Rede von Tom Adler, Demoteam, auf der 661. Montagsdemo am 5.6.2023
Meine Damen und Herren, liebe FreundInnen,
Sie wissen es inzwischen sicher alle, dass unser Mitstreiter und Freund Winfried Wolf am Abend nach der letzten Montagsdemo vor zwei Wochen gestorben ist. Er ist seinem Krebsleiden erlegen; die Zeit, die er gerne noch gewonnen hätte, um seine Projekte fortzusetzen und Bewegungen wie unsere zu unterstützen, und womöglich beim „absehbaren Scheitern“ von Stuttgart 21 noch dabei zu sein, war ihm nicht mehr gegeben.
Unsere Montagskundgebung ist eine politische Veranstaltung, wendet sich also nicht nur an uns selbst, sondern ist auch nach außen gerichtet. Sie ist – wie wir gerne sagen – die größte Volkshochschule unter freiem Himmel, mit gesellschaftsverändernden Zielen. Sie ist das auch heute, obwohl viele von uns um Winfried Wolf trauern. Vielleicht fragt sich die eine oder der andere, warum wir dann heute über ihn sprechen, wo doch etliche Mitstreiter*innen schon gehen mussten, denen nicht immer eine Rede gewidmet wurde.
Wer wüsste besser als wir – im Kampf gegen Stuttgart 21 selber alt geworden – dass der Tod zum Leben gehört und dass wir unsere Zeit auf Kundgebungen nicht mit Trauern verbringen können. Denn um den Kopfbahnhof zu erhalten, müssen wir weiter unsere Stimme in der Öffentlichkeit erheben: damit das „absehbare Scheitern“ des abscheulichen, klima-, bahn,- und stadtzerstörenden Tunnelprojekts Wirklichkeit wird.
Winfried Wolf wollte auch keine Trauerfeier – er hat sich ein Erinnerungsfest gewünscht. Dieses Fest wird momentan für den 15. Juli ins Auge gefasst, den Samstag nach unserer 666. Montagsdemo.
Ich spreche heute über Winfried Wolf, weil er einer der unbeirrbarsten Impulsgeber für uns war, ganz von Anfang an, in allen Phasen der Bewegung, einer, der nie seine Person über die Unterstützung unserer Sache gestellt hat, weil er auch in seiner Kritik an unseren Fehlern, wie z.B. der konkreten Form der Beteiligung an der Schlichtung und dem Stresstest, immer solidarisch an der Seite unserer Bewegung geblieben ist. Er hat nie versucht, sie in ein schlechtes Licht zu rücken, sondern immer und überall ihren großen Wert betont.
Er war immer da, wenn er als Redner gebraucht wurde – mit über 40 Reden hat er unsere Kundgebungen bereichert, mit seinem immer motivierenden, charakteristischen Redestil, den ihr kennt – so erinnere ich mich auch an meine erste Begegnung mit ihm: es muss im Herbst 1973 gewesen sein, bei einem „Teach-in“ an der Freien Universität Berlin, in Solidarität mit dem chilenischen Widerstand gegen die brutale Pinochet-Militärdiktatur. Der kaum 25-jährige Winfried Wolf beeindruckte nicht nur mich, sondern den ganzen Saal mit dieser überzeugenden, mitreißenden Rhetorik, mit der er auch 50 Jahre später auf unseren Kundgebungen und Veranstaltungen fesseln und Mut machen konnte.
Und ich spreche heute über Winfried Wolf, weil er geholfen hat in unserer Bewegung zu verankern, dass nicht Bahn an sich schon klimaschonend ist! Sondern dass die Deutsche Bahn erst dann den nötigen Beitrag gegen die Klimaerhitzung leisten wird, also zur Klima-Bahn der Verkehrswende wird, wenn sie politisch darauf ausgerichtet wird: wenn Ausbau in der Fläche Priorität vor Hochgeschwindigkeits-Neubau bekommt, wenn möglichst wenig Beton verbraucht wird für möglichst wenige Tunnels, wenn ein integraler Taktverkehr realisiert wird!
Sein leidenschaftliches Engagement für den Kopfbahnhof und gegen Stuttgart 21 wurzelte nicht nur in seiner Analyse von „Eisenbahn und Autowahn“, seinem 800-Seiten-Grundlagenwerk zur Verkehrswende, das er schon 1987 veröffentlicht hatte. Ein Zitat aus der Einleitung:
„Während der Umweltschutz im allgemeinen und die Förderung des nicht motorisierten und öffentlichen Verkehrs im besonderen in aller Munde ist, wird in den hoch industrialisierten und damit zugleich hoch motorisierten Ländern die Umwelt beschleunigt zerstört und der Weg in die totale Autogesellschaft fortgesetzt.“
1987 geschrieben, klingen sie als wären sie gestern notiert worden. Sie zeigen, wie entsetzlich viel Zeit für die dringend nötige Umkehr ungenutzt geblieben ist.
Dennoch war Winnie, Jahrgang 1949, mehr als sein Engagement gegen Stuttgart 21. Er gehörte zu den jungen Leuten der 1968er Generation, die sich intensiv mit Karl Marx und Rosa Luxemburg beschäftigten und ihr Leben lang aufmerksam gesellschaftliche Konflikte analysierten. Ihr Ziel war es, Situationen zu finden, in denen Menschen sich gegen die ungerechten Bedingungen auflehnen könnten, gegen die Zumutungen der herrschenden Verhältnisse.
Sein Blick dafür war weit, weltanschauliche Grenzen überschreitend, um Zusammenarbeit und
Zusammenhänge stiften zu können, nie verhaftet im sterilen Weltbild der meisten post-68er Kleinparteien, auch wenn er selber etliche Jahre seines Lebens mit dem Versuch verbracht hatte, eine Partei aufzubauen, gar eine Internationale – Peter Lenk hat ihn in seinem Nachruf in der Kontext-Wochenzeitung gnitz als einen echten „Trotz-Kisten“ bezeichnet.
Ständig hatte er, der Internationalist, auch internationale Ausbeutungsverhältnisse im Blick. Er unterstützte nach Kräften Proteste gegen zerstörerische Großprojekte z.B. in Florenz und die No-TAV-Bewegung im Susatal – so wie die heutigen Klimaaktivisti für globale Klimagerechtigkeit einstehen und zerstörerische Projekte wie den mexikanischen ‚Tren Maya‘ bekämpfen.
Sehr früh hat er erkannt und benannt, dass Umwelt-, Arten- und Klimaschutz nicht vereinbar sind mit kapitalistischem Wirtschaften, das ja nur einen einzigen Antrieb kennt: aus investiertem Kapital mehr Kapital zu machen! Winnie hat das immer und immer wieder betont, lange bevor die Klimabewegung entstand. Viele aus unsrer Bewegung und auch linke Gewerkschafter wie ich erkannten nicht die historische Tragweite und das Zerstörungspotential der Klimaerwärmung für die Menschheit – wir dachten, wir hätten noch mehr Zeit.
Seine profunden analytischen Fähigkeiten, sein verkehrs- und eisenbahnpolitisches Wissen und seine Sensibilität für das Keimen von Widerstandspotentialen haben ihn schon in den frühen 90er Jahren zu den Gegnern des Tunnelbahnhofs nach Stuttgart geführt. Er war einer von denen, die dieses Widerstands-Potential im Tunnelbahnhofsprojekt erkannte: Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und unterschiedlichen Interessen konnten in ihrer Kritik an Stuttgart 21 zu einer gemeinsamen Bewegung werden.
1996 hat er das erste Buch gegen die Zerstörung des Kopfbahnhofs verfasst, im Klappentext steht: „Worum handelt es sich bei Stuttgart 21 und den damit in Verbindung stehenden Plänen? Um Projekte, die wenigen viel bringen – und viele teuer zu stehen kommen.“
Mitgearbeitet an dieser ersten umfassenden Projekt-Kritik hatten Freunde und Mitstreiter, die ihm bis zu seinem Tod nahe standen. Und politische Mitstreiter, die heute auch nicht mehr leben. Stellvertretend für sie möchte ich hier an Gangolf Stocker und Utz Rockenbauch erinnern. Ihre Initiative „Leben in Stuttgart“ sollte in den folgenden Jahren eine Keimzelle des wachsenden Protests werden.
Auch sie, die inzwischen gestorben sind, hatten diesen Weg eingeschlagen, den Winnie für sein Leben gewählt hatte: ständig in Verbindung und im Austausch zu bleiben mit widerständigen Menschen und Initiativen an der Basis, die die Welt ein bisschen besser machen wollten. Und dabei hilfreich für Bewegungen und Initiativen zu wirken, statt sich für eine akademische Karriere zu verbiegen oder für eine politische die eigenen Grundsätze über Bord werfen zu müssen. Theorie und Praxis fielen bei Winfried Wolf nicht auseinander.
Der rastlose, sich selbst nie schonende Zeitungsmacher, Organisator, Journalist und Redner gegen Krieg, Umweltzerstörung und Ausbeutung hat sein Laptop zugeklappt. Manchmal entschuldigte er sich sogar dafür – gerade aus Potsdam zur Montagsdemorede angereist – dass er nach unsrer Demo sofort in ein Hotelzimmer am Bahnhof verschwinden müsse und es leider kein gemeinsames Frühstück in der WG geben könne. Weil er am nächsten Morgen um fünf schon wieder im Zug sitzen musste, zur nächsten Veranstaltung am andern Ende der Republik. Hätte er doch ein klein bisschen mehr auch auf sich selber geachtet!
Liebe FreundInnen, „redmole“ – roter Maulwurf – hieß Winnies Mailadresse. Redmole sendet nicht mehr. Dass er eine kaum zu schließende Lücke lässt, werden wir noch feststellen müssen.
Wir sollten uns heute und künftig deshalb umso bewusster bleiben, wie wertvoll jede und jeder einzelne von uns hier ist, die früher Engagierten und erst recht wir weiterhin Aktiven gegen das abgrundtief bodenlose Projekt Stuttgart 21.
Dessen absehbares Scheitern mag vielleicht von selbst kommen. Systeme wie das System Stuttgart 21 erhalten sich aber manchmal auch von selbst, wenn sie nicht immer und immer wieder attackiert, ihr Scheitern nicht immer und immer wieder offengelegt wird von ausdauernden KopfbahnhoffreundInnen wie uns und unseren großartigen Unterstützern.
Oben Bleiben – das wäre auch Winfried Wolfs dringender Appell an uns!