Rede von Gottfried Ohnmacht-Neugebauer auf der 505. Montagsdemo[1] am 16.3.2020
„Bei näherem Zusehen jedoch zeigt sich erstaunlicherweise, daß man der Staatsräson jedes Prinzip und jede Tugend eher opfern kann als gerade Wahrheit und Wahrhaftigkeit.“ (Hannah Arendt)
In letzter Zeit erreichen uns Krisenmeldungen aus allen Ecken und Enden der Welt. Die eine oder andere Krise schwappt zu uns herüber, so wie jetzt gerade die durch den neuartigen Corona-Virus ausgelöste Epidemie, die uns zwingt, unser Verhalten zu ändern. Gerne hätte ich Sie (bzw. Euch) heute getroffen und direkt mit Ihnen gesprochen, ich freue mich, dass wir wenigstens über das Internet miteinander kommunizieren können.
Unter vielen mehr oder weniger erschreckenden Meldungen und Nachrichten der letzten Tage gab es ein Zeitungs-Bild[2], das mich besonders betroffen gemacht hat: Es stammt von der griechischen Insel Lesbos und zeigt eine Frau mit einem Kind an der Hand, die etwas verloren auf einem Berg von weggeworfenen Schuhen steht.
Woher die Schuhe kommen, können wir uns denken: denn es gibt zahlreiche Berichte über Grenztruppen, die Menschen, die vor Krieg, Hunger und Bombenterror geflohen sind, mitten im Winter nicht nur die Handys, sondern auch die Schuhe wegnehmen. Europa empfängt Schutzsuchende mit Tränengas, mit Schlägen, mit Terror und mit der Verletzung grundlegender Rechte.
Gegen das Corona-Virus können wir uns glücklicherweise relativ gut schützen. Wir sollten aber auch an die Leute denken, die der Pandemie im Zweifelsfall schutzlos ausgesetzt sein werden, beispielsweise weil sie in völlig überfüllten Flüchtlingslagern leben müssen und nicht einmal die Möglichkeit haben, sich mit fließendem Wasser ordentlich die Hände zu waschen.
Es ist jetzt wirklich an der Zeit, die Leute dort in Griechenland aus der völlig unerträglichen Lage zu befreien und die überfüllten Flüchtlingslager zu evakuieren. Das wäre vielleicht sogar wichtiger als das zweite Thema, über das ich heute kurz sprechen möchte: Vor einiger Zeit habe ich zufällig eine Bundestagsdebatte zu Stuttgart 21 gehört. Da stellte sich also ein CDU-Abgeordneter ans Rednerpult und verkündete im Brustton der Überzeugung, dass der geplante S21-Tiefbahnhof die Voraussetzung dafür sei, dass in Stuttgart der Deutschlandtakt verwirklicht werden könne. Mir hat es total die Sprache verschlagen.[3]
Dabei hatte ich eigentlich gleich vermutet, dass der Abgeordnete sich dies nicht selbst ausgedacht haben konnte. So viel Kreativität und so viel Phantasie kann man von einem Politiker nun wirklich nicht erwarten, und tatsächlich stammt die ebenso forsche wie falsche Behauptung denn auch aus der Feder eines Sprechers der Deutschen Bahn.[4]
Ich habe versucht, dem Abgeordneten Donth in einfachen Worten zu erklären, wie ein Taktverkehr funktionieren würde: Zuerst kommen die Regionalzüge an, dann die Schnellzüge, dann stehen alle Züge gleichzeitig im Bahnhof, damit alle Fahrgäste umsteigen und einen optimalen Anschlusszug erreichen können, dann fahren zuerst die Schnellzüge und danach die Regionalzüge wieder ab.
In Stuttgart gibt es 8 wichtige Regionalzüge:
- Karlsruhe
- Heidelberg
- Heilbronn, Würzburg
- Backnang, Schwäbisch Hall-Hessental, Crailsheim, Nürnberg
- Aalen
- Geislingen, Ulm
- Nürtingen, Reutlingen, Tübingen
- Horb, Singen
und 6 wichtige Fernzüge:
- Karlsruhe, Paris
- Mannheim, Frankfurt Flughafen, Köln
- Frankfurt (M), Berlin
- Nürnberg
- Ulm, München
- Singen, Zürich
Also benötigt man mindestens 14 Gleise – besser noch zwei zusätzliche Ersatzgleise – und damit ist der Stuttgarter Kopfbahnhof mit seinen immer noch vorhandenen 16 Gleisen optimal geeignet, einen Taktverkehr zu ermöglichen.
Nun ist Architektur aber wichtig, und jede Stadt, die etwas auf sich hält, hat ein bedeutendes Bauwerk: Ulm zum Beispiel hat den höchsten Kirchturm der Welt, Berlin hat einen Flughafen – den Berliner Flughafen BER, der seit ca. 10 Jahren eingeweiht wird – und Köln hat einen Bahnhof.
Ja, es stimmt, Köln hat auch einen Dom, aber der Bahnhof von Köln ist so einzigartig, dass ich vermute, er könnte eine Art Blaupause für Stuttgart 21 gewesen sein: Köln liegt bekanntlich im Rheintal, dort wo es topfeben ist, aber der Kölner Bahnhof ist nicht nur zu klein, nein, er liegt auch in der schiefen Ebene. Was dazu führt, dass es immer wieder zu Unfällen durch wegrollende Züge kommt.
Was aber Stuttgart betrifft, Stuttgart toppt alle: Stuttgart hat nicht nur einen Fernsehturm, höher als das Ulmer Münster, Stuttgart hat ein Verkehrsprojekt, das wesentlich mehr kostet als der BER,
und an dem voraussichtlich noch gebaut werden wird, wenn der BER wider Erwarten eines Tages fertig eingeweiht worden sein sollte, und Stuttgart hat sogar einen funktionierenden acht-gleisigen Durchgangsbahnhof, nämlich den Vorortbahnhof in Bad Cannstatt!
Das Einzige, was Stuttgart noch fehlt, ist ein zu kleiner Bahnhof mit einem zu großen Gleisgefälle. Aber wir sind ja lernfähig. Stuttgart holt mächtig auf. Mit S21 bekommen wir sogar einen zu viel zu kleinen Keller-Bahnhof mit einem viel zu großen Gleisgefälle!
Wer Köln kennt, der weiß, dass in dem zu kleinen Kölner Hauptbahnhof manchmal zwei Züge auf dem gleichen Gleis einfahren müssen. Das führt dann regelmäßig dazu, dass ein Gerenne und ein Geschiebe entsteht. Die Reisenden sind verunsichert: „Steht mein Zug denn nun vorne oder hinten?“ Dass zwei Züge hintereinander auf einem Gleis stehen und womöglich auch noch in verschiedene Richtungen fahren, das ist keine Lösung eines Verkehrsproblems, sondern höchstens eine Notlösung, ein Notbehelf.
Und genau mit diesem Notbehelf will die Bahn in Stuttgart den Deutschlandtakt verwirklichen: 8 Gleise mit je 2 Zügen, das sind insgesamt 16 Züge und damit sei der Taktverkehr möglich. Das behauptet die Deutsche Bahn, und der verkehrspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion schreibt es brav ab.
Es ist wirklich bemerkenswert, wie jemand die Chuzpe, die Dreistigkeit, aufbringen kann zu behaupten, ein mangelhaft geplanter 8-gleisiger Durchgangsbahnhof wäre die Voraussetzung dafür, einen Taktverkehr zu ermöglichen, wenn bereits ein 16-gleisiger funktionierender, leistungsstarker, erprobter, umsteigegerechter und barrierefreier Kopfbahnhof zur Verfügung steht.
Neuerdings gibt es jedoch immer mehr Leute, die völlig überraschenderweise erkannt haben, dass die Leistungsfähigkeit des geplanten Kellerbahnhofs auf keinen Fall ausreicht; und denen – wie zum Beispiel unserem Verkehrsminister Winne Hermann – plötzlich wieder eingefallen ist, dass hier im Stadtzentrum von Stuttgart mit S21 ein künstlicher Engpass betoniert werden soll. Deshalb entwickeln sie allerlei Verbesserungen: nicht nur ein zusätzliches Gleis´chen oder zusätzliche Zulaufstrecken, sie plädieren sogar für einen zweiten zusätzlichen unterirdischen „Schrumpfbahnhof“ mit drei oder vier Gleisen oder für den Teilerhalt des Kopfbahnhofs. An die sinnvollste, naheliegendste und günstigste Lösung jedoch, nämlich an die Möglichkeit, den hervorragenden, vorhandenen Kopfbahnhof zu erhalten, wagen sie aber anscheinend nicht im Entferntesten zu denken.
Deshalb gilt: egal ob online oder offline: Wir werden unsere Proteste wohl noch eine Weile fortsetzen müssen!
Oben bleiben!
[1] ab 16.3.2020 wegen Corona-Pandemie jeweils Montags, 18 Uhr, online: https://tinyurl.com/yx2etbs9
[2] https://taz.de/picture/4028325/948/Griechenland-Fluchtlinge-1.jpeg
Der entsprechende Zeitungsartikel: https://taz.de/Spannung-an-griechisch-tuerkischer-Grenze/!5667618&s=griechenland/
[3] Die Bundestagsdebatte vom 17. Oktober 2019 kann hier nachgehört werden. Die Rede von Michael Dondt, dem verkehrspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, auf die ich mich beziehe beginnt ungefähr ab 4 Minuten 50 Sekunden): https://www.youtube.com/watch?v=GvV5O5tUa5E
[4] Die ganz offensichtlich falsche Behauptung findet sich in einem Papier Herrn Thorsten Krenz, DB-Bevollmächtigter für Baden-Württemberg, vom 16.07.2019)
http://ingenieure22.de/cms/images/bahntechnik/itf/DB-Vortrag-Krenz-S21-D-Takt-GR_2019-07-16.pdf
Die Stellungnahme der Ingenieure22 dazu, findet sich hier:
http://ingenieure22.de/cms/index.php/briefe-cat/231-ob-th-krenz-2019-07-25
An dieser Stelle ist ein großer Dank fällig. Wenn uns etwas gegen die unglaublichen Lügen der Projektbefürworter von Stuttgart 21 immunisiert, dann ist es die akribische, zähe und ausdauernde Arbeit unserer Ingenieure22 und unserer Experten.