Rede von Dieter Reicherter, Vorsitzender Richter am Landgericht a.D., auf der 521. Montagsdemo am 20.7.2020
Liebe Freundinnen und Freunde,
„Es war einmal“. So fangen alle Märchen an. Heute geht es um das Märchen von der Sicherheit des Brand- und Katastrophenschutzes in den fast 60 km Tunneln von Stuttgart 21. Und dabei fiel mir spontan das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern ein. Ihr wisst, der Kaiser wurde von Betrügern hereingelegt und spazierte nackt durch die Gegend. Niemand traute sich etwas zu sagen, bis ein kleines Kind den Schwindel aufdeckte.
In unserem Fall geht es um die Vortäuschung, Leben und Gesundheit der Menschen seien bei S21 sicher. Und aufgedeckt haben den Schwindel die wackeren Ingenieure22. Sie haben sich durch zwei Instanzen bis zum Verwaltungsgerichtshof in Mannheim die Einsicht in geheim gehaltene Unterlagen der Projektgesellschaft Stuttgart-Ulm zum Brandschutz in den S21-Tunneln erkämpft. Weil ihnen das Anfertigen von Kopien verweigert wurde – angeblich aus Furcht, dass sie ihr Wissen an Terroristen weitergeben –, haben sie tapfer Buchstaben um Buchstaben abgeschrieben und Strich um Strich die Abbildungen übertragen.
War diese Arbeit schon mühselig genug, so haben sie sogar das Simulationsprogramm gekauft, mit welchem die Firma Gruner AG das Brandschutzkonzept überprüft und gebilligt hatte. Und am Ende der schwierigen und langwierigen Auswertung fiel es ihnen wie Schuppen von den Augen: Die Bahn steht nackt da. Das Brandschutzkonzept ist völlig untauglich. Es gefährdet Leib und Leben der Bahnreisenden und Bahnbeschäftigten, aber auch der Feuerwehren und Rettungskräfte.
Man hätte für den schlimmsten vorhersehbaren und nicht ganz unwahrscheinlichen Fall vorsorgen müssen. Die Bahn hat aber beschlossen, die Wahrscheinlichkeit eines Zugbrandes im Tunnel sei sehr gering und die Betrachtung dieses schlimmsten Falles „nicht zielführend“.
Dann hat man in geradezu grenzenlosem Optimismus für die verbleibenden nicht so schlimmen Fälle bei allen Einzelpunkten jeweils die günstigste Annahme zu Grunde gelegt. Das widerspricht natürlich völlig den Anforderungen an eine sicherheitsbewusste Planung und Ausführung.
Spätestens seit dem Brand in der Nähe von Montabaur wissen wir, dass auch ein ICE brennen kann. Das hatte die Bahn immer bestritten. Der brennende Zug blieb glücklicherweise auf freier Strecke liegen. Trotzdem dauerte die Evakuierung von 500 Menschen 45 Minuten. Und die Behauptung der Deutschen Bahn, sollte ein Zug im Tunnel in Brand geraten, fahre er einfach weiter bis zum Tunnelende oder in den Tiefbahnhof, stimmt natürlich nur, wenn der Zug noch fahrfähig bleibt und der Brand sich langsam genug entwickelt. Kurzum: Man muss leider auch den Fall einplanen, dass ein brennender Zug im Tunnel liegen bleibt.
Aber dabei verlässt sich die Bahn lieber auf Computerprogramme als auf ihre Erfahrungen aus Übungen und Unglücken. Ihr Rettungskonzept geht davon aus, dass 1757 Menschen – so viele können nämlich in einem vollen Zug sein – sich im Brandfall innerhalb von 15 Minuten selbst retten können oder zumindest durch Hilfe von außen gerettet werden können. Und die zweite Annahme ist, dass 15 Minuten für eine Rettung zur Verfügung stehen. Allerdings hat die Bahn nicht überprüft, ob im Brandfall die Menschen nicht schon vor Ablauf der 15 Minuten verbrannt oder erstickt sind.
Das erste Prinzip nennt man Selbstrettung nach dem Motto „Hilf dir selbst, so hilft dir Gott“. Was natürlich gut passt, weil bekanntlich Gottes Segen auf Stuttgart 21 ruht. Wer sich trotzdem auf Feuerwehr und Rettungskräfte verlassen will, der hofft auf die Fremdrettung.
Dazu gab es eine Brandschutzübung im Fleckbergtunnel mit 300 zu rettenden Menschen und über 1000 Rettungskräften. Bei dieser Übung ging man davon aus, dass nur 80 % der Zuginsassen sich selbst würden retten können. Übertragen auf Stuttgart 21 würde dies bedeuten, dass 20 % von 1757 Menschen, also mehr als 350, sich aus einem Flammeninferno nicht würden selbst retten können.
Unbeirrt davon räumt das Computerprogramm in genau 2 Minuten den Zug. Von einem Unglück im Landrückentunnel, bei dem ein ICE in eine Schafherde raste, wissen wir, dass nach dem Unfall im Zug die Innenbeleuchtung ausfiel und viele heruntergefallene Koffer die Gänge versperrten. Und was ist, wenn in der Dunkelheit nicht nur Gepäckstücke, sondern auch Verletzte und Tote herumliegen? Auch Behinderte, Alte und Kinder müssen aus einer Höhe der geöffneten Türen von gut 90 cm nach unten auf den Tunnelboden klettern oder springen, denn so schnell können die ohnehin zu wenigen Rettungsleitern nicht angebracht werden.
Dann müssen die Menschen zum nächsten Querschlag flüchten. So nennt man die Verbindungswege von einer Tunnelröhre in die andere im Abstand von 500 Metern. Rettung ist nur über die nicht vom Unglück betroffene Röhre möglich. Diese nennt man sichere Röhre. Leider hat man den nicht unwahrscheinlichen Fall vergessen, dass der Weg zum nächsten Querschlag versperrt ist. Das passiert bei einem entgleisten Zug oder wenn eine Fluchtrichtung durch den Brand und die entstehenden tödlichen Gase ausgeschlossen ist. Dann ist der Fluchtweg mit bis zu 500 Metern doppelt so lang als berechnet.
Ohne Begründung wird einfach die Fluchtgeschwindigkeit doppelt so hoch angesetzt wie im technischen Regelwerk vorgesehen. Und das auf einem nur 120 cm breiten Fluchtweg, der an einzelnen Engstellen auf bis zu 60 cm eingeschränkt ist. Wir wissen, dass die Langsamsten das Tempo bestimmen und nicht überholt werden können.
Wenn die Menschen die Querschläge erreicht haben, sind sie aber noch längst nicht gerettet. Denn um in die sichere Röhre zu kommen, müssen sie eine Schleuse passieren. Diese soll verhindern, dass der tödliche Rauch von der sogenannten Ereignisröhre in die sichere Röhre übertreten kann. Leider passen nur 100 Menschen in die Schleuse. Im Extremfall müssen die anderen 1657 Menschen im verrauchten Tunnel warten. Das Passieren der Schleuse dauert für 100 Menschen eine Minute, wenn alles funktioniert.
Denn die Schleusentür in die sichere Tunnelröhre kann erst geöffnet werden, wenn dort kein Zug mehr fährt. Und weil Feuerwehr und Rettungskräfte nur durch diese sichere Röhre zum Unglücksort gelangen können, müssen vorher alle Züge aus der Röhre gefahren werden. Erst danach kann der Strom abgeschaltet und die Oberleitung im Tunnel geerdet werden. Vorher darf die Feuerwehr gar nicht tätig werden. Und vor der Ausfahrt aller Züge können die Menschen aus der gefährlichen Röhre auch nicht in die sichere wechseln. Also hoffen wir, dass sich der Brand danach richtet. Denn diese Zeit hat man einzurechnen vergessen.
Vergessen hat man aber auch, dass sich der tödliche Rauch im schlimmsten Fall innerhalb von drei Minuten über den gesamten Fluchtweg ausbreitet und keine 15 Minuten für die Rettung bleiben.
Die Projektgesellschaft Stuttgart-Ulm und andere Angeschriebene haben auf einen Brief der Ingenieure22 mit Fragen zu diesen und vielen weiteren Mängeln nicht reagiert. Deshalb haben wir uns entschlossen, einen juristisch begründeten Antrag an das Eisenbahnbundesamt als zuständige Planfeststellungsbehörde zu richten.
Dieser Antrag ist in einer intensiven Zusammenarbeit von Ingenieuren und Juristen entstanden. Wir haben auf 20 Seiten mit 10 Anlagen entsprechend den rechtlichen Vorschriften die Planungsmängel gerügt und das Eisenbahnbundesamt aufgefordert, in einem nachträglichen Verfahren für die Behebung der Mängel zu sorgen. Sollte dies jetzt nicht mehr möglich sein, müssten sogar die Planfeststellungsbeschlüsse aufgehoben werden.
Alle Unterlagen könnt Ihr selbst nachlesen unter www.kopfbahnhof-21.de im Internet.
Das Eisenbahnbundesamt hat nämlich die Prüfung des Brandschutzes entgegen seinen eigenen Richtlinien verschoben bis zur Inbetriebnahme des Projekts. Es hätte aber schon bei den Planfeststellungsverfahren prüfen müssen, welche baulichen Maßnahmen für einen wirksamen Brand- und Katastrophenschutz nötig sind. Diese hätten dann schon in den Planfeststellungsbeschlüssen festgelegt werden müssen. Denkbar wären zum Beispiel wesentlich kürzere Abstände der Querschläge, damit die Fluchtwege kürzer sind. Zu fordern ist aber entsprechend dem heutigen Stand der Technik eine dritte Tunnelröhre, in die man sich von beiden Röhren aus schnell retten kann. Eine dritte Röhre ist nichts Neues. Zum Beispiel hat auch der Eurotunnel von 1994 zwischen Frankreich und England eine solche.
Wie Ihr wisst, dauern juristische Verfahren lange. Wir können also nicht erwarten, dass in kurzer Zeit über unseren Antrag entschieden wird. Jedenfalls ist es aber ein Hebel, um notfalls im Klageweg die Berücksichtigung der Grundrechte auf Leben und Gesundheit durchzusetzen.
Das Schlimmste ist, dass alle Erkenntnisse für die Bahn nicht neu sind und sie diese verheimlicht hat. Denn in einem Protokoll des Arbeitskreises Brandschutz steht wörtlich, man wolle die Ergebnisse der Simulation „auf keinen Fall veröffentlichen“. Und ausdrücklich wird vorgeschlagen, die Probleme nicht im Gemeinderatsausschuss vorzutragen. Schließlich lehnt die Bahn auch noch die Forderung der Branddirektion nach einem zwingenden einheitlichen Notfallmanagement für Tiefbahnhof, S-Bahn-Haltestelle und Klettpassage rundweg ab.
Der Spiegel hat über unseren Vorstoß berichtet. Auf seine Nachfrage hat das Eisenbahnbundesamt wahrheitsgemäß erklärt, dass die von den Ingenieuren22 untersuchte und für untauglich befundene Simulation nicht Gegenstand der Planfeststellung gewesen sei. Demgegenüber hat die Deutsche Bahn wahrheitswidrig behauptet, das Eisenbahnbundesamt habe ihr Brandschutzkonzept umfassend geprüft und genehmigt.
Es zeichnet sich ab, dass die Bahn die Probleme nicht in den Griff bekommt und Stuttgart 21 niemals wird in Betrieb gehen können. Dann werden viele Milliarden Euro unnütz versenkt sein. Um das zu verhindern und das Geld der Steuerzahler und der Bahnkunden nicht weiter zu verschleudern, haben wir uns auch an den Präsidenten des Bundesrechnungshofs gewandt und eine Sonderprüfung durch diese unabhängige Behörde angeregt.
So hat das Märchen bisher kein Happy End, aber schon mal die tröstliche Aufforderung:
Oben bleiben!
…..eine Sonderprüfung des Bundesrechnungshofs?
Der zahnlose Tiger im Verein der Berliner Geldverschwender wird sich hüten eine öffentliche Aussage zu machen.
Dazu ist er Gesetzeskonform sogar verpflichtet!!!
Die technische Prüfung des Brandschutzes obliegt allein dem EBA. Dieses Amt hat die Aufgabe alles durchzuwinken, was von staatlich unterstützter Lobbygesellschaft -genannt „Obrigkeit“- ohne wenn und aber gewünscht wird. Leider fehlte bislang der „denkende“ Überblick……was sich allerdings auch ab den nächsten Wahljahr nur sehr schwer vorstellbar ist.