Rede von Peter Grohmann, Kabarettist, Autor und ‚AnStifter‘, auf der 642. Montagsdemo am 2.1.2023
„Was haste denn gestern so gemacht, Peter?“ fragte mich meine Omi Glimbzsch aus Zittau vorhin. „Nix“, hab' ich gesagt, „Nix!“.
„Und heute? Was haste heute so gemacht?“ – „Nix!“, hab' ich ihr gesagt. „Nix“.
„Aber das haste doch aber gestern schon gemacht...“, sagt sie.
„Richtig, aber ich bin nicht fertig geworden“, sag' ich.
Das wollte ich Euch und Ihnen empfehlen: Nicht fertig zu werden mit dem Widerstand! Nicht fertig zu werden mit dem Protest, nicht fertig zu werden im Einsatz für Demokratie und Menschenrechte, mit dem Kampf für ein besseres Leben, für eine andere, freundlichere, lebenswerte Stadt, nicht fertig zu werden im Kampf gegen die Verschwörung der Narren! Glückauf im Neuen Jahr!
Resilienz: Früher hatte man uns gesagt: Ihr seid widerständig! Ihr seid hartnäckig. Ihr seid unbeugsam. Heut werden wir – dank Corona – mit vornehmeren Begriffen bedacht, heute sind wir eine resiliente Gemeinde – Stuttgart, nach Berlin die Stadt mit den meisten Demos. Wie schön. Resilienz – für alle, die wie ich nur vier Jahre Volksschule hatten: Resilienz bezeichnet die psychische Widerstandskraft; die Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen. Also beispielsweise mit dem Rollstuhl Gleis 12 zu erreichen, obwohl der Zug schon weg ist oder garnicht ankommt. Zur Beeinträchtigung könnte auch gehören, im Brandfall einen Ausgang zu finden, wo es keinen gibt.
Aber wir sind nicht einzigen Resilienten. Es gibt welche, die noch ganz andere Sorgen haben und die viel mehr aushalten müssen – wir haben sie auf unseren 1000 Kundgebungen oft genannt:
Menschen ohne Dach überm Kopf. Leute auf der Flucht vor Hitze oder Kälte und Hunger und Durst, auf der Flucht vor der Klimakatastrophe, den die meisten Medien verniedlichend ‚Klimawandel‘ nennen. Mies bezahlte Verkäuferinnen in den Billig-Vierteln am Gerber, beim Breuninger, im Milaneo. Menschen, die wie wir für eine lebenswertere Stadt kämpfen, für bezahlbaren Wohnraum, gegen die Vorherrschaft der gewaltbereiten SUV-Genration, gegen die Dummheit der Lokalpresse, wenn sie dem Daimler in den Arsch kriecht und schon ziemlich weit oben angekommen ist...
Diese Bühne hier war und bleibt die Bühne für streikende Studierende, für Fridays for Future, bei denen Winfried Kretschmann Panik schiebt, weil sie 3 mal im Jahr 3 Stunden die Schule versäumen. Das geht gar nicht, wehklagt der Revolutionär von gestern.
Und da ist auch ein großes Böllern und Leuchtfeuern und Raketensteigen um das Wissen oder Nichtwissen unserer Kinder und Enkel, denen man den vergifteten Honig der Autoindustrie ums Maul schmiert, gemeinsam mit der Lokalpresse als Wurmfortsatz der Herrschenden, wie Eugen Eberle gern sagte, einer Presse, die sich nicht zu blöde ist, ihrer Leserschaft elektrische Salz- und Pfefferstreuer anzudrehen, Kreuzfahrten zu Eismeeren und schmelzenden Gletschern.
Deshalb, ja deshalb ist das hier auch die Bühne, von der aus wir der Regierung sagen: Ihr Grasdackel, Eurer Klimaschutzgesetz ist keinen Pfifferling wert, auch wenn ihr euch vor Glück in die Hose pinkelt und behauptet: „Wir stärken den Klimaschutz an breiter Front... Baden-Württemberg legt das modernste, fortschrittlichste Klimaschutzgesetz vor… Darin verankern wir noch mehr wirksame Maßnahmen und Vorgaben im Landesrecht.“ Oh Mann, das kann dauern – bis 2040. Ja, Freunde, die Kluft, die sich da in allen Bereichen zwischen Theorie und Praxis auftut, wird immer größer.
Und schnell noch soviel – als Nachhilfe – zu den Unterrichtschwänzern: Der Unterricht fällt inzwischen in einem Maße aus, das alle bisherigen Rekordmarken übertrifft. Förder- und Ergänzungsstunden wurden gnadenlos zusammengestrichen, viele Klassen platzen aus allen Nähten, und die Personalsituation wird von den Schulleitungen nirgends so prekär eingeschätzt wie in Baden-Württemberg. Die Turnhallen wackeln, die Toiletten versifft. Sport fällt aus. Darauf einen doppelten Rittberger!
In mehr als 45 Prozent, also in fast jeder zweiten Schule, ist das Lernen etwa der 15jährigen laut Schulleitungen durch Lehrermangel oder fachfremden Einsatz von Lehrkräften beeinträchtigt. Und Ihr faselt von Unterrichtsversäumnis durch Fridays for future! Fünf. Setzen. Und darauf einen Dujardin.
Hier und nirgends sonst steht die Bühne für Hausbesetzer und streikende Eisenbahner, für die KollegInnen aus den Krankenhäusern, wo die Kacke am Dampfen ist: Überfüllte Kliniken, überlastetes Personal, das keinen Ausweg mehr kennt und den Bettel hinschmeißt, fehlende Medikamente, Tod oder Leben: Privatisierungen und Profit auf Teufel komm raus – statt ein am Gemeinwohl orientiertes Gesundheitswesen, statt einer Politik für die Menschen.
Aber rechtzeitig zum Jahresende, zum Jahresbeginn gibt es auch Trost. Denn unsere Reden sind ja so etwas wie der Gesang der Sehnsucht. Sie erzählen Geschichten hinter der Geschichte – sie erzählen von Liebe und Verlust, von Trauer und Schmerz, von Hoffnung und Zuversicht. Ohne das ist kein Leben.
Ein Gruß von hier von der vorletzten auch an die ‚Letzte Generation‘, die offenbar schlimmer ist als ein Tempolimit, Krätze, Einwanderung und Kritik am Auto- und Konsumwahn oder der Berliner Vorkriegs-Koalition. Die ‚Letzte Generation‘ sagt im Prinzip exakt das, was auch Barack Obama und Annalena Baerbock sagen: Dass wir, dass ihr zu der letzten Generation gehört, die die katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels noch stoppen kann. 2040 ist da leider ein paar Tage zu spät.
Die bisherigen Klimaschutz-Maßnahmen reichen weder lokal, regional oder global aus, um die globalen Klimaziele sowie den in Deutschland verfassungsrechtlich vorgegebenen Reduktionspfad einzuhalten. Die ‚Letzte Generation‘ fordert nicht mehr und nicht weniger als die Einhaltung des Klimaschutzgesetzes und der völker- und verfassungsrechtlichen Pflicht, den globalen Temperaturanstieg auf 1,5° C zu begrenzen.
Der alte Sachse Gotthold Ephraim Lessing war – im Gegensatz zu den Verschwörern der hiesigen 21er-Mafia – ein AnStifter und Aufklärer, ein gesellschaftskritischer Protestler. Ja, ich weiß: Der alte Lessing hat eine Menge zusammenfabuliert, in der Hoffnung, wir mögen zur Erkenntnis gelangen, zum selbständigen kritischen Denken kommen. Da kann er lange hoffen. Mein Lessing-Zitat zum 2. Januar 2023: „Herrschaft und Knechtschaft sitzen gemeinsam im Sattel. Die Herrschaft hat die Zügel in der Hand und die Knechtschaft hält die Steigbügel.“
Hochgeschätzte Fangemeinde der Obengebliebenen,
Habt ihr schon mal den Mann im Mond gesehen? Wohnt denn der Mann im Mond auch schön? – Der Mann im Mond, der hat es schwer, denn man verschont ihn heute nicht mehr! Er schaut bislang von oben zu und fragt uns bang: wie lang wie lang hab' ich noch Ruh'? (frei interpretiert nach PG)
Was will ich sagen? Baden-Württemberg greift noch ganz anders nach den Sternen. Warum greifen wir? Weil wir unsere Position in der Luft- und Raumfahrt ausbauen müssen, sagt der Ministerpräsident.
Kein Arsch ahnt, wie entscheidend Baden-Württembergs Beiträge für die europäische Raumfahrt sind. Kaum jemand hat je irgendwas von Lampoldshausen gehört: 1000 EinwohnerInnen, irgendwo im Wald, ganz tief ostwärts von Heilbronn, fast Niemandsland Wenn dort nicht, ausgerechnet im Lampoldshausen, das deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt Antriebe für die Trägerrakete Ariane testen würde.
Ariane? Ich kenne nur eine Ariane, aber die kann nicht gemeint sein, Ariane ist im Widerstand aktiv, bei den Hausbesetzern. Egal. Aber Kretschmanns Ariane ist im Weltall, ist eine Trägerrakete, weit hinter dem Mond, und unser Raumfahrt-Zentrum vorsorgt die Raumstation ISS, kein Witz jetzt: Beim nächsten Flug auf den Mond will die Landesregierung dabei sein. 340 Menschen arbeiten im Raumfahrtzentrum, 1000 Menschen wohnen dort, täglich. Viel Raumfahrt – aber kein Lebensmittelladen. Viel Ariane – aber kein Postamt. Viel Weltall – aber keine Bank, keine Sparkasse. Viel Zukunft, aber keine Perspektiven, kein Bäcker, kein Metzger. Das ist fast wie in Sonnenberg.
Meine Omi Glimbzsch in Zittau – ich soll euch grüßen – wusste schon 1968: Kretschmann kennt seine Chinesen. Die schrecken vor nichts zurück. Denn es geht, so Kretschmann, „um die strategische Souveränität Europas, z.B. im Wettlauf mit China. Raumfahrt ist ein Schlüsselthema!“ Ich hab's geahnt – und wir bauen am Weltraumbahnhof. Die Presse jubelt. Endlich wieder Mondfahrten. Bewaffnet oder unbewaffnet?
Vom Frieden zum Krieg sind es nur zwei kleine Schritte. Seit 1945 gab Dutzende von Kriegen, große und kleine, und es waren immer die Großen, die Krieg führten, und immer die Kleinen, die in den Kellern hausten, die Zuflucht suchten und Schutz. Die Kinder Diana und Darija, drei und fünf Jahre alt, Bohdan und Kyrylo und Natalia, ein Jahr und fünf Jahre, Grigorj neun, Sascha elf, Wasseli dreizehn Jahre. Wir denken an die Menschen in den Kellern von Kiew und Mariupol, die Kinder von Moria, die Kinder auf den Meeren, die an den Außengrenzen Europas, die im demokratischen Mittelmeer ertrinken. An die Kinder im Dorf Prywillja, die im Raketenhagel der russischen Armee starben... Meine Generation hat den Krieg vergessen, aber mit dem drohenden Heulen der Sirenen waren im Winter 22 auch bei mir die alten, schweren, schlimmen Träume wieder da...
Olena ist der Vorname des Mädchens in Odessa. Olena, das heiß Sonnenstrahl. Olena könnte auch aus Afrika kommen, aus Afghanistan, Syrien, Kurdistan. Sie braucht unsere Bühne. Sie muss gesehen werden.
Gewalt ist die letzte Zuflucht des Unfähigen, im Großen, im Kleinen. In einem Vorort, lese ich, wurde ein Zigarettenautomat gesprengt! Von nikotinabhängigen, süchtigen Teilen der Bevölkerung, von Leuten, die nicht wissen, dass man eine Zigarette auch selbst drehen kann. Aber das kommt auch vom freien Markt – da ist Sprengstoff billiger als Nikotin. Seit sich die Reichsbürger bewaffnen, steigt auch wieder die Nachfrage nach Sprengstoff.
Da bin ich ganz schnell beim Thema Atomkraft. Die Präsidentin des Bundesamts für Strahlenschutz, Paulini, ruft zur besseren Vorbereitung auf nukleare Notfälle auf. Was tun, wenn ein Notfall auf uns zukommt? Wenn Neckarwestheim hochgeht oder sogar ein Atomkrieg droht? Für den Fall eines Atomkriegs stellt sich die berechtigte Frage: Wohin mit den Wählerinnen und Wählern? Wo ist der nächste Atombunker, wer hat Zutritt? Auch Asylbewerber oder Leute, die aus Tübingen kommen und hier eben mal Riesenrad fahren wollen? Gibt es Eintrittskarten oder eine Warteliste beim Bürgeramt West? Wir bleiben solidarisch – ich würde im Fall eines Falles sagen: Bitte, nach Ihnen!
Was für eine Welt! Aufstände im Iran, Proteste gegen die Corona-Restriktionen in China, Russlands Autokratie am Abgrund – ja, nahezu alle Gesellschaften kämpfen weltweit mit fundamentalen Problemen, selbst Israel.
Ich fürchte, wir müssen uns 2023 auf einiges gefasst machen.
Als die Menschen in Süditalien in die große Städte flohen, dorthin, wo es Arbeit gab, blieben nicht nur die Alten und Gebrechlichen zurück, sondern auch die Getreide- und Gemüsefelder, die Weinstöcke, die Oliven- und Orangenhaine, die fortan brach lagen und verwilderten.
Wenn Eure Kundgebungen und Proteste aufhören, wird hierzulande ein Stück der Demokratie brachliegen, dann werden die Bürgerrechte verwildern, die Impulse der Straße, die Wortmeldungen der anderen Seite verstummen.
Debatten erweitern den Horizont und die eigenen vier Wände! Keine Angst vor Widerspruch! Keine Angst vor anderen Meinungen! Keine Angst vorm Handgemenge der klugen Köpfe. Ob im Stadtteil, in den Schulen, Kirchen, in Gewerkschaften, in den Redaktionsstuben, in Stadt oder Land:
Gesellschaftliche und politische Veränderungen wird es ohne Ihren Einsatz nicht geben! Deshalb dürfen wir weiterhin „Keine Ruhe geben“, deshalb müssen weiterhin denen einen Stimme geben, die man am Sprechen hindert!
Hier ist die Bühne für alle, die laut sind, die aufstehen und oben bleiben.
Es gibt eine alte Geschichte von meiner Omi Glimbzsch aus Zittau, die so recht wie die Faust aufs Auge der heutigen Feierlichkeiten zum Jahresbeginn passt:
Wenn Du traurig bist, heißt es da, dann streichle einen Hund, und es wird dir rasch besser gehen. Wenn Du glücklich bist – streichle einen Hund, und Du wirst sofort noch glücklicher werden.
Wenn du wieder traurig bist – kein Problem. Streichle wieder einen Hund.
Wenn er dich beißt, wirst Du vielleicht wütend oder sauer.
Wenn Du wütend oder sauer bist, streichle einfach einen Hund!
Glückauf, und oben bleiben!
(Wo ist mein Hund?)