Rede von Tom Adler, Fraktionsvorsitzender von „Die FrAKTION“, auf der 548. Montagsdemo[1] am 25.1.2021
Liebe Freund*innen,
wir erleben schwierige Zeiten und wir alle sehnen wieder gesellschaftliches Leben, Kultur und uneingeschränkte Begegnungen herbei. Ja, auch dass unsre Kundgebungen gefahrlos auf der Straße stattfinden können. Ich kann Ihnen und euch sagen: ich vermisse euch, das ganze Demoteam vermisst euch und unsere wöchentlichen Begegnung mit Freunden einer solidarischen, sozialen, ökologischen, weltoffenen Stadt!
In diesen Wochen erleben wir auch wieder Versuche, einen Zusammenhang zwischen unserem Protest und den Querdenker-Corona-Protesten zu konstruieren. Schon im vergangenen Jahr war Stuttgart in den Medien als „Protesthauptstadt“ bezeichnet worden wegen der Cannstatter-Wasen-Demos der sogenannten Querdenker.
Diese Auszeichnung durch die Medien war Stuttgart – das heißt uns S21-Gegnern! – Anfang der 10er-Jahre zuteil geworden. Damals, als wöchentlich Zehntausende auf den Straßen waren gegen das Skandalprojekt Stuttgart 21. Und heute – „Protesthauptstadt“ wegen dieser mehr als fragwürdigen Mischung, die sich mit offen Rechtsradikalen bei „Querdenken-711“ versammelt?
Wie schon 2010, als der Spiegel den „Wutbürger“ erfunden hat, wird heute versucht, uns zu diskreditieren. Etwa durch das Rechtspopulistenblatt epochtimes, aber auch durch SWR-Journalisten im Interview mit dem Politologen Erik Flügge, die die abenteuerliche These in den Raum stellen, den Protesten gegen S21 und den Ballwegschen Veranstaltungen lägen dieselben Haltungen zu Grunde. Auch Winfried Hermann war sich kürzlich nicht zu schade für solche Diskreditierungsversuche.
Schauen wir uns das also mal etwas genauer an: Interessant ist erstens, dass der Politologe Flügge den Suggestiv-Fragen seines SWR-Interviewers widerspricht und klar stellt: es gibt keine inhaltliche und keine personelle Nähe der Stuttgart-21-Bewegung zu Querdenken-711.
Die Bewegung gegen Stuttgart 21 hat sich im Lauf der Jahre klar positioniert und in den Auseinandersetzungen mit einer ignoranten Politik ein klares, sozial-ökologisches, humanistisches Selbstverständnis entwickelt. Wir haben das zusammen auf den Begriff gebracht: „Wir verstehen nicht nur Bahnhof!“
Wir können also festhalten: weder „Bewegung“ an sich, noch „Protest“ an sich ist gut. Ob Protest gut ist oder nicht, das prüft man mit Kriterien: ist eine Protest-Bewegung sozial, ökologisch, klimaschützend, fremden- und flüchtlingsfreundlich oder nicht? Steht sie für eine Verkehrswende und gegen Rechts? Punkt für Punkt haben wir diese Frage bis heute mit „ja“ beantwortet!
Das hat bekanntlich auch nicht immer allen Stuttgart-21-Gegner*innen gefallen. Da stellen sich Fragen, zum Beispiel die: Wie konnte sich unser Stuttgart-21-Protest zu einer von der ganzen Republik fasziniert beachteten Massenbewegung entwickeln? Was ist aus ihr geworden und warum?
In den letzten Monaten haben sich die „10-Jahres“-Tage der Stuttgart-21-Bewegung gehäuft und die bewegenden Bilder, Bilder einer Bewegung auf dem Höhepunkt ihrer Mobilisierungskraft. Die war so stark und elektrisierend, dass ich wie die meisten von uns erwartet hatte: wir zwingen Bahn und Politik zum Ausstieg aus Stuttgart 21.
10 Jahre und fast 550 wöchentliche Montagsdemos später, nach ungezählten Verrätereien von Regierungs-Grünen an einer Bewegung, die sie in der Stadt und im Land in die Regierung gebracht hatte, gibt es uns trotzdem immer noch! Es gibt ein Aktionsbündnis, es gibt die Ingenieure22, das Parkschützerforum, eine Mahnwache 24 x 7 x 365, eine Demo mit ein paar Hundert Teilnehmern jede Woche, zur Zeit wie heute im Netz. Und wir haben Unterstützung von namhaften Fachleuten und wunderbaren Künstler*innen!
Jedes Argument für den Erhalt des Kopfbahnhofs hat sich als richtig erwiesen – jede Behauptung der Projektbetreiber als dreiste Täuschung der Öffentlichkeit. Trotzdem wissen wir alle: das absehbare Scheitern des Irrsinns wäre nicht das direkte Resultat der heutigen Proteste auf der Straße. Unsere Bewegung mit ihrem bewundernswerten Durchhaltevermögen ist momentan weit davon entfernt, die Politik zum einzig vernünftigen Schluss zwingen zu können: zum Baustopp, zum Kopfbahnhof-Erhalt und einer Denkpause für alternative Nutzungsmöglichkeiten der Tunnelsysteme.
Warum das so ist, und über die richtigen, Erfolg versprechenden Strategien sind viele Debatten in unserer Bewegung geführt worden. Schon im beginnenden Rückgang der Massenbewegung nach der Landtagswahl 2011. Für das Abklingen der Mobilisierung wurde sehr Unterschiedliches verantwortlich gemacht:
Für die Grünen, in Posten und Pöstchen von Landesregierung und Stadt angekommen, wurden die Demonstrationen, die den Straßenverkehr behinderten und ‚Bürger verärgern‘ würden, zum billigen Vorwand, sich von der Bewegung zu verabschieden.
Für andere war der Kardinalfehler, sich von Heiner Geißler in die sogenannte „Schlichtung“ hineinziehen zu lassen, sowie die Teilnahme an der Volksabstimmung.
Wieder andere meinten, verantwortlich für das Abklingen der Straßenproteste sei ihre politische „Radikalisierung“, sprich: die wachsende Verbindung des Bahnhofsthemas mit Themen anderer sozialer und ökologischer Bewegungen – etwa Recht auf Stadt, Verkehrswende, Flüchtlinge, Pflegenotstand – und noch mal andere Mitstreiter*innen finden, die Bewegung sei nicht radikal genug und fordern mehr Aktionen zivilen Ungehorsams ein.
Und auf der Suche nach Haaren in der Bewegungs-Suppe behaupteten manche besonders Schlaue eine angebliche Offenheit bzw. fehlende Abgrenzung nach rechts. Diese Kritik ist aber nicht redlicher als die der grünen Karrieristen. Denn ob eine Bewegung rechtsoffen ist, entscheidet sich nicht daran, ob es auch einzelne Individuen mit reaktionären Grundwerten von vorgestern auf ihren Demos gibt.
Außerparlamentarische Bewegungen, die eine Massenanziehungskraft entwickelt haben, können nicht jede und jeden einzelne(n) Mitdemonstrierende(n) auf umfassende Werte verpflichten. Personen mit autoritärem Weltbild fanden und finden sich auch in der Friedensbewegung, in der Anti-AKW-Bewegung, in Umweltschutzbewegungen aller Art.
Rechtsoffen oder nicht – das entscheidet sich daran, ob rechtem Gedankengut, mit dem Vorwand eines gemeinsamen Teilziels, Raum gegeben wird sich auszubreiten. Oder ob ihm gar eine Bühne geboten wird. Genau das ist bei den sogenannten „Querdenkern“ der Fall. Und bei uns gab es das zu keinem Zeitpunkt!
Die auf den Stuttgart-21-Demos verbreitete Orientierung war immer durchgängig demokratisch und ökologisch. Über die Jahre wurde sie mit einer humanistischen, sozial-ökologischen, flüchtlingsfreundlichen, antifaschistischen Grundhaltung angereichert. Und alle erkennbaren Versuche organisierter Rechter, auf unseren Kundgebungen und unseren sozialen Netzwerken ihre Propaganda zu verbreiten, wurden unterbunden.
Jeder dieser vielen Kritikpunkte ist aber keine ernsthafte Erklärung dafür, warum wir geschrumpft sind. Zuallererst einfach deshalb, weil das Auf und Ab, Wachsen und Rückfluten ein Merkmal der Dynamik aller außerparlamentarischen Bewegungen ist. Ganz unabhängig davon, welche taktischen oder strategischen Fehler dazu kommen. Denn die Alltagsbelastungen der Menschen sind ein mächtiges Hindernis gegen dauerhaftes Engagement auf der Straße, jede/r kennt Mitstreiter*innen, deren Energie erschöpft wurde, verlorene Erfolgshoffnungen kamen dazu.
Nicht zu vergessen: auf dem Höhepunkt seiner Mobilisierungskraft war der Protest gegen Stuttgart 21 auch zur attraktiven Projektionsfläche geworden für jede nur denkbare Unzufriedenheit mit dem 60jährigen autoritären schwarz-gelben Filz der Landespolitik. Mit dem Regierungswechsel im Frühjahr 2011 entfiel dieser Mobilisierung stärkende Impuls – der Weg von der Straße zurück aufs Sofa folgte.
Ein Erfolgsfaktor für unser rapides Wachstum 2009 bis 2011 war auch das breite Spektrum von Zugängen zum Protest gegen Stuttgart 21: Schienenverkehr und Verkehrspolitik, Denkmalschutz, Mineralwassergefährdung, Tier- und Naturschutz, Geldverschwendung… Das ermöglichte und ermöglicht die Zusammenarbeit sehr unterschiedlicher Interessen und Individuen, die sonst den Weg nicht leicht zueinander gefunden hätten.
Da wird auch gern die Frage gestellt: sind das jetzt nicht Gemeinsamkeiten mit den ebenfalls heterogenen „Querdenkern“? Ihre Promis von Ken Jebsen bis Michael Ballweg sind ja ständig bemüht, durch Kritik an Stuttgart 21 Protestpotential auf ihre Mühlen umzuleiten. Glücklicherweise ohne große Erfolge.
Tatsächlich ist aber die Ignoranz von Politikern und Medien gegenüber unserer Stuttgart-21-Kritik kein Moment, das uns mit der Coronamaßnahmen-Kritik der „Querdenker“ verbindet. Denn tragfähige Gemeinsamkeit entsteht aus gemeinsamen wissens- und faktenbasierten Analysen und darauf gegründeter Zielsetzung. Das war, ist und bleibt unser Fundament. Corona-„Querdenker“ werden dagegen weder durch eine konsistente Analyse, noch durch eine gemeinsame Vision zusammengehalten, sondern nur durch ihre geteilten Feindbilder und ihre Mythenbildungen.
Liebe Freund*innen, hat es sich denn trotz alledem gelohnt, 10 Jahre lang, Woche für Woche Demos und Aktionen zu organisieren und sich daran aktiv zu beteiligen? Statt sich abzufinden und die schöne neue S21-Welt „konstruktiv mitzugestalten“ wie die Grünen? Ja, das hat sich gelohnt, und das lohnt sich weiter! Denn angesichts dieses stadtzerstörerischen Klima-Skandalprojekts ist es schon aufklärerische Pflicht, ständig wieder öffentlich ständig zu „sagen, was ist“. Und das tun wir!
Wir alle sind außerdem fester Bestandteil der kritischen Protestkultur unserer Stadt geworden. Die Oben-Bleiber*innen sind überall dabei, wo sozial-ökologische und fremdenfreundliche Bewegung ist: bei den Fridays4Future, bei der Seebrücke, bei den Anstiftern, der Friedensbewegung und bei Recht auf Stadt-Initiativen.
Rechtspopulisten aller Art tun sich bisher schwer, eine breite Basis in Stuttgart zu finden. Und zwar nicht einfach, weil Stuttgart wohlhabend und liberal wäre. Nein, auch unsere jahrelangen Aktivitäten um Stuttgart 21 und unsere Präsenz auf den Straßen haben dagegen Schutzwälle gebaut. Das Wahlergebnis der AfD und die 1,2% für die Querdenker-Gallionsfigur Michael Ballweg bei der OB-Wahl bestätigen das.
Und nach wie vor bestätigen Bürgerbefragungen uns: etwa die Hälfte der Stuttgarter*innen findet Stuttgart 21 schlecht.
All das, meine ich, empfiehlt uns allen, auch unter erschwerten Bedingungen: immer besser
Oben Bleiben!
[1] ab 21.12.2020 wegen Corona-Pandemie jeweils Montags, 18 Uhr, wieder online:
https://www.parkschuetzer.de/videos/
Klare Abgrenzung gegen Angst/HaSS-Hetze der „Querdenker“-Sektierer.
Gut so 🙂 !
Steht auf gleicher Ebene wie die aktuelle #Rundmail von Werner Sauerborn:
https://www.parkschuetzer.de/assets/statements_neu/000/209/710/original/Rundmail_24.1.2021.pdf?1611524145
Das ist für mich erneut wieder hervorragend auf den Punkt gebracht.
Danke Werner & AB 🙂 !
Tolle Rede!!!
Vielen Dank, Tom Adler!