibt: „Wir haben zu lange gedacht, die Infrastruktur hält ja noch. Insgesamt wurde zu wenig in sie investiert, (…) wir haben nicht erwartet, dass sich das jetzt so beschleunigt“. Womit dieser Vorstand seine üppigen Gehälter verdient und sogar noch Boni, fragt sich jeder normal denkende Mensch!
„Die Realisierung von Stuttgart 21 ist entscheidend für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands“ hat Angela Merkel mal gesagt. Und ihr Satz macht heute ganz anders Sinn, ganz und gar anders, als sie eigentlich wollte: Der erbärmliche Gesamtzustand der Deutschen Bahn, mit dem Betonklotz Stuttgart 21 um den Hals, für den auch sie mit verantwortlich ist (!), das stellt heute tatsächlich unsere ‚Zukunftsfähigkeit‘ in Frage! Und zwar in sehr existentieller Hinsicht: denn ohne gelingende Verkehrswende weg vom Auto, hin zur Schiene, ist kein Klimaschutz zu erreichen! Siehe: Baden-Württembergs verfehlte Klimaziele, Hauptursache: der Verkehr!
Und auch das, liebe Freund:innen, ist Teil dieser verdichteten und kombinierten Krisen, die die neue Etappe von Stuttgart 21 ausmachen.
Viertes Krisenmoment: Die inneren Krisen des Projekts Stuttgart 21 selbst
Die meisten davon sind Ihnen und Euch seit Jahren sehr vertraut, die Aufzählung ist sicher unvollständig: ständig immer weiter hinausgeschobene Eröffnungstermine, ständig weiter steigende Projektkosten, die nicht mehr haltbare Leistungs-Lüge.
(Ketzerische Frage: Sollte eigentlich nicht der Tunnel-Bahnhof an sich, ohne Digitalisierungs-Gedöns, mal 100% mehr leisten? So hieß es doch zu einem Zeitpunkt, als OB Schuster und die ganzen Stuttgart- 21-Propagandisten noch gar nicht wussten, was ETCS und Digitalisierung ist?)
Seit kein Mensch mehr ernsthaft behauptet – nicht einmal der grüne Verkehrsminister – dass 8 Gleise mehr könnten als 16, wird das Wundermittel zur Leistungssteigerung „Digitalisierung und ETCS“ (European Train Control System) propagiert – gewissermaßen die blaue Potenzpille für den Stuttgarter Bahnknoten. Jetzt wissen erfahrene Eisenbahner aber, dass das erstere wohl wirkt, aber ETCS und Digitalisierung bei Stuttgart 21 auch nicht weiterhelfen! Wenn das Hemd unten falsch zugeknöpft wird, kann es oben halt nicht passen, hat Ex-SBB-Chef Benedikt Weibel dazu gesagt.
Und jetzt ist sogar die Finanzierung dieses eingebildeten Stuttgart-21-Viagra in Frage gestellt: laut Wirtschaftswoche muss die klamme Bahn ihre Ausgaben „priorisieren“ – ETCS und Digitalisierung für Stuttgart stehen dabei nicht ganz oben auf der Prioritätenliste!
Dazu kommt das Problem Untertürkheimer Abstellbahnhof – er wird mehr kosten und weniger leisten können als behauptet. Offenbar müssen künftig Züge zur Außenreinigung bis nach Ulm gefahren werden – mit zusätzlichen Kosten, zusätzlichen CO2-Emissionen für Leerfahrten – was für eine Blamage für ein Verkehrsmittel, das doch Klima schonen und Emissionen senken soll!
Und last but not least ist schon eine Kostensteigerung angekündigt, die bisher noch garnicht auf dem Zettel war: eine halbe Milliarde Euro dafür, den ruinierten Bonatzbau für Hotel- und Shoppingmall-investoren wieder herzurichten. So geht Kostenehrlichkeit bei der Deutschen Bahn!
Fünftes Krisenmoment: Offen ausgetragene Konflikte unter den Projektunterstützern
Sie kennen alle diese wunderbare Karikatur von Friederike Groß: die nach vorn einigen Stuttgart-21-Unterstützer, in der Rückenansicht jeder mit gezücktem Messer in der Hand.
Die visionäre Friederike Groß hat vor Jahren schon gezeichnet, was heute brutal offen zu Tage tritt: sie klagen gegeneinander wie die Kesselflicker, sie schieben die schwarzen Peter hin und her. OB Frank Nopper protestiert bei der Bahn, weil sie den Start seiner Immobilienprojekte im Gleisvorfeld behindert, der Verkehrsminister protestiert, weil unsicher ist, ob das „Potenzmittel“ ETCS und Digitalisierung finanziert wird. Und die CDU im Bundestag fordert den Rücktritt von Bahnchef Lutz – Motto: haltet den Dieb, schrie der Dieb, um sich im Durcheinander davon machen zu können.
Zu dieser fünften Krisenerscheinung kommt jetzt noch die sechste – und sie wird nicht die letzte bleiben:
Finanzierungslücken im Stadt-Haushalt – ein Risiko für das „letzte argumentative S21-Aufgebot“ Wohnungsbau
Der Finanzbürgermeister hat vergangene Woche den Stadträten eine Übersicht über die Kosten beschlossener und gewünschter Investitionsprojekte vorgelegt, von der Opernsanierung bis zur Rosensteinbebauung: insgesamt 7,5 Milliarden Euro, die nicht finanziert sind! Davon 1 Milliarde allein für das Rosensteinquartier, plus 650 Mio. für Schulneubau. Die klare Aussage heißt: das kann selbst die reichste Kommune Deutschlands so nicht finanzieren. Projekte müssen gestrichen werden. Das wird spannend, wenn im Herbst die Verteilungskämpfe anfangen – und es ist eher unwahrscheinlich, dass dann alle vom Sparzwang Bedrohten gerne auf 1,6 Milliarden plus x für ein Rosensteinviertel verzichten wollen!
Ganz davon abgesehen, dass mehr als fraglich ist, ob in 15 Jahren wirklich Bedarf für Wohnungen in einem neuen Viertel besteht. Wachstums- und Bedarfsprognosen sind alle nicht eingetreten.
Und ganz davon abgesehen, dass es nach dem neuesten Zensus Leerstand ohne Ende in Stuttgart gibt: 11.142 Wohnungen, der größte Teil davon (4100) länger als 12 Monate. Das Vaihinger IBM-Areal steht ungenutzt seit 15 Jahren leer.
Ganz davon abgesehen, dass man Mietenexplosion schon heute unterbinden könnte, ohne die wichtige Frischluftschneise Gleisvorfeld zu betonieren.
Ganz abgesehen von alledem hat jetzt eine Meldung des SWR die Stadtspitze alarmiert: ob das Gleisvorfeld überhaupt entwidmet und neu beplant werden kann, ist inzwischen auch rechtlich hoch umstritten. Eine beschlossene Änderung im Allgemeinen Eisenbahngesetz erlaubt Entwidmungen von Bahnverkehrsflächen nur bei „herausragendem öffentlichem Interesse“ – Wohnungsbau oder Arbeitsplätze gehören nach Auskunft des EBA offenbar nicht dazu.
Selbstverständlich sieht Stadtspitze und Bauwirtschaft das anders – jahrelanger Rechtsstreit liegt also in der Luft, der die Rosensteinbebauung noch mehr als jetzt schon zum Wolkenkuckucksheim macht! Es sei denn, das Gesetz wird vor allem mit Blick auf Stuttgart 21 wieder geändert – Grünen-MdB Matthias Gastel hat dafür schon Unterstützung angekündigt.
Wenn es aber dabei bleibt, dass das Gleisvorfeld vor Entwidmung gesetzlich geschützt wäre, ist der nächste Krisenherd zwischen Stadt, Bund und Bahn vorprogrammiert. Und die Auseinandersetzung um den „Plan B“ – also dauerhaft „oben bleiben“ und schauen, was „unten“ kann – wäre ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung katapultiert!
Und noch immer: Wir sind da! Ihr kriegt uns nicht los! Jetzt auch noch mit prominenter Rückenstärkung!
Und damit, liebe Freund:innen, schließt sich ein Kreis: Die kombinierten, verdichteten Krisenelemente des Tunnelbahnhofsprojekts können unserem Kampf für den Erhalt des Kopfbahnhofs neuen Schub verschaffen. Wenn wir nicht nachlassen! Wenn wir in dieser Etappe den „Plan B“ von DUH und GDL zum Erhalt der Gäubahn-Anbindung an den Kopfbahnhof unterstützen! Denn Plan B ist ein Coup gegen das immer noch herrschende „Augen zu und durch“-Prinzip in der jetzigen Phase verdichteter S21-Krisen! Plan B ist ein wichtiger Abschnitt im Kampf ums OBEN BLEIBEN mit dem gesamten oberirdischen Stuttgarter Kopfbahnhof. Unsere Kritik am ungelösten Brandschutz im Stuttgart-21-Tunnelsystem bleibt dabei trotzdem gültig und unser Thema.
Aber Vorsicht: ich erinnere an den auf unsrer Bühne oft zitierten, von Faschisten ermordeten Sozialisten Antonio Gramsci und an seinen Rat, der auch für uns Stuttgart-21-Gegner gilt: dass wir „Skeptiker des Verstands, aber Optimisten des Willens“ sein müssen: Noch gibt es keinen Grund, ans kurz bevorstehende Ende des Projekts zu denken, die „Augen zu und durch“-Politiker werden vorerst noch weiter Nebel werfen und weiter wursteln.
Und wir haben uns nicht nur mit industrieabhängigen Politikern angelegt, sondern mit wirklich mächtigen Kapitalgruppen, die darauf pochen, dass weitere Milliarden gutes öffentliches Geld in private Kassen geleitet werden, und die lieber Autobahnen bauen, als die Verkehrswende zur Schiene zu stärken. Es ist aber wichtig, liebe Freund:innen, auch wenn unsre Gegner furchterregend mächtig scheinen, genau zu analysieren, wo die Risse in ihrem scheinbar unbezwingbaren Konstrukt aus Geld, Beton und Stahl sind – im Sinn von Leonard Cohens „There is a crack in everything, thats where the light comes in!“ Dazu wollte ich heute beitragen.
Das Standardwerk unsres Freundes Winfried Wolf hat den Titel: „abrundtief und bodenlos, Stuttgart 21, sein absehbares Scheitern und die Kultur des Widerstands“. Die Konturen des Scheiterns sind unübersehbar, Winfried Wolf hat aber keinen Moment daran gedacht, dass wir passiv dabei zuschauen können, wie Stuttgart 21 an sich selbst scheitert. Seine „Kultur des Widerstands“ ist eine bleibende Aufforderung an uns. Eine Aufforderung an uns, gerade jetzt, in der neuen Krisenphase des Projekts und seiner Unterstützer, nicht auf das Eintreffen einer Prophezeiung zu hoffen. Sondern diese Situation mit eigener Aktivität zu nutzen!
Unsere eigene Aktivität ist eine Voraussetzung, um aus dem „absehbaren Scheitern“ das Ende des Skandalprojekts werden zu lassen. Unsere eigene Aktivität fängt mit kleinen Dingen an: z.B. der Unterstützung der Mahnwache. Die Flyer in fünf verschiedenen Sprachen, das tolle EM-Banner zeigen schon, dass da doch was geht. Unsere eigene Aktivität braucht es auch, um für unsere Kundgebungen zu werben! Überall, wo wir uns bewegen. Die Projektkrise sehen zwar viele, doch für Protest auf der Straße müssen sie neu mobilisiert werden! Auch unsere kleine Demo zur Mahnwache könnte mehr Teilnehmer brauchen und damit sichtbarer werden!
Wir selber sind wichtig, um die Krisenmomente zu thematisieren und damit zu vertiefen. Wenn ein Winfried Hermann in der Lenkungskreis-Sitzung sichtlich genervt ist von unserer Brandschutzkritik, zeigt das, wie wichtig unsere Stimme ist. Wenn ein Bahnvorstand behauptet, der Plan-B-Parallelbetrieb oben und unten sei nicht realisierbar, zeigt das: unsere Kritik perlt nicht ungehört ab wie in den letzten Jahren. Wenn sich entlang der Gäubahnstrecke Proteste entwickeln, dann sind auch das Ergebnisse unseres Widerstands!
Liebe Freund:innen, in diesem Sinne: es braucht unsere „Kultur des Widerstands“ als Katalysator und damit werden wir gemeinsam
Oben Bleiben!