Rede von Dipl.-Ing. Hans Heydemann, Ingenieure22, auf der 575. Montagsdemo am 16.8.2021
Liebe MitstreiterInnen,
2025 – in vier Jahren also – soll Stuttgart 21 endlich, nach dann 16 Jahren Bauzeit, in Betrieb gehen. Dazu muss dann allerdings auch der Brandschutz für S21 fertiggestellt, geprüft und abgenommen sein. Damit ist die Bahn jetzt ziemlich spät dran; vieles ist noch ungeklärt, mit dem Bau der Entrauchungs-Anlagen wurde bislang noch nicht einmal begonnen. Es zeichnet sich ab, dass dies zu weiteren Verzögerungen führen könnte.
Eisenhart v. Loeper vom Aktionsbündnis hatte bei der DB-Projektgesellschaft Stuttgart–Ulm (PSU) einen Antrag nach dem Umweltinformationsgesetz (UIG) auf Einsichtnahme in das „Aerodynamische Gutachten der Tunnelanlagen“ gestellt. Die DB PSU teilte mit, ein solches Gutachten gäbe es nicht, nur die „Ausführungsplanung der Entrauchungsanlagen der Tunnel“; die könnten wir einsehen. Das haben wir Ingenieure22 dann übernommen und zu dritt in fünf Sitzungen zu je drei Stunden die uns von der DB PSU auf der Leinwand gezeigten Unterlagen mit insgesamt über 1.000 Seiten angesehen. Wir durften keine Ablichtungen machen, nur Notizen von Hand, alles unter ständiger Aufsicht eines „Aufpassers“– echt entwürdigend!
Die DB PSU begründet dies mit der „Terrorgefahr“. Ich habe erwidert, wir seien zwar Kritiker von Stuttgart 21, aber keine Terroristen! Was könnte ein Terrorist auch schon mit der Ausführungsplanung der Entrauchungsanlagen anfangen? Für einen Anschlag auf die Bahnanlagen brauchte er nur mit einem Päckchen Dynamit in den Tunnel zu gehen, voran ihn niemand hindern kann, dieses unter die Gleise zu legen und fernzuzünden, sobald der nächste ICE darüberfährt. Irgendwelche Kenntnis über die Entrauchungsanlagen brauchte er dazu nicht. Allerdings bergen die unterirdischen Bahnanlagen von S21 in den 60 km Zulauf-Tunneln gegenüber oberirdischen Gleisanlagen in der Tat ein höheres Risiko von Terroranschlägen. Doch das ist eine ganz andere Sache und mit Verweigern von Unterlagen auch nicht zu verhindern.
Der Auftrag über die Lüftungs- und Entrauchungsanlagen für das Vorhaben Stuttgart 21 wurde erst im April 2020 an die Niersberger AG erteilt – die EU-weite Anfrage war bereits im Dezember 2017; der Auftrag hätte spätestens im Oktober 2018 vergeben werden sollen. Die lange Zeitverzögerung macht stutzig – hat es beim Angebots-Eingang oder der Vergabe Schwierigkeiten gegeben?
Ist die Auftragsvergabe an die Niersberger AG, Pforzheim, womöglich nur eine Notlösung, weil keines der bekannten großen Lüftungsunternehmen den Auftrag zu übernehmen bereit war, dessen Schwierigkeiten sich schon aus der EU-Anfrage absehen ließen? Oder hat sich Niersberger in Verkennung der Sachlage bei der Kalkulation verhoben und alle unterboten, um an den Auftrag zu kommen? Das könnte die DB PSU noch in Schwierigkeiten bringen.
Die Niersberger AG ging im Jahr 2000 als Pforzheimer Zweigstelle aus der Niersberger Beteiligungsholding GmbH Erlangen hervor; die Mehrheitsbeteiligung hält heute die Marti Technik AG in der Schweiz. Als Geschäftsbereiche gibt Niersberger „Heizungs- und Lüftungsbau, Wohnungsbau, Immobilien-Geschäfte“ an; 90 Mitarbeiter – zu wenig, um all´ die angegebenen Tätigkeitsfelder abzudecken. Der Umsatz werde überwiegend im Ausland erbracht. U.a. verweist Niersberger auf seine Mitwirkung an einem „Luxus-Wohnprojekt“ in Aserbaidschan und gibt an, am Auftrag für den Lötschberg-Basistunnel über die Marti Technik AG mitgewirkt zu haben. Das hat wohl letztlich den Ausschlag für die Auftragserteilung gegeben. Bessere Referenzen hat Niersberger nicht vorzuweisen. Die Bahn hat wohl kein geeigneteres Unternehmen finden können. Niersberger stellt jetzt diesen „Großauftrag Stuttgart 21“ in seiner Internet-Werbung ganz groß heraus. Mal sehen, was daraus wird.
Die eingesehene „Ausführungsplanung Entrauchungsanlagen Tunnelspinne Stuttgart 21“ der Niersberger AG vom 11.2.2021 offenbart eine solche Fülle von Fehlern und Mängeln, die mich fassungslos machen. Der vorgegebene Brandschutz ist damit nicht zu erreichen. Einige Beispiele:
- Die Axial-Großlüfter im Schwall- und Entrauchungsbauwerk SEBW SÜD sollen je nach Bedarf entweder Luft in die Tunnel oder in die Tiefbahnsteighalle fördern. Niersberger hat dazu „Schubdüsen“ vorgesehen, um Luft in die Tunnel zu blasen. Es wird aber nirgends erklärt, wie bei einem Zugbrand in der Tiefbahnsteighalle der vom Brandschutz-Gutachten von BPK Brandschutz Planung Klingsch GmbH geforderte Zuluftstrom von 1,2 Mio. m³/h [= 333 m³/s] dorthin umgelenkt werden soll. Es gibt keine Umschaltmöglichkeit; die geforderte Luftmenge kann nicht in die Tiefbahnsteighalle eingeführt werden!
Es handelt sich dabei um einen grundsätzlichen Mangel, der nicht behebbar ist. Allein schon damit ist die Umsetzbarkeit der Ausführungsplanung gescheitert! Hierauf hatte ich bereits 2015 in meiner Einwendung an das EBA hingewiesen und dies auch in meiner Klagebegründung gegen die 18. Planänderung vom 26.6.2018 vorgebracht, außerdem 2018 mündlich vor der DB PSU vorgetragen – es ist nicht nachvollziehbar, warum die DB PSU dies völlig unberücksichtigt gelassen hat! Niersberger hätte dies allerdings bei der Ausführungsplanung selber erkennen und die PSU darauf hinweisen müssen. Stattdessen machen die wie blind einfach weiter.
- Niersberger hat offenbar übersehen, dass die Tunneldecke gewölbt ist. Die vorgesehene Anordnung der „Schubdüsen“ vor der Tunnel-Stirnwand ist breiter als die Tunnelöffnung; nur die mittlere Düse kann in den Tunnel hineinblasen; die Austrittsöffnungen der beiden äußeren Düsen links und rechts davon werden von der unmittelbar davor liegenden Tunnel-Stirnwand um bis zu 70 % verdeckt! Der mit 30 m/s austretende Luftstrahl wird dadurch abgelenkt und beeinträchtigt den aus der mittleren Düse austretenden Luftstrahl; die Luftströmung kann sich infolgedessen nicht wie vorgesehen ungestört in die Tunnel hinein aufbauen! Auch dies ein nicht behebbarer Planungsfehler!
Hinzu kommt, dass die vorgesehene Schubdüsen-Anordnung mit 3 x 6 m Länge = 18 m insgesamt gar nicht in die dafür bereits betonierte Decken-Aussparung passt, denn diese ist nur 15 m lang!
- Die von Niersberger in die Ausführungsplanung übernommene Anordnung der Axial-Großgebläse samt Schalldämpfern und Luftkanälen ist so nicht machbar; die verfügbare Aufstellfläche reicht dafür nicht aus. Die Hauptanlagenteile Gebläse, Schalldämpfer und Luftkanäle sind im Plan auf der dafür viel zu geringen Aufstellfläche irgendwie zusammengequetscht worden. Tatsächlich sind die Axial-Großgebläse und die Schalldämpfer größer und benötigen eine deutlich größere Aufstellfläche. Es fehlt die notwendige Zugänglichkeit für die Überwachung und Kontrolle sowie Wartung, Instandhaltung und Reparaturen. Weiterhin fehlt es an Platz für den Ausbau und das Absetzen größerer Teile bei Instandsetzungs- und Reparaturmaßnahmen. Wegen Platzmangel und Unzugänglichkeit ist der Einsatz von Hebezeugen nicht möglich.
- Die „kritische Luftströmungs-Geschwindigkeit“ im Tunnel, mit der das Rückströmen von Rauch gegen die Luftströmung verhindert werden soll, wird auf die Hälfte abgesenkt mit der Begründung, ein Rückströmen von Rauch bis 200 m weit sei ja wohl hinnehmbar. Niersberger schraubt damit die ohnehin unzureichenden Sicherheitsanforderungen noch weiter herunter.
Zudem ist dabei nicht berücksichtigt, dass die in dichter Folge durchfahrenden Züge wie ein Kolben die Luft im Tunnel vor sich herschieben und so eine Luftströmung im Tunnel bis zu 160 km/Std. hervorrufen, die auch nach der Zugdurchfahrt noch andauert und nur langsam abklingt. Diese ständig auf- und abschwellende Grundströmung beträgt ein Vielfaches der vorgesehenen Luftförderung, die nicht dagegen ankommt.
Der Nachweis der einzuhaltenden „kritischen Luftgeschwindigkeit“ im Tunnel ist somit für die Katz´! Ein Rauchübertritt in die sogenannte „sichere Röhre“ und in den Rettungsstollen kann damit nicht verhindert werden.
- Die Druckverlust-Ermittlung von Niersberger erweist sich als oberflächlich und mit mancherlei Fehlern behaftet, die ermittelten Druckverluste sind zu niedrig. U.a. sind die Übergangsstücke zwischen Schalldämpfer und Gebläse sowie die Stellklappen „vergessen“ worden und die Reibungsverluste der Kanalwandungen nicht berücksichtigt. Der größte „Knüller“, den sich Niersberger geleistet hat, ist indessen der Überdruck im Tunnel, um den Luftstrom im Tunnel zu bewegen. Dafür sind lediglich 100 Pascal (Pa) angesetzt, ohne dies nachgewiesen zu haben. Eine genaue Druckverlust-Ermittlung für den knapp 10 km langen Fildertunnel mit drei darin stehenden Zügen wie vorgeben ergibt jedoch einen Druckverlust von 416 Pa, der von den Gebläsen aufzubringen ist. Der von Niersberger ohne Nachweis angesetzte Wert von 100 Pa ist also erheblich zu niedrig.
Unsere Nachrechnung ergibt einen um 70 % höheren Gesamt-Druckverlust. Mit der Auslegung der Gebläse für eine viel zu geringe Förderhöhe ist die bestimmungsgemäße Entrauchung der Tunnel und der Tiefbahnsteighalle nicht möglich.
- Bei „Volllast-Testbetrieb“ ist wegen der geschlossenen Schwallklappen die Fahrgeschwindigkeit der Züge auf ≤ 80 km/h begrenzt mittels automatischer Geschwindigkeits-Begrenzungssignale.
Das aber verdoppelt die Zug-Fahrzeit in den Tunneln während der monatlich notwendigen Testbetriebe; der Regel-Fahrplan kann dann nicht eingehalten werden. Die allmonatlichen Testbetriebe machen besondere Not-Fahrpläne mit eingeschränktem Zugverkehr erforderlich.
- Zur Rauchabführung aus der Haupthalle werden die Rauchklappen in den Lichtaugen bei anstehendem Rauch in deren Detektionsbereich geöffnet. In der Beschreibung von Niersberger heißt es dazu: „Nach aktueller Planung besteht keine Möglichkeit, Steuerungs-Befehle von der Brandmeldeanlage (BMA) oder anderen Steuerungsanlagen an die Rauchklappen zu erteilen; d.h. das Öffnen erfolgt nur autonom durch lokale Rauchdetektion.“
Diese Festlegung steht der allgemein geltenden Forderung entgegen, dass jede Rauchabzugs-Einrichtung von der Feuerwehr zur Entrauchung über die BMA zu öffnen sein muss. Wir haben bei Branddirektor Dr. Belge nachgefragt, ob die Feuerwehr dem so überhaupt zugestimmt habe. Die Antwort steht noch aus.
Wir haben bei der DB PSU ein Klärungsgespräch mit dem Ausführungsplaner beantragt – das hat die Rechtsabteilung der PSU abgelehnt mit der Begründung, es liefen z.Zt. mehrere Klagen gegen das Vorhaben S21, da wolle man keine parallelen Verhandlungen führen. Im übrigen sei das ohnehin unnötig; das Eisenbahn-Bundesamt hätte ja alles geprüft und genehmigt; alle Vorschriften und Regeln würden eingehalten, anerkannte Sachverständige hätten das überprüft und nicht beanstandet, auch die Feuerwehr habe dem zugestimmt.
Wer nun aber glaubt, vor Inbetriebnahme von S21 werde der Brandschutz gewissenhaft überprüft, dürfte sich getäuscht sehen.
Die „Überprüfung der Brandschutzmaßnahmen“ wird die DB PSU kurz vor der Inbetriebnahme von S21 lediglich als rein förmlichen Akt vollziehen unter Verweis auf die vorliegenden Gutachten, sicherlich auch im Beisein von Sachverständigen, die das der geladenen Presse gegenüber bestätigen werden. Eine wirkliche Überprüfung, die Nachbesserungen oder gar das Versagen der Betriebsgenehmigung zur Folge haben könnte, wird es so nicht geben; die DB PSU und auch das EBA haben daran kein Interesse. Stattdessen wird man in einer großen Schauveranstaltung die Gebläse mal laufen lassen, um so der Öffentlichkeit zu zeigen: „Seht her, alles läuft nach Plan“.
Die unzähligen Mängel und Schwachstellen beim S21-Brandschutz interessieren die DB PSU überhaupt nicht, und die Öffentlichkeit kriegt die nicht zu sehen, sondern nur schöne Bilder wie jüngst von den (unfertigen) Kelchstützen im Rahmen einer offiziellen Baustellen-Führung. Die hiesige Presse wird das dann begeistert bejubeln.
Stattdessen läuft jetzt ein unwürdiges „Schwarze-Peter-Spiel“ ab – jeder schiebt jedem schon mal die „Schwarze Karte“ zu, indem er auf die Gutachten und Genehmigungsbescheide des Eisenbahn-Bundesamtes verweist.
Die Branddirektion Stuttgart, die sonst sehr genau beim Brandschutz hinschaut, schert bereits als erste aus und erklärt, die Prüfung des Brandschutzes von Stuttgart 21 sei nicht ihre Aufgabe. Das Entrauchungsgutachten von HBI sei bereits durch ein Prüfgutachten validiert, ein Vier-Augen-Prinzip sei hier also bereits gegeben. Für die Einhaltung der Vorgaben nach der Planfeststellung sei die Vorhabenträgerin DB AG und für die Überprüfung die genehmigende Behörde Eisenbahn-Bundesamt verantwortlich.
Das Eisenbahn-Bundesamt wiederum hat nur die Baugenehmigung erteilt, prüft selber aber nicht, schon gar nicht die Ausführungsplanung, und verweist nur auf die Gutachten, die der Vorhabenträger DB PSU beigebracht hat.
Und die Politik? Die macht es sich besonders einfach: Das Vorhaben Stuttgart 21 sei ein eigenwirt-schaftliches Projekt der Bahn, die auch verantwortlich sei für die Einhaltung der brandschutz-technischen Anforderungen. Damit sehen sich sowohl das Bundes- als auch das Landesverkehrsministerium Baden-Württemberg aus dem Schneider. Mit gleicher Begründung hat auch der Petitionsausschuss des Landtages von Baden-Württemberg die Petition der „Degerlocher Obenbleiber“ zum unzureichenden Brandschutz und zur Kostenexplosion von Stuttgart 21 in seiner Entscheidung vom 22.7.2021 abgewiesen.
Alle stoßen ins gleiche Horn: die Gutachten der Sachverständigen hätten ergeben, dass der Brandschutz bei Stuttgart 21 sichergestellt sei. Von den Mängeln will keiner etwas wissen.
Wenn es dann mal zu einem schweren Brand mit hunderten Toten und Verletzten kommt, wird von den Verantwortlichen eh´ niemand zur Rechenschaft gezogen werden; siehe das ICE-Unglück 1998 bei Eschede mit 101 Toten und 89 Schwerverletzten.
Das wollen wir uns ersparen und deshalb Oben bleiben!
Rede von Hans Heydemann als pdf-Datei
Lieber Herr Heydemann,
vielen Dank Ihnen und den Ingenieuren22 für die Fachkenntnis, Ihr Engagment und den Mut.