Pressemitteilung des Aktionsbündnisses gegen S21 vom 4.7.2020
Unglaubliche Mängel beim Brandschutz können das Mega-Projekt zu Fall bringen
Brandschutz: Damoklesschwert über Stuttgart 21
Die komplette Planfeststellung von Stuttgart 21 steht aufgrund kapitaler Mängel beim Brandschutz grundsätzlich infrage. Das ist die Quintessenz eines umfangreichen Antrags des Aktionsbündnisses an das Eisenbahnbundeamt (EBA) als Genehmigungsbehörde. Der auf rechtliche Konsequenzen ausgerichtete Vorstoß, verfasst von Bündnissprecher und Rechtsanwalt Dr. Eisenhart von Loeper und dem Vorsitzenden Richter am Landgericht a.D. Dieter Reicherter basiert auf umfangreichen Recherchen der Fachgruppe Ingenieure22, die die Preisgabe bahninterner Unterlagen zum Brandschutz zuvor in einem langwierigen Rechtsstreit gegen die DB erzwungen hatte.
Der Antrag fordert zunächst, dass in einem die Planfeststellung ergänzenden Verfahren der Nachweis des Brand- und Katastrophenschutzes schon vor der baulichen Fertigstellung der Tunnel er-bracht wird. Es sei ein „rechtswidriger Verwaltungsakt“, so der Antrag, dass der Brandschutz bei der Planfeststellung ausgelagert wurde, somit die DB AG erst nach Fertigstellung der Strecken vor deren Inbetriebnahme aufzeigen müsse, dass ihr Konzept funktioniert. Dies widerspreche auch den EBA-eigenen Tunnelrichtlinien.
In der Brandschutzsimulation, auf die sich die Planfeststellung stützt, konnten massive Fehler und Manipulationen nachgewiesen werden. So wurde u.a. von völlig wirklichkeitsfremden Rettungszeiten ausgegangen. Unterstellt wird, dass zur Evakuierung von 1757 Menschen 15 Minuten ausreichen und diese Zeit auch tatsächlich zur Verfügung steht. Die Annahme, dass sich der bei einem Zugbrand im engen S21-Tunnel freigesetzte Brandrauch nur so langsam ausbreitet, wurde aber nicht hinterfragt. Tatsächlich breitet er sich mit 2,5 – 3 m/s aus – das ist etwa vier- bis fünfmal so schnell wie die mögliche Fluchtgeschwindigkeit der Menschen. Die Flüchtenden werden schon nach drei Minuten vom toxischen Rauchgas eingeholt und kommen darin zu Tode, bevor die Rettungsstollen erreicht werden können. Das Todesrisiko liegt je nach Brandsituation wegen der viel zu langen Entfluchtungszeit bei bis zu 100%!
Doch auch die Annahme, eine Evakuierungszeit von 15 Minuten eiche aus, ist fehlerhaft und ignoriert praktische Erkenntnisse. Erst jüngst dauerte beim ICE-Brand Nähe Montabaur die Rettung von ca. 500 Menschen 45 Minuten - auf freier Strecke. Dass im Tunnel sich die Menschen erst in die zweite „sichere“ Röhre retten können, wenn in dieser der Zugverkehr eingestellt wurde, hat die Simulation ebenso „vergessen“ wie ein technisches Regelwerk, das als Schrittgeschwindigkeit der Fliehenden von nur knapp der Hälfte des in der Simulation angesetzten Werts ausgeht. Auf den ohnehin zu engen Fluchtwegen (120 cm, teilweise nur 60 cm Breite) bestimmen die Langsamsten das Tempo und können nicht überholt werden
Unterstellt wird auch, dass ein brennende ICE besonders günstig, nämlich mittig zwischen 2 Rettungsstollen (Abstand 500 m) zum Stehen kommt. Ignoriert wird aber, dass der nächstliegende Rettungsstollen durch aufsteigende Rauchentwicklung oder den brennenden Zug selbst versperrt sein könnte. Die Ausstiegshöhe von den Zugtüren zu den Fluchtwegen beträgt über 90 cm, zu viel für Kleinkinder, Alte und Behinderte. Völlig illusionär ist, dass Zugbegleiter alle 4 in den Decken des ersten und letzten Wagens installierten Trittleitern so schnell in Position bringen, dass alle 1.757 Menschen innerhalb von 2 Minuten ausgestiegen sind.
„Vor allem sind wir fassungslos über die mangelhafte Aufsicht und Überprüfung durch das Eisenbahnbundesamt unter Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer und die Verantwortungslosigkeit der zur Kontrolle berufenen Entscheidungsträger nicht nur im Bund und bei der Deutschen Bahn AG, sondern auch des Landes Baden-Württemberg und der Stadt Stuttgart“, so von Loeper und Reicherter.
Angesichts des vorgerückten Stands des Bahnprojekts und des Ausmaßes der festgestellten Mängel geht der von mehreren weiteren Betroffenen mitgezeichnete Antrag jedoch davon aus, dass diese Defizite, anders als beim Berliner Großflughafen BER, nicht mehr durch eine Planergänzung behoben werden können (z.B. durch den Bau einer dritten Röhre), so dass die zugrunde liegenden Planfeststellungsbeschlüsse gemäß § 75 Abs. 1 a Satz 2 VwVfG ganz aufzuheben sind.
Schlägt das EBA sehr gut begründete Warnungen ähnlich in den Wind, wie es die BaFin im Falle des Betrugsfalls wirecard tat, so gehen von Loeper und Reicherter von einer fatalen Alternative aus: Entweder werden, wenn S21 trotz allem in Betrieb ginge, auf lange Sicht Leben und Gesundheit vieler Menschen auf Spiel gesetzt. Dies würde eine massive Missachtung des grundgesetzlich gebotenen Schutzes von Leib und Leben darstellen. Oder S21 kann nach vielen Jahren Bauzeit und Milliarden-Investitionen wegen kapitaler Mängel des Brandschutzes nicht in Betrieb genommen werden. Das wäre eine skandalöse Veruntreuung von Steuergeld, so die beiden Juristen. Deswegen hat das Aktionsbündnis seine Informationen und den EBA-Antrag auch dem Präsidenten des Bundesrechnungshofs zugänglich gemacht, sowie heute per Fax an die maßgeblich für Stuttgart 21 zuständigen Politiker*innen geschickt.