Rede von Peter Grohmann, Kabarettist, Autor und ‚AnStifter', auf der 649. Montagsdemo am 20.2.2023
Liebe Leute,
mich irritiert die Sorglosigkeit dieses Tages. Der 20. Februar ist kein Tag wie jeder andere. An diesem Tag sind in unserem Land Millionen Menschen auf den Straßen, tanzen und feiern und singen und vergessen die Welt.
Wenigsten in diesen Tagen, wenigstens in diesen Zeiten, wollen sie die eigenen Sorgen zu Hause lassen und nichts von den Sorgen der anderen hören oder sehen. Nichts von Bauskandalen und Bahnhöfen und Korruption, nichts vom Niedriglohnsektor oder Chemie in Lebensmitteln, nichts von Renten, Renditen, Randale und Rassismus, nichts von Klimakrise und Krieg.
Aber beides wohnt nebenan.
Beides wohnt doch in unserem Haus. Beides wohnt in dieser Stadt. Der alte Krieg und der neue. Der alte Krieg, den wir vergessen haben, von dem uns die Omi Glimbzsch erzählte. Und der neue Krieg, der sich auf den Weg macht, der sich nicht einhegen lässt wie eine Schafherde im Schwarzwald, der neue Krieg, der keinen Wachhund hat, keinen Stacheldraht, der die Wölfe abhält. Der neue Krieg hat es nicht weit nach Möhringen und Vaihingen.
Ach ja, die Panikmacher, die Soldaten der Angst. Und mittendrin die Bataillone der berufsmäßigen Beschwichtiger: Regierung und Parteien und die Presse mit Persilscheinen für Streumunition und vielleicht Phosphorbomben. Weißt Du das? Ganz sicher?
Kessler-Sekt und Bildzeitung in einem Boot, Bellizisten und Banker mit Rüstungsaktien: Die Aktien Rheinmetall und Hensoldt schossen wegen des Krieges um bis zu 168 % in die Höhe. Deutlich mehr als jede Rente. Hier winkt der Gewinn am Krieg! Und je länger er dauert, umso größer die Rendite. Und wenn er jetzt ausbricht aus der Ukraine? Manche Kriege brechen aus.
Quatsch kein Quatsch, sagen die berufsmäßigen Beruhiger.
Gestern noch beim Ostermarsch, heute schon Moral im Arsch?
Ach Kinder, ich würd' euch ja so gern glauben – glauben, dass ihr recht habt – glauben, dass das klappt: Frieden schaffen ohne Kriege und mit besseren Waffen. Oder glauben, dass es besser ist: Lieber paar auf die Schnauze – statt verhandeln.
Wer schneller schießt, ist länger tot. Gute Ideen stiften Hoffnung, bereichern unser Leben, verändern die Welt – und heute könnten wir sie mehr gebrauchen denn je.
Hat jemand eine gute Idee für eine gute Kapitalanlage? Mit satten Profiten wie bei Stuttgart 21. Momentan läuft ja die Waffenproduktion sehr gut. Also Rüstungsaktien. Wenn Ihre Rente nicht reicht, kaufen Sie Rüstungsaktien! Fragen wir mal nicht die taz, sondern die FAZ, die für „Wehrhaftigkeit“ wirbt
Die militärische Verteidigungsfähigkeit in Zeiten des Friedens in Europa wurde ja dummerweise immer als eine Nebensache betrachtet, Aber jetzt, schreibt die FAZ, ist die Welt aufgewacht: Wacht auf, Verdammte dieser Erde? Nein! Die FAZ schreibt: Sollte der Krieg sich auf den Rest Europas ausweiten, werden unsere Kräfte nicht ausreichen. Ein redaktionelles Panikorchester? Kaum zu glauben.
Wenn da nicht noch der Guterres wär': Genauer: UN-Generalsekretär António Guterres etwa. Der sozialistische Portugiese warnt vor einer Ausweitung des Ukraine-Kriegs zu einem „größeren Krieg“. Eine ganz klare Ansage, fürchterlich klar und laut und deutlich – aber untergegangen im Trommelfeuer – im Trommelfeuer der russischen Truppen auf Wohnhäuser und Wasserwerke, auf Märkte und Bahnhöfe, auf Leute wie Dich und mich, sogar auf jüngere, sogar auf Frauen und Kinder und Krankenhäuser, auf alles, was sich bewegt, was sich kritische Infrastruktur nennt, auf alles, was noch lebt und lacht und weint und voller Angst in den U-Bahn-Schächten hockt.
António Guterres, der Mann der Vereinten Nationen, hat auf die Uhr geschaut, genauer auf die Weltuntergangsuhr. Mit der machen uns Wissenschaftler Angst vor der apokalyptischen Katastrophe: der menschengemachten. Die Uhr steht aktuell auf 90 Sekunden vor Mitternacht, ein Punkt, den sie nicht einmal in den härtesten Phasen des Kalten Kriegs erreicht hat, sagt der Mann vor der UNO. Er sagt: Die Ursachen? Neben der drohenden Klimakatastrophe sind es nukleare Gefahren und vor allem der Ukraine-Krieg.
„Die Aussichten auf Frieden verschlechtern sich, die Wahrscheinlichkeit weiterer Eskalation und Blutvergießens steigt weiter... Ich fürchte, die Welt schlafwandelt nicht nur in einen größeren Krieg, sie bewegt sich mit weit geöffneten Augen in ihn hinein.“ Der Mann macht mir Angst. Ich höre seine Worte anders als die von Baerbock und Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann Sie macht mir noch mehr Angst. Lieber durchladen als nachdenken? Oder tun die nur ihre Arbeit wie jeder Soldat an der Front?
Mitten in diesen Alltagen tauchen dann die berufsmäßigen Beschwichtiger auf: Kessler-Sekt und Bildzeitung, Bellizisten und Banker mit Rüstungsaktien.
Wessen Wahrheit? Wessen Krieg? Wessen Weisheit?
Wessen Stadt? Wessen Geld? Wessen Recht? Wessen Luft? Wessen Wälder? Wessen Erde?
Unsere Erde!
Und da ist die andere Sorge, kriegsfrei: Die tausend und tausend und wieder tausend Toten jenseits unserer Täler vom Euphrat bis zum Tigris, in Syrien, der Türkei, und wir schicken keine jungen Pioniere mit den schnellen Fliegern der Armee, die Trümmer wegräumen, Trinkwasser bringen, Menschen bergen und Nachrichten bringen von der Hoffnung, eine warme Suppe, ein Stück Brot und eine Decke für die Nacht und ein Dach überm Kopf ...
Ließ' man doch die Waffen schweigen. Und hoffen, dass sich die Erde beruhigt, dass anderswo Platz ist, dass man in diesen Zeiten zusammenrücken muss, dass man nicht fliehen muss und nicht vertrieben wird, dass die Felder wieder grün werden, wenn der Frühling kommt.
Bert Brecht:
„Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt! / Der dort ruhig über die Straße geht / Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde, die in Not sind?
Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut / In der wir untergegangen sind / Gedenkt / Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht / Auch der finsteren Zeit / Der ihr entronnen seid. / Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd / Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt / Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung. /
Dabei wissen wir ja: / Auch der Haß gegen die Niedrigkeit / Verzerrt die Züge. / Auch der Zorn über das Unrecht / Macht die Stimme heiser. Ach, wir / Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit / Konnten selber nicht freundlich sein.
Ihr aber, wenn es soweit sein wird / Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist / Gedenkt unsrer /Mit Nachsicht.“
Aber so schweigen wir für eine Minute –
in Gedanken und im Gedenken an die Toten, an alle, die alles verloren haben, in den Kriegen der Welt, in der Ukraine, in den Erdbebengebieten der Türkei, Kurdistans, in Syrien, auf den Meeren ...
Brücken müsst man bauen zu den Nachbarn, die offene Tür und das offene Wort. Das offene Wort, das nicht übelgenommen wird, wenn es anders klingt. Bücher müsste man lesen, wie‘s zum besseren Leben kommen könnt’, wie‘s gewendet werden kann. Freunde werden wir haben und mit ihnen bei allem Unbill, bei allen Gemeinheiten, die ein Mensch dem anderen zufügen kann, wieder leben lernen – vielleicht in Demut, vielleicht mit schweren Träumen in der Nacht, wie sie mich heimsuchen dieser Tage, wenn ich an die Bombennächte in Dresden denke als Kind – und an meine Omi Glimbzsch, die mir zuruft: Peter, wir leben.
Doch bedenkt: es gibt kein gutes Leben ohne Solidarität. Es gibt kein Leben ohne Trauer. Es taugt kein Leben ohne Heiterkeit.