Rede von Dieter Reicherter, Vorsitzender Richter am Landgericht a.D., am 11. Jahrestag des Schwarzen Donnerstags am 30.9.2021
Liebe Freundinnen und Freunde,
elf Jahre ist die Gewaltorgie im Schlossgarten her. Alle staatlichen Gewalttaten sind verjährt. Die Staatsanwaltschaft unter Oberstaatsanwalt Häußler hat sich ohnehin nie um eine objektive Aufklärung bemüht. Dennoch möchte ich keinen Blick zurück im Zorn werfen. Es soll aber daran erinnert werden, wie der brutale Polizeieinsatz in Lebensschicksale eingegriffen hat. Stellvertretend erwähnen will ich Dietrich Wagner, dessen Bild um die Welt ging. Ein Wasserwerfer hat ihm fast vollständig das Augenlicht geraubt. Dieser staatliche Gewaltexzess verhindert jetzt auch noch, dass er seiner Frau, die inzwischen aufgrund einer Augenerkrankung ebenfalls fast blind ist, helfend zur Seite stehen kann. Fürwahr ein bitteres Schicksal. Ich grüße beide sehr herzlich und wünsche ihnen alles Gute. Bei einem Gespräch vor wenigen Tagen habe ich unsere Unterstützung angeboten, wenn sie nötig wird.
In der letzten Zeit hörte ich immer wieder frustrierte Äußerungen, unsere Bewegung habe nichts oder kaum etwas erreicht. Dieser Fehleinschätzung will ich entgegentreten. Den Betreibern eines zerstörerischen Projekts aus dem letzten Jahrtausend ist es zwar gelungen, in wenigen Stunden Jahrhunderte alte Bäume aus dem Boden zu reißen und zu schreddern. Doch den Einsatz für die bedrohte Umwelt und das Mitgefühl für die geschändete Natur konnten die Bagger nicht aus unseren Herzen reißen.
Umso mehr freuen wir uns, dass uns in der jungen Generation Mitstreiterinnen und Mitstreiter erwachsen sind. Mir ging am vergangenen Freitag beim Klimastreik das Herz auf, als die jungen Leute im Demozug hinter unserem Frontbanner „Klimaskandal S21“ skandierten „Kohle bleibt unten, Bahnhof bleibt oben“. Solange diese Gemeinsamkeiten erhalten bleiben, muss uns nicht bange sein. Deshalb möchte ich mich stellvertretend bei den Menschen von Fridays for Future bedanken und sie ermutigen, den Kampf gemeinsam mit uns fortzuführen. Denn wir wissen schon lange, dass man für ökologische und ökonomische Vernunft und für das Klima kämpfen und auf die Straße gehen muss.
Gerne greife ich das Schlagwort „Respekt“ auf, mit dem am Sonntag der Kandidat der das Projekt S21 unterstützenden SPD die Wahl „gewonnen“ hat. Nach elf Jahren warten wir immer noch auf Respekt vor unserem gewaltfreien Kampf für Natur und Klima, der am 30.9.2010 übel belohnt wurde. Wir warten auch weiter darauf, dass die Politik nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten das zerstörte Vertrauen wieder aufbaut.
Das wird nicht einfach sein:
Wir haben von der Polizei erwartet, dass sie getreu dem Motto „Die Polizei, dein Freund und Helfer“ Leben, Gesundheit und Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger schützt. Stattdessen hat sie sich mit Wasserwerfern, Schlagstöcken und Pfefferspray ausgetobt.
Wir haben vom Verfassungsschutz erwartet, dass er die Verfassung schützt. Stattdessen hat er die Verfassungsfeinde unterstützt.
Wir haben von der Politik erwartet, dass sie getreu dieser Verfassung die Umwelt achtet und unsere Lebensgrundlagen erhält. Stattdessen hat sie unseren Schlossgarten zerstört.
Wir haben von der Justiz erwartet, dass sie Straftaten aufklärt und Verantwortliche zur Rechenschaft zieht. Stattdessen hat sie Verfahren mit fadenscheiniger Begründung eingestellt.
All diese Erwartungen wurden enttäuscht. Doch wenigstens hat das Verwaltungsgericht Verantwortung übernommen und den Polizeieinsatz für rechtswidrig erklärt. Dies soll den Gewaltbereiten in Politik und Verwaltung, sofern sie nicht ausgestorben sind, eine Lehre sein.
Ich habe einen ganz persönlichen Wunsch an diejenigen, die vielleicht nicht ganz freiwillig am Schwarzen Donnerstag die Durchsetzung des Unrechts ermöglicht haben. Ein führender Gottesmann sprach damals in Bezug auf den verantwortlichen Ministerpräsidenten Mappus von Rambomanier. Gerne würde ich zur weiteren Aufklärung endlich mit einem Mitarbeiter des Verfassungsschutzes sprechen, der im Einsatz war, um unserer Bewegung Gewalttaten in die Schuhe zu schieben und zu Straftaten anzustiften. Gerne würde ich mit der jungen Polizeibeamtin reden, die in Tränen ausbrach, ihre Ausrüstung zu Boden warf und das Schlachtfeld verließ. Gerne würde ich mit der Vertreterin des Eisenbahnbundesamtes sprechen, die es zuließ, dass die stolzen Bäume entgegen dem zuvor ausgesprochenen Fällungsverbot den Sägen zum Opfer fielen. Gerne würde ich auch mit Menschen aus Politik und Behörden sprechen, die damals hinter den Kulissen die Fäden gezogen haben.
Dass sich bis heute von den am 30.9.2010 Herrschenden niemand entschuldigt hat, zeigt fehlenden Anstand und verlorengegangene Moral. Aber es wäre müßig, auf eine späte Einsicht dieser Verlierer zu hoffen. Sie sind vom Schlage derjenigen, die gleich am vergangenen Wahlabend mit dem Geschacher um Posten und Einfluss begonnen haben, statt mit einer Diskussion um sachliche Inhalte.
Einen kleinen Einblick in das Denken so mancher Verantwortlicher will ich euch aber nicht vorenthalten. Bei unseren Kontakten zu den verschiedensten Personen des öffentlichen Lebens versuchen wir aufzuklären über Mängel und Schwächen des klimaschädlichen Projekts. Bezeichnend für das naive Denken einiger Entscheidungsträger ist die immer wieder geäußerte Meinung, die Bahn sei doch an einem guten leistungsfähigen Ergebnis interessiert, und man sei überzeugt, sie leiste ihr Bestes. Und das in einer Zeit, in der versehentlich eine tragende Wand im Bonatzbau herausgerissen wird und das Versagen des Brandschutzes aufgedeckt ist. Ich muss leider sagen, dass dieses kritiklose Vertrauen in die Fähigkeiten der Bahn mich geradezu an den kindlichen Glauben an das Christkind erinnert.
Vor kurzem bin ich auf den Parlamentsroman „Kritische Masse“ von Michael Haas gestoßen, der Pressesprecher der FDP-Landtagsfraktion war. Was er über die Sinnhaftigkeit des Projekts Stuttgart 21 ausführt, ist des Zitierens wert: „Die riesige Baustelle im Herzen der Stadt gab dem ÖPNV den Todesstoß. Sie wirkte wie ein bezugloses Muster aus Absurdistan: Hier gab es nichts mehr zu tun. Verkehrsplanung war zur Farce verkommen. Das von konservativen Kreisen als „alternativlos“ gefeierte Zukunftsprojekt war ästhetisch und funktional eine Bankrotterklärung. In der Politik avancieren sinnlose Dinge recht schnell zu alternativlosen Lösungen; je mehr sie sich einer logischen Begründung verweigern, desto heftiger die Propaganda.“
Auch der Ministerpräsident, der in dem Schlüsselroman Habedank heißt, komm nicht gut weg: „Habedank war in andere Sphären enteilt. Er hatte sich selbst verraten, für Status und Macht.“
Doch nun ein Blick in die Zukunft. In einer Zeit, in der die gesetzliche Verpflichtung aus dem Pariser Klimaabkommen, die Erderwärmung deutlich unter 2° zu halten, vom Bundesverfassungsgericht mit der Forderung nach Generationengerechtigkeit verbunden wurde, müssen endlich alle Konsequenzen ziehen. Es muss Schluss sein mit immer noch mehr Bodenversiegelung, sei sie oberirdisch oder unterirdisch, mit hemmungsloser Vergeudung knapper Rohstoffe und mit Bauten, die in großem Ausmaß CO2-Emissionen verursachen. Die Bebauung des Rosensteinquartiers mit weiterem Flächenverbrauch, Beseitigung der Frischluftschneise sowie Einleitung der Abwässer in den ohnehin schon überlasteten Nesenbachkanal ist aus der Zeit gefallen und Mord am Stadtklima. Wenn schon ein verstopfter Gully in der Schillerstraße bei einem nicht allzu starken Regen eine Überflutung auslöst, so wird der entstehende Tiefbahnhof als Querriegel, der acht Meter aus dem Erdboden ragt, im Falle eines Starkregens eine Staumauer für die Wasserfluten bilden und die ganze Stuttgarter Innenstadt in einen See verwandeln.
Weil wir dies alles nicht wollen, fordern wir einen sofortigen Baustopp für Stuttgart 21, den Erhalt des oberirdischen Kopfbahnhofs und die Aufgabe der Pläne zur Bebauung des Rosensteinquartiers. Ferner schlagen wir vor, die dann nicht benötigten Baustoffe den von der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen betroffenen Gemeinden zur Verfügung zu stellen. Schließlich verlangen wir, den Schlossgarten und den Rosensteinpark durch neue Bepflanzung wieder ihrer Bestimmung als Erholungsgebiete, Sauerstoffspender und CO2-Speicher zuzuführen. Selbstverständlich stehen wir den Verantwortlichen gerne beratend mit guten Vorschlägen zur Seite, wozu natürlich in erster Linie das Konzept Umstieg 21 PLUS gehört.
Abschließend sei den Verzagten unter uns Mut gemacht. Vor wenigen Tagen haben wir in einer Runde von Freunden, die sich in unserer Bewegung gefunden haben, festgestellt, unser Kampf hätte sich selbst dann gelohnt, wenn wir mit all unserem Widerstand scheitern sollten. Denn so tolle Menschen wie in unserer Bewegung hätten wir sonst nie kennengelernt! Dieses Kompliment möchte ich an euch alle weitergeben und mich für eure Unterstützung und Anerkennung herzlich bedanken. So lange unser gegenseitiger Respekt und unser Vertrauen in unsere Kraft so wunderbar sind, werden wir
Oben bleiben!