Rede von Armin Simon, .ausgestrahlt e.V., auf der 625. Montagsdemo am 22.8.2022
Ich erinnere mich noch gut an das letzte Mal, als ich hier mit einer Anti-Atom-Sonne über den Schlossplatz gelaufen bin. Das war am 12. März 2011 – einen Tag nach Beginn der Atomkatastrophe im japanischen AKW Fukushima. Während überall die Fernsehbilder der explodierenden Reaktoren in Japan über die Monitore flimmerten, bildeten 60.000 Menschen aus ganz Deutschland eine riesige Menschenkette: 60 Kilometer lang, Hand in Hand, vom AKW Neckarwestheim bis hierher zum Stuttgarter Schlossplatz. „Ned schwätze, abschalde!“ haben wir damals gefordert. Das ist jetzt elf Jahre her.
Warum ich das erzähle? Weil der Super-GAU von Fukushima jedem das Atom-Risiko klar vor Augen geführt hat. Weil er bewiesen hat, dass selbst ein Hochtechnologieland wie Japan, das jahrzehntelange Erfahrung mit dem Betrieb von Atomkraftwerken hatte, nicht vor einer Atomkatastrophe gefeit ist. Und weil er gezeigt hat, dass es auch in Reaktoren, die die Betreiber, die Aufsichtsbehörden und ganz bestimmt auch der japanische TÜV als „sicher“ eingestuft haben, dass es eben auch in solchen Reaktoren von einem Tag auf den anderen zur Kernschmelze kommen kann. Das, liebe Freundinnen und Freunde, ist die Erfahrung von Fukushima.
Aber wenn ich die absurde Sommerloch-Debatte über Atomkraft aktuell auch hier in Baden-Württemberg betrachte, habe ich den Eindruck, dass viel zu viele diese Gefahr schon wieder komplett verdrängt haben. Dabei ist sie sogar noch größer geworden. Denn je älter die Reaktoren werden, desto mehr Alterungsmängel treten auf. Und das heißt nichts anderes, als dass die Gefahr eines schweren, nicht mehr beherrschbaren Unfalls steigt!
In besonderem Maße gilt dies für das AKW Neckarwestheim-2. In den vergangenen Jahren haben sich dort mehr als 350 Risse an wichtigen Rohren gebildet, und zwar jedes Jahr neue. Und ich sage ausdrücklich: mehr als 350 Risse, denn die letzten Risskontrollen vor wenigen Wochen sind so schlampig durchgeführt worden, dass dabei mutmaßlich die Hälfte der tatsächlich vorhandenen Risse übersehen wurde. Und wenn ihr jetzt fragt, wie das möglich ist, wer das hat durchgehen lassen? Dann sage ich euch: Das war die Atomaufsicht im Stuttgarter Umweltministerium.
Liebe grüne Umweltministerin Thekla Walter: Wo beginnt für Dich eigentlich „Aufsicht“ im Atombereich? Und was sind das für Methoden, das Riss-Problem in Neckarwestheim kleinzureden – dass einfach keiner mehr ordentlich guckt?!
Die in Neckarwestheim auftretenden Risse sind übrigens Risse von derselben Art wie die, deretwegen französische AKW derzeit reihenweise stillstehen – mit dem Unterschied, dass in Frankreich dickwandige und in Neckarwestheim extrem dünnwandige Rohre betroffen sind. Die französische Atomaufsicht legt die von den Rissen betroffenen AKW wegen der akuten Gefahr eines Super-GAUs still. Die baden-württembergische, grün geführte Atomaufsicht dagegen lässt den Riss-Reaktor Neckarwestheim seit nunmehr fünf Jahren immer wieder aufs Neue ans Netz – und das, obwohl die Rissursache bis heute nicht behoben ist.
Um es deutlich zu sagen: Einen Reaktor wissentlich mit mutmaßlich aktiven Rissen an diesen dünnwandigen Rohren wieder ans Netz zu lassen, so wie es in Neckarwestheim vor wenigen Wochen geschehen ist, missachtet klare Empfehlungen der Reaktorsicherheitskommission. Und es reiht sich – leider – ein in eine ganze Reihe von Versäumnissen der Atomaufsicht. Die Atom-Kontrolleure im Umweltministerium sind ganz offensichtlich nicht willens oder nicht mehr in der Lage, eine kritische, sicherheitsgerichtete Kontrollfunktion wahrzunehmen. Andernfalls wäre der Riss-Reaktor Neckarwestheim-2 schon seit Jahren vom Netz.
Und an dieser Stelle müssen wir mal über die größte Regierungspartei hier im Ländle sprechen und wie sie eigentlich an die Macht kam. Liebe Grüne, falls ihr es schon vergessen haben solltet: Ihr wurdet 2011 unter dem Eindruck der Reaktorkatastrophe von Fukushima von einer Welle der Anti-Atom-Proteste ins Regierungsamt gespült. Und zwar deswegen, weil der Super-GAU in Japan die immensen Gefahren der Atomkraft bestätigt hat, vor denen ihr stets – und zu recht – gewarnt habt. Diese Gefahren aber sind heute nicht vom Tisch, erst recht nicht in Baden-Württemberg. Das AKW Neckarwestheim-2 ist alterungsgeschädigt, riesige Bauteile sind korrodiert, Risse zerfressen die Rohre. Ein AKW in diesem Zustand würde niemals eine Genehmigung bekommen!
Es ist deshalb unerträglich und unverschämt, wenn grüne Regierungsvertreter*innen, Fraktionsvorsitzende und andere sich in Interviews „offen zeigen“ für einen verlängerten Betrieb dieses Reaktors. Da kann man nur sagen: Die haben die Lehre aus Fukushima wohl schon vergessen.
Und es hilft auch nicht, wenn alle möglichen Leute und auch die ach so atomflexiblen Grünen, von denen ich gerade sprach, auf irgendeinen Stresstest verweisen, auf dessen Basis sie dann irgendwas entscheiden wollen. Niemand weiß besser als wir in Baden-Württemberg und insbesondere hier in Stuttgart, welchen Schaden man mit einem Stresstest oder trotz eines Stresstests anrichten kann. Schaut einfach runter zum Bahnhof!
Fest steht aber: Die Alterungsschäden in Neckarwestheim, die fehlenden Sicherheitsnachweise, die akute GAU-Gefahr dort, die spielen im aktuellen Stresstest gar keine Rolle. Die gibt es in den Köpfen und auf dem Papier der Stresstesterinnen und Stresstester gar nicht. In Neckarwestheim aber, in der Realität, 60 Kilometer von hier, da gibt es sie sehr wohl! Die Risse in Neckarwestheim bedrohen 16.000 Rohre. Das Bersten eines einzigen davon wäre bereits ein schwerer Störfall, der sich bis zum Super-GAU entwickeln kann. Und deshalb ist jeder Weiterbetrieb dieses Reaktors, Stresstest hin oder her, rechtswidrig und keine Option.
Liebe Freundinnen und Freunde, was wir gerade erleben, ist der Versuch von Energiewende-Gegner*innen und -gegnern, den Atomausstieg auf den letzten Metern noch zu kippen und die Energiewende erneut massiv auszubremsen. Sie wollen dafür die Verunsicherung aufgrund der Gaskrise ausnutzen, und es schert sie keinen Deut, dass Atomkraft in der Gaskrise gar nichts hilft.
Es geht ihnen auch nicht um ein paar Wochen mehr und ein paar Kilowattstunden Atomstrom. Die Spitzen von CDU, CSU und FDP haben vielmehr klar erklärt, dass ihr Ziel der jahrelange Weiterbetrieb von AKW ist. Der sogenannte „Streckbetrieb“ über das Jahresende hinaus, der uns als angebliche „Notmaßnahme“ verkauft werden soll, ist nur der Türöffner dafür.
Das ist die Situation. Und deshalb haben die Grünen in Baden-Württemberg, die nach Fukushima von der Welle der Anti-Atom-Proteste an die Regierung gespült wurden, und die grün geführte Landesregierung eine besondere Pflicht, das umzusetzen, was 2011 im parteiübergreifenden Konsens, mit guten Argumenten und mit üppigem Vorlauf vereinbart wurde: die Abschaltung aller AKW spätestens zum 31.12.2022. Alles andere würde nicht nur uns, die Bevölkerung, rechtswidrig weiter dem Risiko eines schweren Atomunfalls aussetzen. Jeder Weiterbetrieb von Atomkraftwerken nach dem 31.12.2022 würde auch eben diesen hart erkämpften Atomausstieg erneut zur Debatte stellen und damit das Atomfass wieder aufmachen.
Wir fordern deshalb ein klares Bekenntnis von Ministerpräsident Kretschmann, Umweltministerin Walker, den baden-württembergischen Grünen und ihrer Fraktion zum Atomausstieg und zum Abschalten aller AKW spätestens am 31.12.2022!
Wir haben jahrzehntelang über das Atom-Risiko diskutiert und tun es – notgedrungen, wie ihr merkt – bis heute. Aber es gibt einen Moment, dieses Risiko zu beenden. Und dieser Moment ist dieses Jahr. Machen wir endlich einen Deckel auf das Atomfass und sorgen wir gemeinsam dafür, dass es fest geschlossen bleibt. Schalten wir die AKW ab – vor dem nächsten Super-GAU!