Rede von Dr.-Ing. Hans-Jörg Jäkel, Ingenieure22, auf der 532. Montagsdemo am 5.10.2020
Was so im letzten Jahr bei Stuttgart 21 und drum rum passiert ist, das hat mich wieder und wieder fassungslos gemacht. Eigentlich sind wir ja abgehärtet, aber immer, wenn man denkt, es geht nicht schlimmer, dann wird man mit S21 eines Besseren belehrt.
Im Titel meiner Rede habe ich S21 als Farce bezeichnet. Mit selten gebrauchten Fremdwörtern sollte man vorsichtig umgehen, und so habe ich erst noch mal die Bedeutung geklärt. Ein Theaterstück oder eine Füllmasse habe ich nicht gemeint, sondern solche Erklärungen wie Täuschung, Betrug, Irreführung und Machenschaft, denn genau das ist S21. Immer wieder gibt es falsche Versprechungen – ihr erinnert euch doch sicher an den tollen Spruch vom „Neuen Herz Europas“. Auf die schwer zu überbietende Bescheidenheit dieser Losung möchte ich nicht eingehen, aber es erinnert mich immer an „Des Kaisers neue Kleider“, ein Märchen von Hans Christian Andersen. Zwei Betrüger liefern angeblich die wundervollste Kleidung – aber dumme und unfähige Leute können sie nicht sehen. Das Gefolge des Kaisers sieht keine Kleider, aber sie wollen es nicht zugeben und überbieten sich im Lob. So geht es auch vielen Politikern in Stadt und Land mit den Lügen der Bahnoberen. Sie wollen nicht wahr haben, dass der Halbtiefschrägbahnhof immer teurer, immer länger gebaut und auch nicht funktionieren wird.
Selbst in Gerichtsurteilen wird bestätigt, dass die Planfeststellung bei S21 für gut 30 Züge in der Stunde erfolgte. Im „Stresstest“ wurden dann 49 Züge mit fraglichen Randbedingungen simuliert. Nun sollen aber Deutschlandtakt und „Starke Schiene“ für eine Verdoppelung der Verkehrsleistung sorgen. Dazu hat sich die DB als angebliche Lösung einen „digitalen Knoten Stuttgart“ ausgedacht, und Thorsten Krenz, Konzernbevollmächtigter der DB AG für das Land Baden–Württemberg, behauptet ganz ungeniert, dass nun „ohne Weiteres auf jedem Gleis alle 5 Minuten ein Zug“ fahren könnte. Das wären 12 Züge in 60 Minuten auf einem Gleis und 96 auf den 8 Gleisen von S21. Das kann er ungestraft den Politikern in Stadt und Region erzählen. Selbst ein Herr Hickmann vom Verkehrsministerium, der in der Schlichtung sehr fundiert gegen S21 auftrat, antwortet jetzt auf Fragen zur Leistungsfähigkeit, dass „zwischen 60 und 70 Zügen fahrbar seien“. Das ist nicht zu verantwortende Lobhudelei wie beim Gefolge des Kaisers.
Offenbar hat man aber bei der DB und im Ministerium erkannt, dass die angestrebte Steigerung des Zugverkehrs nicht mit ETCS allein machbar ist, sondern dass es dafür auch zusätzlicher Gleise und Weichen bedarf. Den Krampf eines unterirdischen Kopfbahnhofes möchte ich hier nicht weiter kommentieren. Aber dass man jetzt – im Jahr 2020 – feststellt, dass die Fahrzeit zwischen den Knoten Mannheim und Stuttgart mit etwa 35 Minuten durch S21 nicht wesentlich reduziert wird und dass dies schlecht in einen Taktfahrplan passt, das ist schon bemerkenswert. Als angebliche Lösung soll ein etwa 10 km langer Tunnel die Schnellfahrstrecke unter Stammheim und Zuffenhausen hindurch direkt mit dem S21-Tunnel nach Feuerbach verbinden.
Jahrelang hat man einen bzw. zwei Tunnel nach Feuerbach gegraben und x-mal mit entsprechenden Zugausfällen am Bahnhof Feuerbach die Gleise verschwenkt und Bahnsteige umgebaut. Nun stellt man fest, dass das Tunnelende eigentlich nicht dort, sondern 10 km weiter im Norden liegen sollte und stellt das als Leistungssteigerung von S21 hin. Im Feuerbacher Tunnel sind aber keinerlei Vorkehrungen für Abzweige in diesen neuen Tunnel getroffen, so dass dieser für den Anschluss gesperrt werden müsste. Um dann überhaupt Züge aus dem Norden in den Halbtiefschrägbahnhof zu bekommen, wäre vorher noch die P-Option mit einem Anschluss an den Cannstatter Tunnel zu realisieren – bis 2030 völlig unrealistisch. All diese Verrenkungen sind nicht notwendig, wenn der Kopfbahnhof mit all seinen Zuläufen erhalten bleibt, bis die Bahn S21 gut funktionierend in Betrieb genommen hat. Das werden sie aber nicht schaffen. Mit dem neuen Nordtunnel wird übrigens auch nur die Fahrzeit auf 30 Minuten gesenkt. Wie dann noch der Fahrgastwechsel für einen Takt geordnet ablaufen soll, das bleibt ein Geheimnis der Bahn.
Neben der Farce im Norden gibt es auch an vielen anderen Stellen des Projektes schlimme Situationen. Über die Zick-Zack-Weichenstraßen im Abstellbahnhof Untertürkheim, die Schleifen an der Wolframstraße mit fehlendem Geh- und Radweg und die nicht erforderliche Unterbrechung der Gäubahn wurde hier ja schon berichtet. Da hat sich nix gebessert.
Ganz schlimm wird es aber im Süden, wo die Gäubahn zum Flughafen geführt werden soll. Steffen Siegel hat schon oft über die zahlreichen Versuche der DB berichtet, dort eine akzeptable Planung zu bekommen. Mehrmals hat das EBA die Anträge als „nicht genehmigungsfähig“ zurückgewiesen. Das war man dann allerdings leid und gibt deshalb einfach die Anträge dem Regierungspräsidium zur Anhörung weiter. So hat die Bahn 2017 eine Planung für die Gäubahnanbindung mit dem berühmten 3. Gleis am Flughafen eingereicht.
Es gab im Sommer 2017 die öffentliche Einsicht in die Unterlagen, die zu zahlreichen Einwendungen mit vernichtender Kritik – z.B. von Leinfelden-Echterdingen – führte. Im Verwaltungsverfahrensgesetz heißt es dann ganz klar (§ 73): „Die Anhörungsbehörde schließt die Erörterung innerhalb von drei Monaten nach Ablauf der Einwendungsfrist ab“. Aber bei S21 ist es immer schlimmer, als man es sich vorstellen kann. Die Einwendungsfrist ist im Herbst 2020 nicht drei Monate, sondern bald drei Jahre abgelaufen. Die Bahn hat schon zwei Planänderungen eingereicht, die auch ausgelegt wurden und weiterhin zu vernichtender Kritik führten, z.B. zu der nun vorgesehenen Kappung der S-Bahn vor dem Flughafen für mindestens ein Jahr.
Wenn schon der Norden Stuttgarts einen zusätzlichen Tunnel bekommen soll, dann wird nun auch für den Süden, also die Gäubahnanbindung, ein langer Tunnel vom Rohrer Wald bis zum Flughafen diskutiert. Staatssekretär Bilger vom Bundesverkehrsministerium hat sich sehr weit aus dem Fenster gelehnt und erklärt, dass nicht nur technische Fragen, sondern sogar die Finanzierung fast geklärt sei. Aber das sind doch auch wieder nur Versprechen für „neue Kleider“, die gut klingen, von den Problemen ablenken und nicht glaubhaft sind. Denn die Geschichte der Gäubahn zwischen Stuttgart und Singen bzw. weiter nach Zürich ist doch in den letzten Jahrzehnten nur eine Geschichte leerer Versprechungen. Vor 70 Jahren wurde hinter Horb das zweite Gleis demontiert und dabei ist es bis heute geblieben. Nun soll diese Gäubahn ganz rasch einen der längsten Tunnel Deutschlands bekommen? Aber nicht etwa, um die Fahrzeit im kurvenreichen Neckartal zu verkürzen, sondern um sie am Flughafen anzubinden – welche Farce!
Und um das Ganze noch auf die Spitze zu treiben, lassen die Projektpartner von S21 wissen, dass für den Gäubahnanschluss die Anhörung zu den Planungen der DB von 2017 weitergeführt werden soll. Dort ist der beschriebene lange Tunnel nicht mal als Variante aufgeführt. Eine Erörterung dieser Planung wäre also wieder nur eine Farce.
Aber wir versprechen Euch: Ihr bekommt uns nicht los, wir Euch schon!