Rede von Joe Bauer, Stadtflaneur und Journalist, auf der 625. Montagsdemo am 22.8.2022

Guten Abend, verehrte Protestgemeinde von Stuttgart,

ich grüße Sie hier auf dem Schlossplatz, wo sich die Herrschenden bis heute ein Schloss als Zentrum der Macht halten. Es gibt keinen besseren symbolischen Ort für ein Finanzministerium in einem Staat, in dem sich immer mehr feudalistische Auswüchse breitmachen. Vor dem neuen Feudalismus warnen selbst stolze Kapitalisten wie der amerikanische Superreiche Nick Hanauer, dessen Vorfahren einst vor den Nazis aus Cannstatt fliehen mussten.

Ich war ja schon bei etlichen Montagsdemos als Redner zugange, und natürlich ging es immer irgendwie um ein milliardenschweres Immobilienprojekt, das bis heute als Bahnhof kaschiert wird. Bevor ich aber diese Sätze hier aufgeschrieben habe, dachte ich mir: So viele Baustellen wie heute musste man beim Thema Stuttgart 21 noch nie gleichzeitig behandeln. Corona, der Krieg in der Ukraine, die Energiekrise und die sich anbahnende Klimakatastrophe machen uns endgültig klar, wofür dieses aus der Zeit gefallene Wahnsinnsprojekt S21 tatsächlich steht: Es ist das Symbol eines wirtschaftlichen Niedergangs und einer sozialen Erosion, die viel gefährlicher sind als jede andere Krise, die wir hier bisher erlebt haben. Dennoch gibt es heute Leute, die einfach sagen: Hauptsache, wir tollen Stuttgarter bekommt einen tollen Bahnhof. Der wird großartig, und die ganze Welt wird über die Kelchstützen des großartigen Herrn Ingenhoven staunen. Wir können stolz sein auf diese Stadt, die uns in unserem Kleingeist noch größer macht.

Liebe Freundinnen und Freunde, ich weiß nicht, was in Köpfen vorgeht, die dermaßen zusammenhanglos denken, um sich mit ihrem Lokalpatriotismus selber aufzuwerten. Ich glaube, diese Haltung hat etwas mit dem Typus des gegenwärtigen Eventkonsumenten zu tun. Der sagt sich auch angesichts eines Bau- und Zerstörungsevents: Wo ICH bin, ist alles richtig, sonst wäre ja ICH nicht hier. Wir sehen: Nie war das ICH so wichtig wie heute.

Die neoliberale Ideologie, die Abwendung vom sozialem Denken, die Abkehr von jeder Form der Solidarität haben sich immer beängstigender und unmenschlicher durchgesetzt. Gerade deshalb brauchen wir Orte der Begegnung, an denen sich Menschen versammeln, die die Bedeutung des oppositionellen Miteinanders begreifen und etwas tun. Wir sind in diesen Tagen an einem Punkt angelangt, an dem sich so viel Ungerechtigkeit und Unmut, so viel Hass und Hetze aufstauen, dass wir uns auf einiges gefasst machen müssen. Deshalb müssen wir vorbereitet sein – und uns regelmäßig versammeln. Zu diesen politischen Versammlungsorten gehört ganz sicher auch die Montagsdemo gegen Stuttgart 21.

Es ist nicht nur eine Kabarett-Pointe, wenn es heißt, das Einzige, womit arrogante Politiker wie Lindner und Co. die Erderwärmung bekämpften, sei die soziale Kälte. Die soziale Kälte wiederum ist in diesem Jahr nicht nur eine Metapher. Angesichts der drohenden Energienot aufgrund des Kriegs in der Ukraine müssen wir uns auf Gas- und Stromnot einstellen. Viele werden erheblich weniger Geld haben, viele höchstens noch das Nötigste. Und ich denke nicht, dass es reichen wird, im Sinne Habecks unsere Duschkabine mit einer Stoppuhr auszustatten. Oder uns wie Kretschmann in Unterhosen mit einem Waschlappen zu putzen.

Geschätzte Montagsdemo, die naheliegenden Waschlappen-Witze will ich euch an dieser Stelle ersparen. Schließlich ist uns allen seit eh und je bekannt, dass es bei uns Waschlappen gibt, die auch dann noch politische Karriereleitern hinaufstürmen, wenn man denkt, sie hingen längst schon zum Trocknen an der Leine. Verstehen Sie mich nicht falsch: Gegen die Ratschläge unserer politischen Saubermänner ist grundsätzlich nichts einzuwenden, auch wenn Waschtipps von Leuten mit fünfstelligen Monatsgehältern für meine Begriffe etwas schmutzig daherkommen. Es ist sicher ein Gebot der Stunde, Energie zu sparen, meinetwegen auch mit der Schnelldusche oder dem Waschlappen. Aber wir dürfe uns nicht vom Populismus der Politik einseifen lassen.

Die herrschende Politik soll uns verdammt noch mal nicht einreden, die Energiekrise sei mit individuellen Sparmaßnahmen im Hygiene-Bereich zu lösen. Nach dem Motto: Alles wird gut, wenn wir alle den Gürtel enger schnallen, dickere Pullover anziehen und womöglich etwas strenger riechen.

Gleichzeitig nämlich sagen die Regierenden: Auf keinen Fall werden wir wie andere Länder milliardenschwere Konzerne zur Kasse bitten und eine Übergewinnsteuer erheben. Auf keinen Fall werden wir verhindern, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer und immer zahlreicher werden. Und wer gar ein Tempolimit für unsere Autos und ihre artverwandten Panzer fordert, ist ein Feind der Freiheit. Freiheit gehört bekanntlich allein denen, die sich ihre Freiheit leisten können. Und dafür haben wir gefälligst eine Umlage zu zahlen. Man muss kein Satiriker sein, um in dem Wort Umlage das Verb „umlegen“ zu entdecken. Die schwächer Verdienenden werden platt gemacht. Von den Armen und den Hartz-4-Opfern zu schweigen.

Als ich eingangs die vielen Baustellen rund um das Monsterloch Stuttgart 21 erwähnt habe, ging es mir um die Zusammenhänge, die wir vor Jahren einmal als „Das Prinzip Stuttgart 21“ zusammengefasst haben. Ein Oberbegriff für das rücksichtslose Profitdenken, das unser Leben beherrscht. Dieser Hang zum Monströsen mit seinem selbstzerstörerischen Wahnsinn fällt schon gar nicht mehr auf.

Am Bauzaun von Stuttgart 21 gehe ich an einem PR-Transparent vorbei, auf dem das „Meisterwerk Kelchstütze“ mit Bild und Text gefeiert wird: „Das Dach des künftigen Hauptbahnhofs besteht aus 28 Kelchstützen – eine noch nie gebaute Betonschalen-Konstruktion. Für eine Kelchstütze mit einem Durchmesser von rund 32 Meter werden bis zu 350 Tonnen Stahl und 685 Kubikmeter Beton verbaut. 23 Kelchstützen schließen mit einer Glaskuppel von 15 Meter Durchmesser ab ...“ Ich frage mich, was sich die verantwortlichen geistigen Krücken des herrschenden Wahnsinns sich bei dieser Propaganda angesichts der Klimakatastrophe denken. Anscheinend halten sie sich für unverwundbar.

Was ich in den vielen Jahren der Montagsdemos gelernt habe, ist dies: Die Empörung über die Politik ist einerseits eine gute Motivation für den Protest. Andererseits aber verleitet diese Empörung über einzelne Ereignisse auch zu der Sicht, wir hätten es mit politischen Ausnahmefällen zu tun. Die Sache ist jedoch ganz simpel: Lügen, Manipulationen und gebrochene Versprechen gehören zum politischen Handwerk. Eine Partei holt sich beispielsweise eine Menge Stimme mit ihrer strikten Ablehnung der Atomkraft – plädiert aber später selbst dann für Atomkraft, wenn sich ein Atomkraftwerk mitten im Ukraine-Krieg als tödliche Gefahr erweist. Man findet immer sogenannte Umstände, die alles ändern und rechtfertigen. Und wenn ein sozialdemokratischer Kanzler der Bundesrepublik in einen Kriminalfall wie den Cum-Ex-Skandal verstrickt ist und dann an Amnesie leidet, ist das nichts Besonderes. Auch solche Machenschaften gehören seit jeher zum politischen Handwerk, und es ist überheblich und anmaßend, Korruption immer nur den anderen irgendwo da draußen in der weiten Welt zuzuschreiben. Politik war und ist nun mal von Grund auf auch ein krummes, ein korruptes Geschäft, darüber will ich moralisch gar nicht urteilen. Im Übrigen gibt es auch anständige und vernünftige Politikerinnen und Politiker. Pauschalisierungen sind fast immer falsch.

Wir alle hier und auf jedem anderen Protestplatz müssen aber unseren Schluss aus der Realität ziehen: Wir brauchen gegen die politischen Machenschaften die außerparlamentarische Opposition, und gerade jetzt brauchen wir sie mehr denn je. Ein Protestplatz ist immer auch ein Ort der Begegnung, ein Ort, an dem Informationen verbreitet werden, an dem Aufklärung stattfindet. Und deshalb müssen wir solche Orte der Begegnung nutzen und verteidigen, schon weil es immer öfter politisch gelenkte Polizeiangriffe auf die Versammlungsfreiheit gibt.

Hinzu kommt: Die Rechten, die Nazis und ihre verbündeten Verschwörungstruppen formieren sich zurzeit verstärkt, weil sie Morgenluft wittern wie schon lange nicht mehr. Sie propagieren bereits ihren sogenannten Wutwinter und wollen den Unmut in der Bevölkerung kanalisieren und instrumentalisieren. Wir kennen das von Corona. Die existenziellen Krisen bei uns kommen den Rechten wie gerufen für ihre Umsturzpläne.

Die Linken bei uns, ich meine keineswegs nur die Partei, sind leider wie so oft zerstritten, ein Waffenstillstand ist nicht in Sicht. Dabei wäre nicht nur eine geeinte Linke, sondern auch ein Zusammenschluss mit allen halbwegs fortschrittlichen Kräften zur Verteidigung der erkämpften Errungenschaften einer liberalen Demokratie bitter nötig.

Ich will an dieser Stelle den britischen Publizisten und Aktivisten Paul Mason zitieren, der in diesem Jahr das Buch „Faschismus. Und wie man ihn stoppt“ veröffentlicht hat. Er schreibt: „In den zehner Jahren – und vor allem während der vier toxischen Jahre der Trump-Präsidentschaft – drang das rechtsextreme Gedankengut so tief in die westliche Kultur ein, dass einer der maßgeblichen faschistischen Ideologen, der schwedische Publizist Daniel Freiberg, behaupten konnte: ‚Unsere linksliberalen Gegner haben bereits verloren. Sie haben nur noch nicht aufgehört zu atmen.‘ Wie sind wir in eine Situation geraten, in der diese Behauptung ernst genommen werden sollte?“.

Wir, liebe Freundinnen und Freunde, müssen diese Situation ernst nehmen – und Berührungsängste abbauen. Ich weiß, auch antifaschistische Bündnisse haben ihre Macken. Aber sie stehen hin und tun etwas. Um die Rechten aufzuhalten, ist körperliche Präsenz nun mal unverzichtbar. Paul Mason schreibt auch, dass faschistische Prozesse nicht nur von Rechten und Nazis, sondern immer mithilfe von Konservativen in Gang gesetzt werden.

Und all unsere Erinnerungskultur-Rituale haben wenig Sinn, wenn sie uns nicht an die ideologischen Zusammenhänge der Rechten der Vergangenheit mit den Rechten der Gegenwart erinnern. Angesichts der aktuellen Entwicklung sollten wir die Montagsdemo gegen Stuttgart 21 als einen Ort verstehen, der demokratische Ausstrahlungen aufnimmt und weitergibt. Auch wir müssen beispielsweise dafür kämpfen, dass die Atomkraft verschwindet. Nach dem Motto unserer heutigen Demo-Gäste: Es ist ausgestrahlt, für immer. Es muss endlich mit aller Kraft etwas gegen die Klimakatastrophe getan werden, wo es doch schon jetzt so aussieht, als wäre alles zu spät. Keine Frage: Nach wie vor haben wir es auch mit komplett Verstrahlen zu tun, die den Klimawandel aus ideologischen oder aus Profitgründen hartnäckig leugnen. Die aber sind in der Minderheit.

Neulich habe ich mir hintereinander drei Dokus zum Thema auf Arte angeschaut: Die erste handelte von der Dürre in Europa, die zweite vom Trinkwasser, das in Frankreich und Deutschland an Konzerne wie Nestlé und Coca Cola verscherbelt wird, und die dritte von den Waldbränden in aller Welt. Beim Hinschauen wurde mir schlecht.

Aber auch in der kleinen Welt vor unserer Haustür entdeckt man diese kaputte Welt. Seit anderthalb Jahren wohne ich im Kernerviertel mit Blick auf die Baustelle Stuttgart 21. Für 28 Kelchstützen mit einem Durchmesser von rund 32 Meter werden je 350 Tonnen Stahl und 685 Kubikmeter Beton verbaut. Nicht diese Kelchstützen, sondern das Denken und die Rücksichtslosigkeit gegenüber unserer Umwelt haben hervorgebracht, wovor wir uns heute fürchten müssen. Deshalb: Weiter protestieren und aufklären – immer mit dem Blick auf die gesellschaftlichen Baustellen, die uns bedrohen. Und zwischendurch dürfen die Gesichter ruhig auch mal strahlen. Nämlich vor Freude, weil es unter uns Menschen gibt, die etwas tun.

In diesem Sinne: Auf der Straße bleiben! Vielen Dank.

Rede von Joe Bauer als pdf-Datei

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Eine Antwort zu Rede von Joe Bauer, Stadtflaneur und Journalist, auf der 625. Montagsdemo am 22.8.2022

  1. Alexander Abel sagt:

    Noch nie habe ich eine so gute, die gesamtgesellschaftliche Lage so treffend darstellende Rede von Herrn Bauer gehört bzw. gelesen.
    Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass Eure Demos voller innerer Widersprüche sind.
    Es wird – voll zu Recht – das Chaos bei der Eisenbahn kritisiert und im selben Atemzug das
    Auto verteufelt.
    Wenn ich morgens mit dem Zug irgendwohin fahre,
    kann ich mir nicht sicher sein, dass der Zug, den ich für die Rückfahrt vorgesehen habe, nicht einfach ausfällt + ich auf einem Bhf übernachten muss.
    Also benutze ich für meine kleinen Fluchten aus dem verwüsteten Stuttgart mein 21 Jahre altes
    Auto mit einem vergleichsweise sehr geringen Gewicht und einem sehr genügsamen Ottomotor.
    Nur mein Auto bringt mich sicher an mein Ziel
    + wieder nachhause.
    Die Ertüchtigung der Eisenbahn – sofern sie überhaupt jemals in Angriff genommen wird –
    würde Jahrzehnte in Anspruch nehmen, und in diesen Jahrzehnten ist und bleibt das Auto unverzichtbar. –
    Erst kürzlich haben wieder einmal Herr Resch
    und neu ein Herr Klora nach der Elektrifizierung aller Autos geschrien.
    Was das für ein Unfug ist, habe ich Euch erst kürzlich mit dem Artikel aus der NZZ-D nahezubringen versucht.
    Und wieder enmal habe ich an eine Mauer aus Ignoranz geschwätzt.
    Die Überlegung, aus welchen primären Energieträgern die el. Energie generiert werden
    soll, mit der Millionen Akkumulatoren geladen
    werden müssten, haben sich die Herren Resch und Klora erspart.
    Bräuchte man dazu nicht die Kernkraftwerke, deren Stillegung hier so vehement gefordert wird?
    Damit keine Missverständnisse entstehen:
    Ich bin radikal + kompromisslos gegen Kernkraft, aber ebenso radikal gegen die Elektrifizierung von PKWs, Bussen + Schienenfahrzeugen mit Akkumulatoren. –
    Und noch ein Gesichtspunkt, der mich immer wieder ärgert, sogar wütend macht:
    Das Auto wird zum Klimakiller hochstilisiert,
    aber kein Wort gegen die mit Abstand schmutzigsten Klimaschweine, an erster Stelle die die Bundeswehr, an zweiter Stelle der Flugverkehr, gefolgt von der Müllverbrennung + der Kreuzschifferei. –
    Weil ich dabei einem Tobsuchtsanfall nahe war,
    erinnere ich mich noch gut daran, dass auf einer Eurer Demos mal jemand(?) im Zusammenhang mit der Panoramastrecke eine Express-S-Bahn zu
    dem Flughafen angeregt hat, dessen Stilllegung
    eines meiner Lieblingsthemen ist.
    Ich stehe mit meinem Namen zu meinen Meinungen.
    Das ist ein Gebot des Anstand und gehört zu einer Demokratie.
    Deshalb: aabel-s@gmx.de

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