Rede von Dieter Reicherter, Vorsitzender Richter am Landgericht a.D., auf der 671. Montagsdemo am 14.8.2023
Liebe Freundinnen und Freunde!
„Unendlich zahlt niemand für nichts.“ Das sagte der Vorsitzende Richter Wolfgang Kern am zweiten Verhandlungstag über die vier Klagen der Bahn zur Finanzierung der Kostenüberschreitungen bei Stuttgart 21. Dieser Spruch gefiel mir so gut, dass ich ihn als Thema meiner heutigen Rede gewählt habe.
Zunächst möchte ich aber unsere Capella Rebella ganz herzlich begrüßen und mich dafür bedanken, dass sie mich musikalisch mit passenden Titeln unterstützt und euch hoffentlich damit erfreut. Eigentlich wollte ich als ersten Musiktitel „Oinr isch emmr dr Arsch“ von Schwoißfuaß nehmen, weil ja entweder Bahnchef Lutz oder Ministerpräsident Kretschmann als Verlierer dastehen werden. Ich kam aber zum Ergebnis, dass ein solches Lied für einen Manager mit herausragenden Leistungen und für einen von Hannah Arendt inspirierten Philosophen unpassend ist. Stattdessen hören wir im Vorgriff auf die Siegerehrung:
Komm gib mir deine Hand von Tony Marshall (1971)
„Komm gib mir deine Hand, denn heute feiern wir. Wir sind so froh gelaunt und haben allen Grund dafür.“
Allerdings wird es bis dahin geschätzte 10 Jahre dauern. Am 1. August fanden sich im Verwaltungsgericht wieder 25 Verfahrensbeteiligte ein. Also Rechtsanwälte und Vertreter der Kläger und Beklagten. Wobei das eigentlich falsch ausgedrückt ist, weil nach Auffassung des Gerichts sechseinhalb Jahre nach Klageerhebung immer noch nicht klar ist, ob das Land allein verklagt ist oder auch die Stadt Stuttgart, der Verband Region Stuttgart und der Flughafen. Macht aber nichts, die 25 arbeiten vielleicht vergeblich, aber jedenfalls nicht umsonst. Außer vielleicht der frühere Flughafen-Chef Schoefer, der als externer Berater vorgestellt wurde und bestimmt kein Geld will. Aktuell nimmt ein Rechtsanwalt bei einem so wichtigen Verfahren einen Stundensatz von mindestens 400 Euro. Hochgerechnet auf alle Beteiligte ergibt das samt Gerichtskosten für den Prozess locker ein zweistelliges Millionensümmchen.
Jedenfalls ging mir beim Anblick dieses Auflaufs von wichtigen Menschen der Begriff „Armada“ durch den Kopf. Der bedeutet nicht nur Pulk oder Schwarm, sondern auch bewaffnete Streitmacht. Die spanische Armada begleitete die Handelsschiffe zum Schutz der Gold- und Silberladung vor Piraten. Deshalb erinnerte mich die Armada auch an die Entstehung von S21 im Weinberghäusle, beschrieben im
„Kriminaltango“ vom Hazy-Osterwald-Sextett (1959)
„Kriminaltango in der Taverne. Dunkle Gestalten, rote Laterne. Abend für Abend lodert die Lunte, sprühende Spannung liegt in der Luft.“
Eigentlich müsste ich euch einen juristischen Vortrag halten, verschone euch aber damit und zitiere stattdessen den Vorsitzenden Kern. Zu den über 7500 Aktenseiten meinte er: „Unser Kopf ist nicht groß genug, um sich das alles zu merken“.
Voraussetzung, dass überhaupt jemand zahlen muss, ist, dass etwaige Ansprüche der Bahn nicht verjährt sind. Das hängt davon ab, wann die Bahn Kenntnis von den Kostenüberschreitungen hatte. Also wurde heftig darüber diskutiert, wann die Bahn das wusste. Letztlich ging es darum, ob das 2012 oder 2013 war. Leider musste ich als Zuhörer den Mund halten und konnte deswegen nicht dazwischen schreien, dass wir schon Anfang 2013 eine Untreue-Strafanzeige gegen den Bahnvorstand erstattet und dabei dessen frühe Kenntnis der Kostenüberschreitung nachgewiesen hatten. Auch war schon 2012 die Presse voll von entsprechenden Meldungen und sogar das Verwaltungsgericht Stuttgart hat im Verfahren wegen unseres Bürgerbegehrens Storno 21 rechtskräftig festgestellt, dass die Bahn 2012 Kenntnis von den Kostenüberschreitungen hatte.
Aber jetzt in der Verhandlung beteuerten Alle, nichts gewusst zu haben, nach dem Motto
„Mein Name ist Hase“ von Chris Roberts (1971):
„Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts. Ist hier was geschehen? Ich habe nichts gesehen.“
Zum Glück liegt mir die vertrauliche Notiz vom 10.11.2010 aus dem Staatsministerium zur sogenannten Schlichtung unter Heiner Geißler vor. Dort ist von Kostensteigerungen die Rede und davon, dass von allen Beteiligten zusätzliche Mittel bereitgestellt werden müssten. Diesen Vermerk habe ich nun dem Verwaltungsgericht mit einem höflichen Schreiben zur Kenntnisnahme übersandt. Ich will ja nicht, dass die Wahrheit auf der Strecke bleibt.
Es ging dann um die Frage, was die Sprechklausel im Finanzierungsvertrag bedeutet. Ob man nur sprechen oder über eine weitere Bezahlung verhandeln sollte. Eine Sauerei kam auch noch heraus. Denn man hatte bei den Vertragsverhandlungen vereinbart, dass es auf von der Bahn verursachte Kostensteigerungen nicht ankomme. Bis zum Höchstbetrag von 4,526 Milliarden mussten die Projektpartner auch für solche unnötigen Kosten mitbezahlen. Aber das war ja unser Geld, welches für unser Glück verschenkt wurde.
„Ich brauche keine Millionen“ sang Marika Rökk (1939):
„Ich brauche keine Millionen, mir fehlt kein Pfennig zum Glück. Ich brauche weiter nichts als nur Musik, Musik, Musik.“
Nachmittags packte die Bahn mit geänderten Klageanträgen den Hammer aus. Offenbar hat die Inflation seit dem ersten Prozesstag kräftig zugeschlagen. Beispielsweise wäre es vor zwei Monaten für den Flughafen noch mit einer Beteiligung an den Mehrkosten bis zu 366 Millionen Euro abgegangen. Jetzt soll er schon bis zu 597 Millionen blechen. Da jaulte sein Anwalt auf, das sei ein Fass ohne Boden. Niemand hat ihm widersprochen.
Dazu muss man erklären, dass beim Finanzierungsvertrag von 2009 mit Baukosten von etwa 3 Milliarden Euro gerechnet wurde. Zusätzlich wurde ein Risikotopf von 1,450 Milliarden für unerwartete Mehrkosten vereinbart. Geregelt wurde genau, wer wie viel für die Baukosten und im Falle von Kostensteigerungen in den Risikotopf einzahlen sollte. Weil aber für Kosten über 4,526 Milliarden keine Regelungen getroffen wurden, soll das Gericht das nun nachholen. Und zwar notfalls nach billigem Ermessen, das aber in diesem Fall teuer werden dürfte.
Dazu sagte Wolfgang Kern: „Wir treffen keine Entscheidung, die wir nicht verstehen.“ Wenigstens wurde geklärt, dass die Bahn die über 4,526 Milliarden hinausgehenden Mehrkosten gleich aufteilen will wie im Risikotopf mit 1,450 Milliarden. Ihre Projektpartner sollen einfach das Fünffache ihrer Anteile am ursprünglichen Risikotopf draufzahlen. Das sind schlappe 4,700 Milliarden, dann käme man mit dem Anteil der Bahn auf eine Verteilung von Kosten bis 11,776 Milliarden. Die Bahn räumte dabei ein, auch durch diese Milliardennachzahlungen könne die Wirtschaftlichkeit des Projekts nicht hergestellt werden.
Bahnchef Lutz dachte zum Trost an die
„Hämmerchen-Polka“ von Chris Howland (1961):
„Und dann hau ich mit dem Hämmerchen mein Sparschwein, mein Sparschwein kaputt. Mit dem Innenleben von dem kleinen Sparschwein geht’s mir dann wieder gut.“
Weil der Risikotopf nur in der ursprünglichen Vereinbarung vorkommt, hat der Bahnanwalt einen neuen Begriff erfunden. Er nannte nämlich die fünf weiteren Zahlungsstufen in Höhe von jeweils 1,450 Milliarden „Kaskaden“. Meine Nachschau im Duden ergab, dass man auch einen wagemutigen Sprung in der Artistik als „Kaskade“ bezeichnet. Als Beispiel wird der Salto Mortale genannt. Da war mir klar, wie es zu der fünffachen Kaskade gekommen ist.
Der Finanzierungsvertrag ist einerseits so kompliziert und andererseits so lückenhaft, dass sich die Beteiligten jetzt in ihren eigenen Fallstricken verfangen. Beispielsweise soll der Flughafen enorme weitere Beträge zahlen, ist aber nicht einmal im Lenkungskreis vertreten, welcher die Freigabe für höhere Kosten erteilen müsste. Andererseits hat die Region ihren Anteil von 100 Millionen an den Baukosten längst bezahlt und ist am Risikotopf gar nicht beteiligt, sitzt aber trotzdem im Lenkungskreis.
Jetzt weiß nicht einmal die Bahn, ob tatsächlich Land, Stadt, Region und Flughafen zahlen sollen oder vielleicht nur Land, Stadt und Flughafen oder nur Land und Stadt oder nur das Land. Jedenfalls wünscht sie in erster Linie, dass Land und Stadt zusammen 4,103 Milliarden Euro draufzahlen müssen und der Flughafen 597 Millionen. Wenn man dabei die interne Verteilung im Risikotopf zugrunde legt, würde das die Stadt Stuttgart mit etwa 1,3 Milliarden treffen. Noch vor wenigen Wochen hatte der Anwalt der Stadt in einer Gemeinderatssitzung deren Risiko mit 800 Millionen beziffert. Und das hatte offenbar niemanden beeindruckt. Allerdings wäre bei einer entsprechenden Verurteilung dieser Betrag auf einen Schlag fällig und nicht wie im Finanzierungsvertrag in zehn Jahresraten – dann gute Nacht. Rückstellungen gibt es nicht. Da wird man wohl einige Kindergärten und Schulen schließen müssen.
Falls tatsächlich auch die Region für die Mehrkosten bluten muss, würde das wieder über die Kreisumlage auf die Gemeinden verteilt. Beispielsweise entfiele dann auf meine Heimatgemeinde Althütte mit 4.300 Einwohnern, die für S21 in 10 Jahren 150.000 Euro bezahlt hat, eine fünfmal so hohe Nachzahlung auf einen Schlag, also 750.000 Euro, obwohl sie dieses Jahr schon ein Haushaltsdefizit von fast einer Million hat.
Aber eigentlich ist es sowieso egal, wer wie verurteilt wird. Denn zahlen müssen immer die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler und die Bahnreisenden. Und die haben keinen Einfluss, wie schon
Klaus Lage in „Monopoli“ (1984) wusste:
„Monopoli, Monopoli. Wir sind nur die Randfigur´n in einem schlechten Spiel. Monopoli, Monopoli. Und die Herrn der Schlossallee verlangen viel zu viel.“
Weswegen die Prozesshansel lustig weitermachen werden. Geradezu philosophisch war Kerns Aussage: „Vielleicht muss niemand mehr zahlen und Sie hätten aufhören sollen“. Er setzte noch einen drauf mit dem Spruch: „Wir werden nicht darüber entscheiden, ob Sie weiterbauen müssen“. Aber das wird die Beteiligten nicht davon abhalten, in kollektiver Verantwortungslosigkeit weiter teure Fakten zu schaffen.
Nach so viel Spaß freue ich mich auf die nächste Verhandlungsrunde am Montag, 18. September 2023, wieder ab 10:30 Uhr. Ein Urteil ist da übrigens nicht zu erwarten.
Bis dahin wollen wir
Oben bleiben!