Rede von Steffen Siegel, Schutzgemeinschaft Filder, auf der 638. Montagsdemo am 28.11.2022
Eigentlich weiß doch jeder, ein Durchgangsbahnhof ist viel geschickter als ein Kopfbahnhof. Warum stimmt dies bei S21 nun aber ganz und gar nicht? Nun, Stuttgart bildet einen Kessel mit Öffnung nach (Nord-)Osten, Richtung Neckar. Also fährt man sinnvollerweise schon seit jeher aus Richtung Nordosten in den Kessel und in den Kopfbahnhof hinein und dann wieder nach Nordosten hinaus.
Ein- und ausfahrende Züge stören sich nicht: Stuttgart hat ein geniales „Tunnelgebirge“, durch das Züge raffiniert mehrstöckig mit Höhenunterschieden bis zu 12 Metern neben-, über- und untereinander hinweg geführt werden und das Stuttgart zu den besten Bahnhöfen Deutschlands macht.
Doch was sagte der Stuttgarter Verkehrsexperte Prof. Martin bereits 2009: „Der heutige Stuttgarter Hauptbahnhof entspricht 16 nebeneinander liegenden Sackgassen. Wenn ein Zug diagonal ausfährt, versperrt dieser eine Zug alle anderen Ein- und Ausfahrten…. Dagegen können acht Durchfahrgleise in Verbindung mit der geplanten Ringstruktur und trotz unveränderter Zulaufstrecken deutlich mehr Zugverkehr aufnehmen.“
Kann es sein, dass ein Verkehrsfachmann noch nie vom genialen Tunnelgebirge in Stuttgart gehört hat? Sollte man eigentlich nicht Prof. Martin den Professorentitel absprechen?
Doch nun zum Durchgangsbahnhof in Stuttgart: Er soll quer zum Kopfbahnhof liegen, muss also unterirdisch durch die Kesselwände geführt werden, die Kernstadt ist ja überall – außer nach Nordosten – mit wichtigen Gebäuden belegt.
Ein Zug kann im Durchgangsbahnhof bei nur 8 Gleisen niemals im Bahnhof länger halten, da drängt von hinten schon der nächste Zug nach, und schon gleich gar nicht auf dem gleichen Gleis zurückfahren. Man behilft sich bei zu vielen Zügen mit Doppelbelegungen, die Bahn spricht von ca. 100 pro Tag. Je nach Verspätungslage ist einmal der eine, ein andermal der andere Zug vorne. Das Chaos ist dann aber vorprogrammiert. Das Problem kann man allenfalls mit einem riesigen unterirdischen Ringsystem ein wenig abmildern.
Der Durchgangsbahnhof schaffe angeblich mehr – man würde den Durchsatz gar verdoppeln und mitten in Stuttgart auf dem bestehenden alten Gleisfeld riesige neue Bauflächen schaffen. Andere, unabhängige Fachleute meinen, um gleich viel wie der Kopfbahnhof zu leisten, wären mindestens 11 statt 8 Gleise nötig, in Stuttgart eher 12 oder mehr. Und was macht man?
Man baut einen schiefen Bahnhof, und die Politik träumt von Immobilien auf freien Gleisflächen, die für Stuttgarts Durchlüftung und damit für das Klima von unschätzbarer, überlebensnotwendiger Bedeutung sind. Ich frage mich manchmal: Geht es bei Stuttgart 21 um mehr Mobilität oder schlichtweg um mehr Immobilien oder noch schlichter – um mehr Gewinn?
Hier nun baut man mit wahnwitzigem Einsatz einen Tiefbahnhof, der niemals erweiterungsfähig wäre. Zu behaupten, man wolle mit S21 die Kapazität verdoppeln, ist einfach grober Unsinn. Das Gegenteil ist richtig. Und wenn wir weniger Bahnkapazität haben als bisher, wird es mehr Autoverkehr geben und damit noch mehr Klimaschädigung.
Und Stuttgart 21 ist nur unterirdisch umzusetzen. Überall braucht man Tunnelröhren. Selbst zum Flughafen hoch fährt man über 9 Kilometer lang extrem steil im Berg hoch. Der riskante Tunnelbau im sogenannten Anhydrit, einer für Stuttgart typischen Gipskeuperformation, die bei Wasserzutritt gefährlich quellen kann, und dann die Gefahr besteht, dass bei geringsten Gleishebungen, selbst wenn es sich nur um wenige Zentimeter handeln würde, in den Tunneln jahrelange Streckensperrungen nötig wären.
Das wahnsinnige Tunnelsystem führt zu insgesamt ca. 60 Kilometer Tunneln (etwa 30 km Doppelröhren) – und das unter einer lebendigen Stadt. Das ist weltweit einzigartig, ja einzigartig blöd!
Nun will man in Deutschland schon länger den Integralen-Takt-Fahrplan (ITF) oder den Deutschlandtakt einführen. Das bedeutet, in einem engen Zeitfenster sollen um die volle und/oder halbe Stunde möglichst viele Züge in den Hauptknoten Stuttgart einfahren. Das kann niemals bei nur 8 Gleisen funktionieren. Also wollen die Planer in ihrer Not nun auch noch viele Ergänzungsprojekte dazu bauen, neben dem Pfaffensteigtunnel einen Zulauftunnel von Norden unter Zuffenhausen, die P-Option und einen zusätzlichen unterirdischen Hermann-Kopfbahnhof usw., insgesamt ca. 45 km zusätzliche Tunnel. Im Bahnhof selbst bleibt es aber bei den 8 Gleisen und damit bei einem extremen Engpass, der den Deutschlandtakt niemals zulässt. Damit hätten wir dann für S21 mehr als 60 km + 45 km = 105 km Tunnel. Das wäre Luftlinie ein Tunnel von Stuttgart bis Straßburg (105 km).
Der Wahnsinn pur! Der Laie denkt: Tunnel sind doch gut, aus den Augen aus dem Sinn, das stört doch niemanden.
Ich zitiere nochmal Prof. Martin vom Anfang: „Dagegen können acht Durchfahrgleise in Verbindung mit der geplanten Ringstruktur und trotz unveränderter Zulaufstrecken deutlich mehr Zugverkehr aufnehmen.“ Wer hätte denn auch 2009 bereits wissen können, dass man die Zulaufstrecken um 45 Kilometer erweitern sollte, um den Bahnhof damit um keinen Zentimeter zu erweitern? Der Wahnsinn nimmt kein Ende!
Ich will diesen Wahnsinn einmal verdeutlichen: Stellt euch dazu einmal eine 105 km lange Wurst bis nach Straßburg vor, mit einer Breite von ca.11 Meter (das ist der Durchmesser eines üblichen Herrenknechtbohrers).
Da wird einem klar, dass allein für das Herausholen des Aushubs viele Jahre benötigt werden. Man braucht gigantische Baugruben, riesige Baustelleneinrichtungsflächen für Berge von Aushub und Schutt, und Betonmischer, und Berge von Stahlgittern, Containern, Straßen. Der unbrauchbare Abraum muss über Jahre mit hunderttausenden von LKW´s abgefahren werden. Dann muss aber auch Material hergekarrt werden, unter anderem Betonteile (Tübbinge) in zig tausend Tiefladern, und die muss man lagern, verarbeiten, einbauen usw.
Bei all den Baufeldern sprechen sie von einem „vorübergehenden Eingriff“. Das ist zynisch. Neben vollständig zerstörten Bereichen werden z.B. auf den Fildern Flächen ihre Fruchtbarkeit verlieren; das Grundwasser wird großflächig abgesenkt; der Klimawandel vorangetrieben.
Und jetzt stellen wir uns auch noch die unvorstellbaren Stahlbetonmengen der Röhren vor. Die über 100 km Röhren haben eine Wandstärke von mehr als 60 Zentimeter – im Anhydrit auch deutlich mehr. Unten in die Röhren wird eine saubere Betonfahrbahn, ergänzt durch eine Unmenge Betonschwellen eingegossen. Der Wahnsinn pur, ich glaube, ich erwähnte es schon!
Zur besseren Vorstellung vergleiche ich die Bahntunnel mit der Betonröhre des Fernsehturms: Die sichtbare Betonröhre des Fernsehturms vom Boden bis unten an den Korb ist etwa 136 Meter lang. Die Röhre hat unten gute 10 Meter Durchmesser und 60 Zentimeter Wandstärke und verjüngt sich nach oben zum Korb hin parabolisch auf noch gute 5 Meter Durchmesser und eine Wandstärke von nur noch 20 Zentimeter. Eine Näherungsrechnung ergibt: Aus dem Stahlbeton des über 100 km langen Bahntunnelgewirrs unter Stuttgart könnte man knapp 1500 Fernsehturmröhren wie ein gigantisches Spargelfeld bauen.
Stellt euch mal vor, im Kessel von Stuttgart – z.B. auf dem jetzigen Gleisfeld – werden die Stahlbetonröhren von 1500 Fernsehtürmen erstellt. Da hat man eine ungefähre Vorstellung, was da im Untergrund abläuft. Wahnsinn!
Noch viel schlimmer ist die Klimawirksamkeit der Beton- bzw. Zementherstellung. Allein die weltweite Betonproduktion macht etwa 6-7% der globalen CO2-Produktion aus. Ich zitiere nochmal Prof. Martin: „Der Durchgangsbahnhof schont die Umwelt“. Das lassen wir einfach so stehen.
Die neueste Schweinerei will ich euch aber auch nicht vorenthalten: Im Frühjahr 2021 wurde auf den Fildern unter Leitung des Regierungspräsidiums der Abschnitt 1.3b erörtert. Das ist der Abschnitt, auf dem die Gäubahnzüge über die S-Bahntrasse von Rohr zum Flughafen im Mischverkehr geleitet würden (=Antragstrasse). Die ersten Ideen dazu stammten aus dem Jahr 2002. Ein völliger Blödsinn, wenn man bedenkt, dass wir bisher schon eine großartig funktionierende Panoramastrecke über Vaihingen in den Stuttgarter Kopfbahnhof haben. Diese Variante haben wir immer wieder, allerdings bisher erfolglos, vorgebracht.
Aber da läuft der Baubürgermeister Herr Pätzold (Grüne) zu Höchstform auf und sagt: „Wir wollen dort einen Stadtteil entwickeln und keine durchfahrenden Züge haben“. Und das Regierungspräsidium sieht sich nicht genötigt darauf einzugehen. Und: diese Panoramabahnvariante ist die einzige, in der die S-Bahnen bei Störungen auf den Fildern eine Notfallausweiche hätten.
Kurz vor der Anhörung kam ein Herr Bilger aus der Versenkung und wollte uns allen die sogenannte Bilger-Variante, den Pfaffensteigtunnel aufquatschen. Wir wollten diese Alternative natürlich auch erörtert haben. Das RP lehnte es aber im Prinzip ab und zog im wesentlichen die Antragstrasse (=Mischverkehr) durch. Bis heute ist noch kein Ergebnis vom RP veröffentlicht worden. Doch letzte Woche steht in der Zeitung, dass man bereits ohne Planfeststellungsbeschluss Teile des Pfaffensteigtunnels baut, nämlich die Anschlüsse der Gäubahnröhren an den Tunnel, der gerade zum neuen Tiefbahnhof unter der Messe gebaut wird. Das ist schon kühn: Man beginnt bereits mit dem Bau eines kleinen Teils eines Tunnels ohne den Ansatz einer Baugenehmigung! Und das für einen neuen, sinnlosen, schädlichen Tunnel von S21. Dieser Tunnelwurmfortsatz soll so ganz nebenbei der längste Eisenbahntunnel Deutschlands werden! Wo bleibt da der Aufschrei der gutdotierten Bahnjuristen, der Bahningenieure, der Politiker...?
Die Idee, Bahnhöfe in großen Städten Deutschlands unter die Erde zu legen, gab es schon in vielen Städten. Die einzige Stadt, wo dies umgesetzt werden soll, ist die dafür am allerwenigsten geeignete Stadt, nämlich Stuttgart!
Ich komme zum Schluss, und dabei habe ich ganz viel Wahnsinn gar nicht angesprochen. Hier ein kleiner Ausschnitt:
- katastrophaler, ungenügender, lebensgefährlicher Brandschutz,
- gefährdetes einzigartiges Stuttgarter Mineralwasser,
- Überschwemmungsgefahr durch quergelegten Tiefbahnhofriegel,
- Flughafenanschluss durch S21-Züge, die nach Herrn Fundel das klimaschädliche Flugaufkommen um 1,5 Millionen Fluggäste im Jahr erhöhen sollen (übrigens zahlte der Flughafen bereits vor langer Zeit 359 Mio. für S21, ohne jegliche Bedingungen,
- Vertreibung von Eidechsen und Juchtenkäfern,
- 2010 das Zerschreddern von über 200 Jahre alten herrlichen Bäumen im wunderbaren Schlossgarten im Zentrum (dort sieht es jetzt seit Jahren aus wie nach einem terroristischen Anschlag),
usw. usw. usw. usw. Wahnsinn! Wahnsinn!
Nach Herrn Schmiedels Aussage, dass auf dem S21-Projekt Gottes Segen liege, fehlt u.a. noch ein weiterer Wahnsinn, nämlich die naheliegende Forderung, einen durchgehenden Tunnel von Paris bis Bratislava zu bauen, mit einem einzigen Aufstieg, nämlich den hinauf in Stuttgarts Kessel.
Wir allerdings wollen immer „Oben bleiben“!