Rede von Michael Becker, Kernen 21, auf der 702. Montagsdemo am 8.4.2024
Guten Abend,
ich möchte mich heute mit der Frage beschäftigen, ob das, was als „Kombilösung“ bezeichnet wird, ein sinnvoller Bahnknoten für Stuttgart sein kann. Da es insgesamt aber mehrere Ausprägungen eines Mischbetriebs aus oberirdischem Kopfbahnhof und unterirdischer Durchgangshaltestelle gibt, und es nicht ausgemacht ist, ob eine dieser Varianten auch für die Anforderungen des Stuttgarter Bahnknotens die Lösung sein kann, möchte ich sie lieber erst einmal als Mischbetriebsvarianten bezeichnen.
Gestatten sie mir zuvor einen kleinen Rückblick ins Jahr 1970, in eine Zeit, in der die meisten Züge in Stuttgart bei der Ein- und Ausfahrt noch zeitaufwändig ab- und angekuppelt werden mussten. Zu jener Zeit hat die Bundesbahn überlegt, den Kopfbahnhof mit einer unterirdischen Fernverkehrsverbindung Mannheim-Ulm zu ergänzen. 1988 hat dann Professor Heimerl die Idee aufgegriffen und einen zusätzlichen viergleisigen Durchgangsbahnhof unter dem Kopfbahnhof vorgeschlagen. Angeregt vom englischen Architekten Sir Norman Foster haben 1990 drei junge Stuttgarter Architekten, Hansjörg Bohm, Klaus Gurk und Christian Wendt – die ersten „Querdenker“ der Republik – den gesamten Bahnhof in ihren Plänen gedreht und unter die Erde gelegt. Einen Hubschrauberflug von Rommel, Dürr und Teufel über die durch die Tieferlegung freiwerdenden Flächen und ein Saufgelage im IHK-Weinberghäusle später, wurde dann das Immobilienprojekt Stuttgart 21 aus der Taufe gehoben und am 18. April 1994 der überrumpelten Öffentlichkeit als „Riesenchance für ein neues Stuttgart“ vorgestellt. Soweit die Legende….
Schnell wurde klar, was für ein Kuckucksei die Immobilienhaie den BahnfahrerInnen da in die Grube gelegt hatten, und es gründete sich mit „Leben in Stuttgart, kein Stuttgart 21“ der erste Widerstand gegen den Bahnhofsrückbau. Mit dem Abrissbeginn des Nordflügels im Sommer 2010 formierte sich eine breite Bürgerbewegung mit Demonstrationen von über 100.000 TeilnehmerInnen. Da selbst massive Polizeigewalt, die am 30.9.2010 zur Räumung des Schlossgartens für die Errichtung des Grundwassermanagements angewendet wurde, die Bürgerbewegung nicht stoppen konnte, schaltete die damalige CDU-Regierung unter Ministerpräsident Mappus auf Bürgerdialog um und installierte unter Heiner Geissler im November 2010 die sogenannte „Schlichtung“.
Im Verlauf des Faktenchecks wurde schnell klar, dass der geplante Tiefbahnhof völlig unzureichend ist und von seiner Leistung her gesehen in jeglicher Hinsicht einem modernisierten Kopfbahnhof unterlegen sein wird. Umso verblüffter war dann am 30.11.2010 die erstaunte Öffentlichkeit, als Heiner Geissler mit nur geringen Ergänzungen am Projekt S21 den Weiterbau des Tiefbahnhofs als Ergebnis der Schlichtung empfahl. Ziel der Schlichtung war es aber von vornherein nicht, den für Stuttgart besten Bahnknoten zu eruieren, sondern die Bürgerbewegung soweit einzufangen und zu befrieden, dass der Immobiliencoup ungehindert durchgezogen werden konnte.
Am Ende des von der Schlichtung initiierten Stresstestes hat dann Heiner Geissler am 29.7.2011 unter dem Titel „Frieden in Stuttgart“ einen Kombibahnhof – bestehend aus 4 Durchgangs- und 10 bis 12 Kopfbahnhofgleisen – als Lösung mit der Bezeichnung SK 2.2 vorgestellt. Der Begriff der „Kombilösung“ war geboren und wird seitdem immer, wenn neue Hiobsbotschaften den Tiefbahnhof belasten, als Alternative ins Spiel gebracht.
Mit dem sogenannten Volksentscheid im November 2011 waren alle Mischbetriebsvarianten vom Tisch, die Grünen und die ihnen nahestehenden Umweltverbände verabschiedeten sich vom Widerstand gegen Stuttgart 21 und sahen für sich wider besseren Wissens im „kritischen“ Begleiten des Projektes S21 ihre Lösung. Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.
Angekommen im hier und jetzt konnten wir uns zu Ostern bei den Tagen des offenen Stirnrunzelns über den Nicht-Fortschritt der Tiefbahnhofbaustelle informieren. Auch 30 Jahre nach der Projektpräsentation ist ein Eröffnungstermin nicht in Sicht, und jetzt kommt sogar von der Bahn selbst der Vorschlag, die unterirdische Durchgangshaltestelle und den Kopfbahnhof zumindest für eine Übergangszeit im Mischbetrieb zu kombinieren. Der Kopfbahnhof als Steigbügelhalter für die Totgeburt S21? Das kommt nicht in Frage: eine jahrelange Hängepartie auf provisorischen Gerüstbautreppen zwischen hoch und tief ist inakzeptabel! Das sieht sogar der unkritische Projektbegleiter Winne Hermann so.
Doch wie kann es weitergehen? Nehmen wir einfach mal an, die Projektbefürworter wie z.B. OB Nopper verabschiedeten sich von der Lüge, wir bräuchten die durch S21 frei werdenden Flächen für dringend benötigten Bau von 5700 Wohnungen, und der Kopfbahnhof könnte samt Zulaufstrecken weiter betrieben werden, wäre dann aus bahnbetrieblicher Sicht ein Mischbetrieb sinnvoll? Schließlich wurde doch schon so viel Geld für S21 ausgegeben! Das kann aber nicht der Maßstab sein, sondern einzig und allein die Frage, ob das Gebaute auch die Infrastruktur verbessert. Und… tut es das?
Bevor ich dieser Frage nachgehe, möchte ich noch kurz belegen, warum das Argument, Gleisflächen freizumachen für Wohnbau, geheuchelt ist. Wohnraum ist schon seit 30 Jahren in Stuttgart knapp. Trotzdem hat die Stadt bei der Bebauung des Güterbahnhofareals den Focus nicht auf bezahlbaren Wohnraum, sondern auf überflüssige Einkaufszentrenten wie das Milaneo und seelenlose Betonflächen wie den Mailänder Platz gelegt. Im Gerber werden bereits leerstehende Verkaufsflächen zu Wohnraum umgenutzt. 75 % der oberirdischen Flächen, die durch S21 frei werden, könnten schneller mit dem Umstiegs-21-Konzept für Wohnbau zur Verfügung stehen. Mal ganz davon abgesehen, dass die Stadt die Möglichkeit, den Leerstand bei bestehenden Wohnungen zu unterbinden, nicht konsequent nutzt, obwohl das sofort nutzbaren Wohnraum schafft – und nicht erst wie durch S21 in frühestens 10 Jahren.
Der Tiefbahnhof allein ist zu klein, er braucht Unterstützung, wie aktuell geplant durch den Ausbau der Bahnhöfe Vaihingen, Feuerbach und Cannstatt zu einem Bypass, genannt Nahverkehrsdreieck. Der von Winne Hermann ins Spiel gebrachte unterirdische Ergänzungsbahnhof fällt flach, den haben die Koalitionspartner kassiert, die mangelnde Leistung von S21 ist den Autofahrern von der CDU egal.
Nahverkehrsdreieck, echte Teamarbeit, denkt sich der Tiefbahnhof, toll, ein anderer macht’s. Anders der Kopfbahnhof, der denkt sich, lass mich mal machen! Wie von der Verkehrsberatungsgesellschaft Vieregg-Rößler in der Expertise „Kopfbahnhof für Stuttgart – Vorschlag für einen zukunftsfähigen Bahnknoten Stuttgart“ 2011 dargelegt wurde, ist der Kopfbahnhof auch in Zukunft in der Lage, durch vergleichsweise geringe Investitionen in die Infrastruktur mehr als die doppelte Leistung von S21 zu erbringen.
Hier die Vorteile des Kopfbahnhofes gegenüber einem dauerhaften Mischbetrieb:
- Teure und zeitaufwändige Installation von ETCS in Fahrzeugen und an Gleisen um den Bahnknoten Stuttgart herum entfallen, sämtliche Zugtypen können den Kopfbahnhof anfahren.
- Anschaffung teurer Doppelstockzüge nicht nötig.
- Auch Dampf- und Dieselloks können betrieben werden. Letzteres ist bei der aktuellen Finanzkrise der Bahn wohl auch noch längere Zeit nötig – siehe ausbleibende Elektrifizierung der Strecke Stuttgart-Aulendorf.
- Barrierefreier Ein- und Umstieg zwischen allen Gleisen, keine defekten Aufzüge und Rolltreppen.
- Direkte und kurze Wege beim Umsteigen im Deutschlandtakt bei ausreichend Gleisen und genügend Zulaufstrecken.
- Ausbau der Filder-Neckartal-Ringschluss-S-Bahn unter Einbeziehung des für die Schnellbahntrasse nach Wendlingen gebauten Teilstückes Sulzbachtalviadukt möglich.
- Kein Brand-Sicherheitsrisiko, Zufahrt zu den Gleisen für Rettungskräfte auch mit Fahrzeugen gelebte Praxis.
- Keine gefährliche Gleisneigung an zu engen Bahnsteigen, verwirrende Doppelbelegungen überflüssig.
- Züge können mit Frischwasser, Getränken und Speisen versorgt werden, einfache Reparaturen, Frontscheiben putzen, an- und abkoppeln von einzelnen Waggons ist möglich.
- Geringerer Energieverbrauch des Bahnhofs an sich und im Fahrbetrieb, ohne enge Tunnel und Steigungen.
Kombi ist also keine Lösung, nur eine schlechte Variante, deshalb stellt sie kein erstrebenswertes Ziel für unsere an einem zukunftsfähigen Bahnknoten interessierte Bürgerbewegung dar.
„Hilf mir bitte, lass mich nicht untergehen“, schreit der bei einem Sturzregen im Schlamm des Nesenbaches versinkende Tiefbahnhof dem Kopfbahnhof zu.
„Nein“, schallt es zurück, „versinke du Wurm, du bist zu nichts zu gebrauchen, wir wollen lieber Oben Bleiben!“