Rede von Dr. Winfried Wolf, Verkehrsexperte, Journalist und Herausgeber von ‚LunaPark21′, auf der 528. Montagsdemo am 7.9.2020
Die zivilgesellschaftliche Bewegung gegen Stuttgart 21, die in diesem Jahr so oft ein „Zehnjähriges“ begeht, hat einen unglaublich langen Atem. Und sie hat diesen unter anderem deshalb, weil wir von Tatsachen und Fakten ausgehen. Weil wir dieses Gerede von einer „Magistrale Paris – Bratislava“ als Geschwurbel erkannten und entmystifizierten. Weil wir das Gerede von „Demokratie“ im Zusammenhang mit der Volksabstimmung zu S21 als hohl erkannten und – hier zusammen mit Edzard Reuter – feststellen, dass diese „Volksabstimmung mit erfundenen und verlogenen Zahlen“ durchgeführt wurde.[1] Und weil wir die Losung vom „technischen Fortschritt“ und davon, dass Stuttgart „mit der Zeit gehen“ müsse, ablehnen und dabei im guten Sinne des Wortes konservativ sind: conservare ist Lateinisch. Das meint laut Duden: „bewahren, erhalten, retten“. Denkmalschutz und Kulturgut bewahren, Bestehendes-Bewährtes erhalten, das Klima, die Umwelt und die Bahn als öffentliches Gut retten. Stattdessen erleben wir, wie die Bahn neu politisiert wurde und wie aus Stuttgart 21 ein Politikum gemacht wird. Wie mit „alternative facts“ – mit fake news, mit Lügen, mit Manipulation – gearbeitet wird. Und wie sich dahinter höchst spezifische Interessen verbergen.
Lasst mich das an den Beispielen Deutsche Bahn und Stuttgart 21 verdeutlichen:
1994 wurde die Deutsche Bahn gegründet. Damals hieß es: Eine Staatsbahn Bundesbahn sei schlecht; diese sei zum Spielball der Politik geworden. Und: Eine derart hochverschuldete Bahn, wie es die Bundesbahn am 31. Dezember 1993 war, kann nicht überleben. Sie ist strukturell unwirtschaftlich. Also wurde die DB als Aktiengesellschaft gegründet, angeblich staatsfern. Also wurden alle Altschulden der Bundesbahn und der Reichsbahn und die Verpflichtungen, resultierend aus der Altersversorgung, übernommen. Im Januar 1994 wurde eine Deutsche Bahn Aktiengesellschaft gegründet, die exakt 0,00 DM Schulden hatte.
Wie sieht die Bilanz heute, 26 Jahre später, aus? Zunächst einmal ist die DB AG ist ein hochpolitisches Ding. Wenn Frau Merkel nach Peking düst, hat sie den jeweiligen Bahnchef im Kabinengepäck. Es geht ja um die Seidenstraße. Wenn Frau Merkel nach Riad jettet, hat sie ebenfalls den Bahnchef mit dabei. Es geht ja um die 300 Stundenkilometer schnelle Pilgerbahn Mekka-Medina – die DB macht bei diesem Projekt übrigens „nur“ die Logistik; die Züge kommen aus Spanien von Talgo. Das war der Deal, bei dem der damalige spanische König Juan Carlos Dutzende Millionen Euro Schmiergeld kassierte, weswegen er sich vor ein paar Wochen eben dorthin, nach Saudi Arabien abgesetzt hat.[2]
Und wenn Ende 2020 der Bundesverkehrsminister, dieser hab-ich-die-Haare-schön Andi, in Berlin ein „Klimapaket“ für die DB bekannt macht, und wenn derselbe Herr Scheuer im Mai eine „Corona-Hilfe“ für die Deutsche Bahn AG vorstellt, dann läuft das auf einen Freibrief zur totalen Überschuldung der DB hinaus. Und dies mit dramatischen Folgen.
Und das will erklärt sein: Diese mit Null Schulden vor 26 Jahren gestartete DB ist längst hoch verschuldet. Sie hatte im August dieses Jahres erstmals mehr als 30 Milliarden Euro Schulden. Damit hat die DB in nur 26 Jahren mehr Schulden angesammelt als die Bundesbahn in 44 Jahren. Diese Bundesbahn hatte am letzten Tag ihrer Existenz exakt 58,21 Milliarden DM Schulden, was 29,76 Milliarden Euro entsprach.
Scheuer und die Bundesregierung haben jetzt Hilfe für die DB zugesagt. Aber keine Hilfe für die Schiene als Ganzes. Auch keine Hilfe in Form einer Übernahme von Schulden, einer Teilentschuldung. Nein! Vielmehr soll die DB im laufenden Jahr rund 5 Milliarden Euro erhalten zur Erhöhung des Eigenkapitals. Und dann zehn Jahre lang pro Jahr eine Milliarde Euro, ebenfalls zur jeweiligen Erhöhung des Eigenkapitals. Insgesamt also 15 Milliarden Euro bis 2030.
Das klingt komplex. Und das ist komplex. Damit wird ein komplizierter und extrem brisanter Vorgang verschleiert. Denn mit dem ständig vergrößerten Eigenkapital wächst der Spielraum, in dem sich die DB verschulden kann. Oder muss es heißen: in dem sie sich immer mehr verschulden soll? Jedenfalls freut das die Berater und die Banken. Das spült denen große Summen in die Kassen. Die DB zahlt allein im laufenden Jahr rund eine Milliarde nur für Zins und Tilgung. Das ist aber genau derselbe Irrweg, den die Bundesbahn bis Ende 1993 ging – ja gehen musste. Weswegen sie ja entschuldet und weswegen dann ja die schuldenfreie DB gegründet wurde.
Und es kommt noch schlimmer und ganz dick. Wenn der Bund mit solch riesigen Summen ein einzelnes Schienenunternehmen stärkt, dann ist das nach EU-Recht eine drastische Wettbewerbsverzerrung. Und prompt haben im August 2020 die Interessensverbände der privaten Bahnen, das Netzwerk Europäische Bahnen (NEE) für die privaten Güterbahnen und der Verband mofair für die privaten Bahnen im Personenverkehr Klagen bei der EU-Kommission angekündigt. Ich bin absolut kein Freund der privaten Konkurrenzbahnen. Doch wir leben in einer konkreten Schienenwelt. Und wir müssen all dem Rechnung tragen, wenn wir uns nicht ins eigene Fleisch schneiden und das wertvolle Gut einer öffentlichen Bahn nicht massiv beschädigen wollen.
Und es gibt eine gangbare Alternative. Anstelle des Eigenkapital-Anfütterns der DB zum weiteren Schuldenmachen könnte man die gleiche gewaltige Summe in die Infrastruktur selbst stecken. Beispielsweise für eine flächendeckende Elektrifizierung des Netzes. Das würde dann allen Bahnen und allen Fahrgästen zu Gute gekommen. Das böte dann keine Handhabe für den Klageweg. Man kann jetzt nur mutmaßen, warum der Autofan Scheuer diesen Weg geht. Die Privatbahnen jedenfalls haben in ihre Klagedrohung bereits hineingeschrieben, was sie fordern: unter anderem auch eine komplette Öffnung des Fernverkehrs für Privatbahnen. Also private ICE- und IC- und EC-Züge. Und die Aufspaltung des noch einheitlichen – „integrierten“ – Bahnkonzerns. Die „Hilfen“, die Scheuer der DB aktuell gewährt, sind da ein Danaer-Geschenk. Damit wird eine neue Offensive zur Privatisierung der Bahn provoziert, wenn nicht bewusst herbeigeführt.[3]
Und so wie die DB eine „politische Bahn“ im schlechten Sinn ist, so ist Stuttgart 21 schlechte Politik hoch zwei. Ein Politikum. Behauptet wurde, dass damit Schienenkapazität erweitert werden würde. Mal heißt es, um 100%, mal um 50%, mal um 30%. Wir sagten immer: Hier wird mit einer gigantischen Geldsumme, die immer größer wird, enorm viel Schienenkapazität abgebaut. Mindestens 30 Prozent. Jetzt plötzlich, seit Frühsommer heißt es auch bei den S21-Befürwortern, auch beim Land, auch im Winfried-Hermann-Ministerium: Oh, das Tiefbahnhöfle ist ja viel zu klein. Wir brauchen zusätzlich zu den 40-50 km Tunnelstrecken – die in Bau befindlich sind – weitere 15, 20 und noch weit mehr Kilometer Tunnelbauten. Die noch nicht einmal geplant und schon gar nicht planfestgestellt sind. Herrenknecht ist begeistert. Die Banken sind erfreut. Die Fahrgäste schauen nur noch in Röhren.
Behauptet wird, es gehe um einen neuen, modernen Bahnhof mit einer grandiosen Kelchstützen-Architektur. Wir sagten: Das ist nichts als ein spekulatives Immobilienprojekt. Im Sommer dieses Jahres mussten selbst wir uns die Augen reiben, weil unsere düsteren Alpträume nochmals getoppt werden. Nicht nur Ingenhoven & die Otto-Tochter ECE liegen als Immobilienhaie auf der Lauer. Auch Herr Tönnies ist mit im Geschäft: Im entkernten Bonatzbau soll ein Luxus-Hotel entstehen. Also auf dem Turm der Daimler-Stern. Und aus dem Bonatz-Bau herausragend ein Glaskasten-Hotel, ausgestattet mit dem Tönnies Vier-Schweinchen-Sterne-Status.
Als es kein seriöses verkehrspolitisches Argument für Stuttgart 21 mehr gab, da erklärten die Stadt-Verantwortlichen mit Fritz Kuhn an der Spitze: Mit S21 entsteht „wertvoller Wohnraum“. Daher – so Herr Kuhn – verkünde ich als Oberbürgermeister den „Ideenwettbewerb für das Rosensteinviertel“. Nun hat der abgehende OB hat eine ausgesprochen miserable Bilanz seiner Amtszeit. Doch das zählt er als Pluspunkt: diesen Ideenwettbewerb und vagen Bebauungsplan für ein paar tausend Wohnungen im späteren Rosenstein-Viertel auf gleistotem Grund. Doch auch das ist Schnee von vorgestern. Seit Frühjahr 2020 ist klar: Bebaut werden kann das alte Gleisvorfeld erst ab 2035: ein Vierteljahrhundert nach dem S21-Baubeginn. Und heute in frühestens 15 Jahren.
Wie verlogen das Argument „Stuttgart braucht dringend neuen Wohnraum“ ist, zeigte sich am Samstag, dem 29. Juli 2020 auf der Sitzung des Stuttgarter Gemeinderats. Feierlicher Ort: Liederhalle. Zeit:: Gegen 16.35 Uhr. OB Kuhn gibt eine Stellungnahme ab; eingeleitet mit den Worten „bevor wir in die Tagesordnung eintreten“. Man hab das ja den Medien entnommen… „die Amerikaner“ wollten den Standort Stuttgart aufgeben. An dieser Stelle gab es spontan Beifall von Seiten der Gemeinderäte Tom Adler, Hannes Rockenbauch und anderen aus der Fraktionsgemeinschaft LINKE-SÖS. Und wie kommentierte der grüne Oberbürgermeister das? Er verbitte sich diesen Beifall.[4]
Das muss man sich mal vorstellen! Da wird bekannt, dass eine Mörderbande diese Stadt verlässt. Dass eine Gruppe hochbezahlter Söldner, die mit EUCOM und AFRICOM von Stuttgart aus illegale Kriege führt, die von hier aus, koordiniert mit Ramstein und Florida, Drohnenangriffe steuert, die in jedem Jahr mehr als Tausend Menschen – weit überwiegend Zivilisten – auf diese Weise tötet[5]. Die in Vaihingen die europäische Zentrale der größten Spionageorganisation der Welt, der NSA, unterhält, von wo aus selbst die Kanzlerin ausspioniert wurde… dass diese Mörderbande und Stasi-Methoden-Gang endlich „good-bye!“ sagt… Doch der OB – ähnlich wie zuvor der Kretsch – bedauert dies. Man redet von „transatlantischer Partnerschaft“. Und verbittet sich Beifall. Als ob wir in Stuttgart nicht unterscheiden könnten zwischen der Bevölkerung in den USA und der Mörderbande im Pentagon und im Weißen Haus.
Dabei müsste OB Kuhn doch allein auf Grundlage seines Amtseids sich dem Wohl der Bürgerinnen und Bürger verpflichtet fühlen. Und ein Wegzug der US-Army aus Stuttgart heißt, dass Russland keinen Anlass mehr hat, russische Atomraketen mit Ziel Stuttgart zu programmieren. Ich zitiere aus dem Artikel „Die atomare Zielscheibe“ aus einer Zeitung der Partei ‚Die Grünen‘: „Wenn (Russland) von deutschem Boden aus in einem Dritten Weltkrieg atomar vernichtet werden kann, dann muss (Russland) seinerseits diese Gefahr auszuschalten versuchen. Deutschland“ – und nicht zuletzt die US-Kommandozentrale in Stuttgart - „wird dadurch anstelle der USA zum atomaren Schlachtfeld der Zukunft. Das Absurde ist nicht, dass die Amerikaner derartiges planen. […] Nein, das Absurde besteht darin, dass die Deutschen einer solchen Strategie zustimmen. Hier wird die eigene Vernichtung […] in einer unbeschreiblichen Lammsgeduld und im Glauben an die Weisheit der Metzgermeister hingenommen.“[6]
Es sei eingestanden, es handelt sich um einen alten Grünen-Text. Aus dem Jahr 1979. Doch nicht alt ist, weiter real ist, dass die Grünen eine Heinrich-Böll-Stiftung haben. und da fragen wir: War es nicht der Nobelpreisträger Heinrich Böll, der den Abzug der US-Army aus Deutschland forderte? Hat dieser Heinrich Böll nicht zusammen mit prominenten Grünen und Schriftsteller-Kollegen wie Günter Grass vom ersten bis zum dritten September 1983 die „Prominentenblockade“ angeführt und unter anderem den US-Truppenstützpunkt und US-Atomraketen-Standort Mutlangen blockiert? Vielleicht gar zusammen mit Kuhn und Kretsch? Geht da heute der Stifter der Stiftung stiften?[7]
Und noch etwas – und hier sind wir urplötzlich und völlig unerwartet wieder bei Stuttgart 21: Wenn die US-Army endlich hier in Stuttgart (und gerne überall in Europa) in den Sack haut, dann werden doch in der baden-württembergischen Landeshauptstadt gewaltige Areale frei …. ja, frei für den angeblich so dringend benötigten Wohnraum! Sie werden frei mit den Kelley Barracks in Möhringen. Sie werden frei mit den Patch Barracks in Vaihingen. Das sind Flächen, die rund drei Mal so groß sind wie alle Flächen, die bei einer Realisierung von Stuttgart 21 frei werden würden. Da kann Wohnraum für Zehntausende Menschen entstehen. Und das sind Areale, die nicht erst 2035, sondern die bereits 2021 oder 2022 frei werden. Diese Areale müssen im Grundsatz ja nicht neu bebaut werden – was ja immer mit viel Zeit, viel Geld und vor allem mit CO2-Emissionen verbunden ist. Diese Areale sind bereits bebaut: mit Wohnungen, mit Gemeinschaftsräumen, mit Restaurants, mit einem Hotel, mit einem Theater, mit mehreren Sportplätzen. Diese Areale und all diese Gebäude müssen vielleicht renoviert, modernisiert, mit Solardächern und Blockheizkraftwerk versehen werden. Vor allem müssen sie ganz schnell umgewidmet werden. Und dafür muss es einen Ideenwettbewerb geben, beginnend möglichst morgen früh um acht. Ein Architekten- und Bürgerwettbewerb zur Schaffung von preiswertem, kinderfreundlichem, gut an den ÖPNV angeschlossenen Wohnraum für viele Tausend Familien, für Wohngemeinschaften, für allein Erziehende und Singles usw. usf. Die Möglichkeit für autofreies Wohnen eingeschlossen. Anstelle olivgrün echt grün. Das wäre doch eigentlich im politischen Spektrum eine genuin grüne Aufgabe. Kuhn, Kretsch, Kienzle – bitte übernehmen. Und wenn die es nicht machen, dann muss es halt ein OB Rockenbauch in Angriff nehmen! Gerne als echt-rote und farbecht-grüne Kooperation!
Es ist ja oft so: Wenn faktenbasiertes Argumentieren nichts mehr fruchtet, dann kann Kunst behilflich sein. Und das war ja ohnehin immer unsere Stärke – hier auf der Montagsdemo eher in Form einer Kleinkunstbühne – immer auch für große und großartige Musiker. Und an anderer Stelle Kunst in größeren Dimensionen im Kampf gegen Stuttgart 21. Mitgetragen damals von Volker Lösch mit den Leuten vom Schauspielhaus. Eingestreut in die Krimis von Wolfgang Schorlau (der eigentliche S21-Krimi steht ja noch aus). Und sogar in Form eines wunderbaren Auftritts von Leonard Cohen in der Schleyerhalle mit dem Lied: „Anthem“, das der kanadische Poet und Sänger damals, am Tag nach dem „Schwarzen Donnerstag“, am 1. Oktober 2010, den Bäumen im Schlossgarten und dem Kampf gegen Stuttgart 21 widmete. Mit dem Refrain: „There is a crack in everything / that´s how the light gets in – immer gibt es einen Riss – einen Spalt – im Inneren / Durch ihn wird ein Lichtstrahl dringen.“[8]
Und hier komme ich zum LenkMal. Zur von Peter Lenk in den letzten zwei Jahren geschaffenen, gut zehn Meter hohen Skulptur, dem „schwäbischen Laokoon“, das LenkMal zum Thema Stuttgart 21. Als wir vor rund zwei Jahren darüber berieten – Peter Lenk in Bodman, Leute aus dem Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 und ich –, wie ein solches Projekt zustande kommen könnte und wie es eine Basisfinanzierung erhalten könnte, da war uns schon klar, dass für die Stadt-Oberen die schwäbische Maxime gilt: Mir gäbät nix. Jetzt, wo die Skulptur fertig ist, jetzt, wo 97 Prozent, genau 107.295 Euro der von uns zu stemmenden Summe von 110.000 Euro beisammen sind, jetzt wo 743 Menschen genau für diesen Zweck: ein LenkMal in Stuttgart, spendeten, damit dieses LenkMal ermöglichten, jetzt wo ein konkreter Platz in Stuttgart – am Stadtpalais – gefunden wurde, wo bereits die Statik geklärt ist und wo der Sockel gegossen werden soll … jetzt tönt es aus Kreisen dieser Stadtverwaltung nicht nur „mir gäbät nix“, sondern auch „mir nehmet vielleicht au nix“. So im Tenor: „Ha woisch, muess des jetzt au sei?“[9] Ja, ganz eindeutige Aussage: Das muss so jetzt sein! Am Stadtpalais! Und noch im Oktober! Und ja: 2020!
Schon klar: Unter „Kunst“ verstehen die Christlich-Schwarzen, die Sozi-Roten und die Kretsch-Kuhn-Grünen Leute hier in der Stadt vor allem „neutrale Kunst“. Oder kaum interpretierbare – dann: „abstrakte“ – Kunst. Oder verlogene Kunst, wie diese Installation im Schlossgarten vom letzten Sommer, bei der man angeblich ein Rosenstein-Viertel begehen konnte. Das darf dann auch heftig etwas kosten. Es darf die Steuerzahlenden viel kosten. Aber doch bitte keine politische Kunst? Dann noch gar zu Stuttgart 21?! Das hieße ja Kunst für politische Zwecke zu instrumentalisieren? Aber hallo!
Beethovens „Fidelio“ war durch und durch politisch! Gemünzt als Zustimmung zu den Werten der Französischen Revolution. Am 1. Januar 2020 wurde das mit der Premiere dieser Beethoven-Oper, inszeniert von Volker Lösch, an der Oper in Bonn nochmals deutlich gemacht. Pablo Picassos Gemälde „Guernica“ ist durch und durch politisch! Es war ein wichtiges Instrument im Kampf zur Verteidigung der demokratischen Republik, gegen die Faschisten von Franco und gegen die faschistische deutsche Legion Condor, die Guernica in Schutt und Asche legte.
Und selbstverständlich ist Lenks „Imperia“ in Konstanz politisch. Weswegen ja die Konstanzer Gemeinderäte und der Bischof in Freiburg einen wahren Veitstanz aufführten, auf dass die schöne Frau mit den zwei Schrumpel-Männchen, dem Papst und dem Kaiser, in ihren den Händen, wieder aus dem Hafen verschwinden möge. Doch sie steht jetzt seit einem Vierteljahrhundert dort. Und sie wurde zu einer Touristenattraktion – ich fuhr gestern wieder mit einem Bodensee-Schiff in Konstanz ein! – und zu einem Wahrzeichen für die Stadt am Bodensee.
Vergleichbares gilt für alle Lenk-Arbeiten. Und Vergleichbares könnte das LenkMal zu S21 hier in der Landeshauptstadt werden. Edzard Reuter hat dies in dem bereits angeführten Interview sehr klug auf den Nenner gebracht. Er sagte: „Lenk macht den Menschen, die das Sagen haben, klar: Nehmt Euch bloß nicht allzu ernst. Das ist eine zutiefst demokratische Aufforderung. Und das ist, zusammen mit seinem künstlerischen Potential, das zweifellos erheblich ist, beeindruckend.“ Und derselbe ehemalige Daimler-Chef, und dasselbe prominente SPD-Mitglied Edzard Reuter sagt dann direkt im Anschluss: „Wenn von oben versucht wird, Kritik und Satire totzuschweigen, dann schadet das der Allgemeinheit.“[10]
Wir demonstrieren hier seit mehr als zehn Jahren für den Erhalt der Bahn als öffentliche Daseinsvorsorge. Wir demonstrieren hier für den Stopp von Stuttgart 21 und für die Investition der frei werdenden Mittel in einen Ausbau dieser Bahn als Bürgerbahn. Wir demonstrieren seit fünf Jahren für Umstieg21, für die kreative Umnutzung der bereits erfolgten S21-Bauten. Wir werden in Kürze – als Antwort auf die neuen Verzögerungen und neuen Verteuerungen und neuen Verunmöglichungen von Stuttgart 21 – ein neues, ausgeklügeltes Konzept für die Umnutzung von Stuttgart 21 im Sinne einer klugen Güterlogistik vorlegen.
Walter Sittler sagte jüngst in der Stuttgarter Zeitung mit Blick auf das LenkMal: „Die eigene Position anhand von anderen Ansichten zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren – das ist ein Merkmal von Demokratie. Darum geht es bei diesem Kunstwerk. Darum gehört es nach Stuttgart.“[11]
In diesem Sinn – und das gilt auch für das LenkMal oben beim Stadtpalais – sagen wir:
Oben bleiben!
Anmerkungen:
[1] Edzard Reuter im Interview mit Susanne Stiefel, Stuttgart21 – ein politischer Skandal, in: KONTEXT 478 vom 27. Mai 2020.
[2] „Die Haramain High Speed Railway (HHR) gilt als eines der internationalen Vorzeigeprojekte der Deutschen Bahn. Es ist mit rund 50 Millionen Euro Volumen nicht nur der größte Einzelauftrag, den DB E & C jemals hereingeholt hat. HHR passt auch perfekt in die Strategie des neuen Bahnchefs Richard Lutz, der die Auslandsaktivitäten als Ausgleich für das schwächelnde Inlandsgeschäft des Staatskonzerns pflegen und ausbauen will. Deshalb fügte es sich für Lutz auch gut, dass seine erste Dienstreise im Kanzlertross nach Saudi-Arabien und in die Vereinigen Arabischen Emirate (VAE) führt.“ Bericht in: Handelsblatt vom 2. Mai 2017. Siehe: https://www.handelsblatt.com/unternehmen/dienstleister/deutsche-bahn-mit-tempo-300-nach-mekka/19734142.html
[3] Siehe ausführlich meine Analyse zur Lage der Deutschen Bahn (Titel: „Der stramme Marsch der Deutschen Bahn in den Schuldenturm“) auf den NachDenkSeiten vom 31. August 2020. Siehe: https://www.nachdenkseiten.de/?p=64260
[4] Gedächtnisprotokoll Tom Adler, Gemeinderat.
[5] „Das in Stuttgart stationierte Kommando der US-Streitkräfte für Afrika (Africom) hat in diesem Jahr 46 Luftangriffe auf Ziele in Afrika angeordnet. Das sagte General Stephan Townsend, Kommandeur der US-Truppen in Afrika, den Stuttgarter Nachrichten. […] Zum Anstieg der US-Einsätze bewaffneter unbemannter Flugzeuge in Afrika seit seinem Amtsantritt Ende Juli 2019, betonte der Vier-Sterne-General, diese Zahl sei ´sehr niedrig´ und zog den Vergleich: ´ Als ich den Islamischen Staat im Irak und in Syrien bekämpfte, habe ich täglich 46 solcher Schläge geführt.´“ Nach: Stuttgarter Nachrichten vom 8. September 2020. Hintergrundbericht zur US-Army in Stuttgart Vaihingen und Möhringen siehe: Siehe Jürgen Lessat, Gegenspionage zwecklos, KONTEXT 140 vom 4. Dezember 2013.
[6] Zeitschrift: Die Grünen, 3. Ausgabe vom 26. November 1979, Seite 1. Anstelle des Wortes „Russland“ hieß es dort jeweils: „Sowjetunion“.
[7] Vgl. zum Beispiel die Wuppertaler Rede von Heinrich Böll vom 24. September 1966, in der es heißt: „Widerstand ist ein Freiheitsrecht.“
[8] Leonard Cohen zitiert in: Winfried Wolf, abgrundtief + bodenlos, Stuttgart21, sein absehbares Scheitern und die Kultur des Widerstands, Köln 2018 (3. Auflage), Kapitel VIII.
[9] Zum exakten Stand der Kampagne siehe: www.lenk-in-stuttgart.de
[10] Siehe Fußnote [1]
[11] Eberhard Wein, Kommt das Satire-Kunstwerk nach Stuttgart?, in: Stuttgarter Zeitung vom 28. August 2020. Siehe: https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.satire-zum-tiefbahnhof-kommt-das-lenk-denkmal-nach-stuttgart.c0fb033b-941c-452a-94ad-938a052649ad.html
Rede von Winfried Wolf als pdf-Datei