Rede von Karlheinz Rößler, Verkehrsberater, auf der 497. Montagsdemo am 13.1.2020
Liebe Freundinnen und Freunde des Stuttgarter Kopfbahnhofs,
Stuttgart 21 ist bekanntlich nicht das einzige Großprojekt, das verkehrlich unsinnig und klimaschädlich ist und zugleich eine gigantische Verschwendung von Steuergeldern darstellt. Die Zahl dieser Unsinnsprojekte ist weltweit kaum überschaubar. Auf zwei derartige Vorhaben, beide östlich von Stuttgart gelegen, will ich nun Eure Aufmerksamkeit lenken: Es handelt sich zum einen um den in München geplanten zweiten S-Bahn-Tunnel und zum anderen um die Neue Seidenstraße zwischen China und Europa.
Beide Vorhaben sind eigentlich Geschichten aus dem Tollhaus. Ehrliche und mit Vernunft begabte Menschen können sich solche irrsinnigen, betrügerischen Projekte gar nicht ausdenken. Aber nun der Reihe nach:
Zweiter S-Bahn-Tunnel in München
Dieses Großprojekt hat offiziell die Bezeichnung „2. Stammstrecke in München“, aber heißt umgangssprachlich „Zweiter S-Bahn-Tunnel“ oder einfach nur „Zweite Röhre“. Die Planungen für dieses Projekt begannen um das Jahr 1990, so dass man 2020 das 30-jährige Planungsjubiläum feiern kann, aber ohne dass mit den eigentlichen Tunnelbauarbeiten überhaupt begonnen wurde.
München hat bekanntlich sieben S-Bahn-Linien, die alle die seit 1972 bestehende Stammstrecke zwischen Donnersbergerbrücke und Ostbahnhof benutzen. Wegen der immer weiter zunehmenden Fahrgastzahlen – auf den Außenstrecken, aber nicht in der Innenstadt – wurde auf einzelnen Linien das Angebot bis hin zum 10-Minuten-Takt verdichtet. Das ursprüngliche Ziel war es, den 10-Minuten-Takt auf allen sieben Linien einzuführen. Aber hierfür reicht die vorhandene Stammstrecke mit ihren beiden Gleisen und den nur zweigleisigen Zwischenbahnhöfen nicht aus, denn dichter als im 2-Minuten-Abstand können die S-Bahn-Züge einander nicht folgen, weil sonst die Mengen der aus- und einsteigenden Fahrgäste am Hauptbahnhof und Marienplatz gar nicht zu bewältigen wären.
So fahren im Stoßverkehr jede Stunde bis zu 30 Züge pro Richtung, aber benötigt würden eigentlich 42 Züge, wenn alle sieben Linien im 10-Minuten-Takt bedient würden. Das sind also 12 Züge pro Stunde und Richtung zuviel für den heutigen S-Bahn-Tunnel. Um dies zu ändern, verfiel man bei der Deutschen Bundesbahn bzw. der DB AG auf die Idee, parallel zur bestehenden S-Bahn-Strecke eine zweite Trasse von zehn Kilometer Länge, davon sieben Kilometer unterirdisch, mitten durch die Stadt zu bauen. Diese neue Strecke soll – anders als die alte – nicht schon im Ostbahnhof enden, sondern noch weiter östlich am Leuchtenbergring.
Der zweite S-Bahn-Tunnel soll aus zwei getrennten Röhren bestehen und wegen der extremen Tieflage eine dritte Röhre als Flucht- und Rettungsstollen erhalten, weil sonst für die Fahrgäste kein Entkommen im Katastrophenfall möglich wäre. Dagegen liegen im alten Tunnel beide Streckengleise in einer gemeinsamen Röhre, die wegen der geringen Tiefe von meist nur zehn Metern leichter zu evakuieren ist.
Doch viel naheliegender als ein neuer Tieftunnel wäre es gewesen, die bestehende oberirdische Eisenbahnstrecke südlich des Münchner Stadtzentrums, den sogenannten Südring, von Laim bis Ostbahnhof für die zusätzlichen S-Bahn-Züge zu ertüchtigen. Denn auf fast fünf Kilometer Länge besitzt diese Strecke bereits vier bis fünf Gleise und auf drei Kilometer Länge sind es zwei Gleise, die problemlos auf vier Gleise ausgeweitet werden könnten. Doch in mehreren Gutachten mit vermutlich manipulierten Zahlen wurde vorgerechnet, dieser kurze Südring-Ausbau an der Oberfläche sei wesentlich kostenaufwendiger als der Bau einer neuen zehn Kilometer langen 2-Gleis-Strecke, davon sieben Kilometer tief unter der Erde. Rein logisch und ökonomisch ist das barer Unsinn!
Und dieser Unsinnstunnel wird zusätzlich mit einem zweiten falschen Argument begründet: Das fast 50 Jahre alte Münchner S-Bahn-System sei für lediglich 200.000 Fahrgäste konzipiert, aber inzwischen würde es von rund 800.000 Menschen pro Werktag benutzt. Deshalb sei das System überlastet. Doch die Gleise der S-Bahn sind für eine bestimmte Zugzahl bemessen, aber nicht für eine bestimmte Anzahl von Menschen. Denn bei der S-Bahn-Strecke handelt es sich bekanntlich nicht um einen Fußgängertunnel, in dem nur eine begrenzte Anzahl von Menschen Platz haben, sondern um eine Bahnstrecke, die eine bestimmte Zugzahl als Obergrenze hat, nämlich die schon genannten 30 Züge pro Stunde und Richtung.
Geht man davon aus, dass jeder Münchner S-Bahn-Zug aus drei Einheiten (= ein Langzug) besteht, so kann ein solcher Zug über 1.600 Personen fassen. 30 Züge in beiden Richtungen zusammen könnten also pro Stunde fast 100.000 Fahrgäste transportieren. Innerhalb der acht Stunden mit dem höchsten Fahrgastaufkommen hätten die Züge allein auf den beiden Gleisen des alten, vier Kilometer langen Tunnels rein theoretisch Platz für rund 800.000 Fahrgäste täglich. Das sind ebenso viele wie die genannten 800.000 Fahrgäste, die heute im gesamten S-Bahn-Netz unterwegs sind und sich somit auf eine Netzlänge von über 400 Kilometer verteilen, das Hundertfache des kurzen S-Bahn-Tunnels. Übrigens wird in München von der Möglichkeit, die aus drei Teilen bestehenden Langzüge einzusetzen, sogar zu den Spitzenzeiten fast nie Gebrauch gemacht.
Das alte S-Bahn-System hat also noch viel „Luft nach oben“, von einer Überlastung kann keine Rede sein, zumal die Ein- und Aussteigerzahl in der Innenstadt rückläufig ist, weil hier immer mehr Arbeitsplätze und bezahlbare Wohnungen verschwinden. Dagegen nimmt die Fahrgastzahl auf den Außenästen ständig zu. Zugleich gibt es sieben S-Bahn-Außenstrecken, die immer noch 1-gleisig sind, und sieben weitere Außenäste haben zwar zwei Gleise, doch diese müssen sich die S-Bahn-Züge mit Regional-, Fern- und Güterzügen teilen. Hier liegen also die tatsächlichen Engpässe, aber nicht im Stadtzentrum. Aber die Beseitigung dieser Missstände außerhalb der Stadt München durch den Bau des fehlenden zweiten Streckengleises oder von separaten S-Bahn-Gleisen statt Mischverkehr steht gar nicht auf der Tagesordnung!
Ursprünglich waren für den zweiten Tunnel sechs unterirdische Bahnhöfe vorgesehen, alle relativ flach unter der Erde. Das ganze Vorhaben sollte nur 500 Millionen Euro kosten. Aber weil diese neue S-Bahn-Trasse mehrere U-Bahn-Tunnels queren muss, wurde beschlossen, den zweiten S-Bahn-Tunnel in eine Tiefe von 40 Meter zu legen, tief genug, um alle U-Bahn-Röhren leicht unterfahren zu können. Doch durch diese extreme Tieflage stiegen die kalkulierten Baukosten drastisch an, so dass nun plötzlich gespart werden musste. Opfer dieser Einsparung wurden drei der sechs geplanten Tunnelbahnhöfe. Dennoch liegen die aktuell kalkulierten Baukosten bei fast vier Milliarden Euro und nach allen Erfahrungen mit derartigen Tunnelprojekten – wie das Beispiel Stuttgart 21 klar zeigt – werden am Schluss die wahren Baukosten bei fünf Milliarden oder noch höher liegen. Das bedeutet: zehnmal so hohe Baukosten, aber nur noch halb so viele Bahnhöfe wie ursprünglich geplant.
Diese Streichung der Hälfte der Bahnhöfe hatte in den Prognosen – bei denen es sich um rein mathematische Modelle handelt – einen starken Rückgang der zu erwartenden Fahrgastzahlen zur Folge gehabt und der Nutzen des Projektes wäre, gemessen an den Baukosten, zu gering gewesen. Deshalb wurde ein Trick angewandt, der folgendermaßen aussieht: Die Zahl der Fahrgäste – und somit der Nutzen des Projekts – hängt auch von der Fahrzeit ab: Je kürzer diese ist, desto mehr Menschen benutzen die Züge. Die Fahrzeit kann man am besten verkürzen, indem man die Züge an den meisten Zwischenstationen außerhalb des neuen Tunnels einfach ohne Halt durchfahren lässt und dieses Angebot als Express-S-Bahn verkauft.
Konkret beinhaltet das entsprechende Fahrplanmodell folgenden Mischmasch: Pro Stunde fahren auf jedem Gleis vier Züge, also alle 15 Minuten, und zwar mit Halt an allen Stationen. Aber alle 30 Minuten soll zusätzlich ein Express-Zug fahren, der nur noch an den wichtigsten Haltestellen stoppt. Dies ergibt zwar in der Summe genau sechs Züge pro Stunde und Richtung, also im Durchschnitt den 10-Minuten-Takt, aber nicht für die eher unwichtigen Bahnhöfe, die durchfahren werden. Das Ergebnis dieser Trickserei ist: Der Nutzen-Kosten-Faktor steigt – oh welch ein Wunder – wieder über die magische Grenze von 1,0 an. Die finanzielle Förderung aus Bundes- und Landesmitteln ist somit weiterhin scheinbar legal.
Für die Fertigstellung des zweiten S-Bahn-Tunnels wird derzeit das Jahr 2028 ausgegeben, nachdem ursprünglich und großmäulig 2006 genannt worden war. Erinnert das nicht an Stuttgart 21?
Die Klimabilanz des Münchner Projekts ist, wie nicht anders zu erwarten, verheerend: Die aktuell vorgesehenen rund 21 Tunnelkilometer plus die drei Tiefbahnhöfe werden allein wegen der hierfür benötigten riesigen Zement und Stahlmengen für einen Treibhausgas-Ausstoß von fast 600.000 Tonnen verantwortlich sein. Hinzu kommen weitere Treibhausgas-Emissionen: (1) durch den Betrieb von vielen Rolltreppen und Aufzügen, welche die Menschen aus 40 Meter Tiefe nach oben bringen sollen, und (2) durch den Bahnstrom aus Kohlekraftwerken für die Züge, die in den viel engeren, deutlich längeren Röhren des zweiten Tunnels einen größeren Luftwiderstand zu überwinden haben und zugleich mit höherer Geschwindigkeit fahren sollen als im alten Tunnel. Kann man so das Klima schützen?
Neue Seidenstraße
Noch viel weiter im Osten von Stuttgart ist das zweite Projekt angesiedelt: Die Neue Seidenstraße. Diese Eisenbahnverbindung von China nach Europa hat ihren Ausgangspunkt in der Millionenstadt Yiwu, die rund 300 Kilometer südwestlich von Shanghai, aber im Landesinneren, fast 150 Kilometer vom Meer entfernt liegt. Endpunkt der Strecke in Deutschland ist der Hafen Duisburg.
Mehrmals pro Woche startet in Yiwu ein Containerzug des chinesischen Güterzugunternehmens YXE in Richtung Westen, beladen mit Waren wie Kleidung, Plastikspielzeug, Küchengeräte und Weihnachtsschmuck – vermutlich alles Tand der untersten Qualitätsstufe. Doch nur jeder Hundertste von 3.000 Containern, die täglich Yiwu verlassen, wird mit dem Zug nach Europa transportiert, also nur 30 pro Tag; dagegen nehmen fast alle Container aus Yiwu weiterhin den Seeweg. Denn der Containertransport per Zug ist doppelt so teuer wie mit dem Schiff – für billigen Christbaumbehang wohl zu teuer. Die Zugfahrt dauert bis Mitteleuropa rund zwei Wochen, während das Containerschiff sechs Wochen benötigt, was jedoch für die Waren aus Yiwu schnell genug ist, da sie unterwegs nicht verderben und nicht an Wert verlieren können.
Gemessen an den fast zwei Millionen Containern, die pro Jahr von China nach Deutschland transportiert werden, hat der Schienenweg deshalb nur einen Anteil von rund drei Promille, nämlich rund 6.000 Einheiten. Auf einem einzigen Containerschiff haben hingegen bis zu rund 20.000 Container Platz, also mehr als dreimal so viele, wie in einem ganzen Jahr per Zug von China nach Deutschland geschafft werden. Hierbei sind auf den Zügen in der Fahrtrichtung von China nach Deutschland 90 % der Container gefüllt, in der Gegenrichtung jedoch nur 20 %. Es wurden sogar schon Züge gezählt, auf denen nur ein einziger Container beladen war – der Rest war leer!
Jede Woche erreichen Duisburg angeblich 35 bis 40 Containerzüge aus China, was pro Jahr bei 52 Wochen rund 2.000 Züge ergibt. Bei 6.000 Containern, die jährlich per Zug aus China stammen, kommt man auf durchschnittlich drei Container pro Zug. Aber wegen drei Containern fährt in Wirklichkeit kein Zug!! Vermutlich ist die genannte Zahl der ankommenden Containerzüge um Faktor 10 übertrieben. Es scheint sich hier also um Fake News made in China zu handeln. Selbst Henrik Wehlen, der Marketingdirektor des Schweizer Unternehmens InterRail AG, die Partnergesellschaft von YXE, bezeichnet folglich den Containerzug zwischen China und Europa als reinen „show train“. Laut Wehlen transportiert dieser Zug statt Waren nur die Idee von Chinas Aufstieg (zur Weltmacht).
Für diesen Transport von fast nur Luft sollen noch neue Bahnstrecken durch Westchina, Kasachstan, den Iran, die Türkei und den Balkan gebaut werden, um den heutigen Umweg über Russland abzukürzen. Diese neuen Strecken summieren sich auf mehr als 6.000 Kilometer Länge. Da fast der gesamte Weg, auf dem die neuen Gleise geplant sind, durch bergige Landschaft verläuft, kann man mit einem Tunnelanteil von rund 1/3 rechnen, so dass rund 2.000 Tunnelkilometer zu graben sind – über 30-mal soviel wie bei Stuttgart 21. Hinzu kommen noch viele Viadukte über tiefe Täler und über breite Flüsse. Die Herstellung des Zements und des Stahls für die Tunnels und Brücken wird einen gigantischen Ausstoß von Treibhausgas zur Folge haben: vermutlich weit mehr als 50 Millionen Tonnen. Das gibt dann dem weltweiten Klima einen weiteren Todesstoß.
Deshalb gilt gerade auch zur Rettung unseres Klimas nicht nur in Stuttgart, sondern auch östlich davon, unser Motto: oben bleiben!
Ich finde die Idee mit der Kapazitätserhöhung der Münchner S-Bahn nicht schlecht. Es gibt bestimmt noch andere Wege, dies zu erreichen.