Rede von Dipl.-Phys. Wolfgang Kuebart, Ingenieure 22, auf der 496. Montagsdemo am 30.12.2019
Liebe Mitstreiter,
viele Jahre schon kritisieren wir nun dieses unselige Projekt Stuttgart 21, weil trotz der exorbitant hohen und immer noch steigenden Ausgaben im bald zweistelligen Milliardenbereich keinerlei Zukunftsfähigkeit besteht – im Gegenteil. Man kann nicht oft genug wiederholen, dass der Brandschutz mangelhaft ist und die Leistungsfähigkeit unzureichend. Dieses Jahr konnten wir uns bezüglich der beschränkten Leistungsfähigkeit bestätigt finden, weil selbst das Verkehrsministerium Baden-Württemberg davon ausgeht, dass der Bahnverkehr der nächsten Zukunft nicht mit der Infrastruktur bewältigt werden kann, die gerade gebaut wird. Daher soll der unterirdische Durchgangsbahnhof, der Halbtiefschrägbahnhof, durch einen zusätzlichen Kopfbahnhof leistungsfähiger gemacht werden, weil die 8 Gleise den Bahnverkehr der Zukunft nicht werden bewältigen können. Mein Vortrag am 28. Oktober setzte sich damit auseinander, und die dazu veröffentlichten Dokumente zeigen, dass man das durch aufmerksames Beobachten der Presse auch wissen kann.
In den letzten Jahren wurde von Seiten der Bundesregierung versucht, den Schienenverkehr in Deutschland attraktiver zu machen. In der Präambel der ersten „Machbarkeitsstudie zur Prüfung eines Deutschland‐Takts im Schienenverkehr“ vom 30. März 2015 heißt es z.B.: „In den zurückliegenden Jahren konnte das Verkehrsaufkommen im Schienenpersonenfernverkehr (SPFV) trotz Inbetriebnahme von Schnellverkehrsstrecken nicht signifikant erhöht werden. Als besonderes Hindernis für eine verstärkte Nutzung des Schienenpersonenverkehrs wird häufig genannt, dass der Widerstand zum Wechsel auf die Bahn sehr hoch ist, wenn Reisende auf ihrem Weg den Zug wechseln müssen und durch nicht hinreichende Abstimmung zwischen den einzelnen Zugangeboten unattraktive Umsteigezeiten entstehen. Hierdurch werden die Fahrzeitgewinne durch Nutzung von Fernverkehrszügen auf Schnellfahrstrecken für Reisende mit Umsteigezwang häufig neutralisiert. Vor diesem Hintergrund wird immer wieder gefordert, durch einen Deutschland‐Takt mit netzweit abgestimmtem Taktangebot die Wegekette im System Bahn attraktiver zu gestalten.“
Seit 2018 werden diese Anstrengungen intensiviert, sicher auch veranlasst durch die schärfer werdende Klimadebatte – zum Beispiel auch durch die immer größer werdenden „Fridays For Future“ Demonstrationen. Bis 2030 sollen nun doppelt so viele Menschen ihre Mobilitätsansprüche mit der umweltfreundlichen Bahn befriedigen und damit den motorisierten Individualverkehr verringern. Es wurde das Zukunftsbündnis Schiene gegründet. Zwei Gutachterentwürfe liegen inzwischen vor, die den Deutschlandtakt konkretisieren, der letzte vom Schienengipfel am 7.5.2019, auf dem Minister Scheuer sagte, mit diesen Anstrengungen könne man einen „[Minute 12:28] wesentlichen Beitrag zum Erreichen der Klimaziele leisten. Eine Zugfahrt verursacht nur 1/6 der Treibhausgase und das entspricht im Vergleich zur Flugreise einer riesen Einsparung. Ein Güterzug verursacht pro Tonnenkm nur ein Fünftel des CO2-Ausstosses eines LKWs. Bahnfahren ist also aktiver Klimaschutz. [Minute 12:51]… Parallel zu solchen Verbesserungen beim Service müssen wir vor allem unser Mammutprojekt, den Deutschlandtakt, rasch umsetzen, also das Ziel, dass sich künftig alle Züge jeweils zu festen Zeiten im Bahnhof treffen [Minute 15:17]. Umsteigen wird dadurch deutlich leichter, Verbindungen werden zuverlässiger und Reisezeiten oftmals deutlich kürzer…“
Doch wenn wir in die Gutachterentwürfe zum Deutschlandtakt schauen, sehen wir, dass Stuttgart beim integriert vertakteten Verkehr gar nicht vorkommt. Der Knoten Stuttgart verkommt zum simplen Streckenbahnhof ohne Knotenfunktion. Wir wissen natürlich, woher das kommt: der Bahnhof mit seinen 8 Gleisen ist zu klein, um die mindestens 6 Fernverkehrslinien und 8 Nahverkehrslinien aus dem Umland gleichzeitig aufzunehmen, um das Umsteigen von allen Linien zu allen Linien zu ermöglichen.
In der Machbarkeitsstudie zum Deutschlandtakt von 2015 wurde die Abkehr vom Integralen Taktfahrplan (z.B. für Stuttgart) bereits vorbereitet: man behauptet, der ITF führe im deutschen Fernverkehr wegen der langen Reisewege und Bahnhöfe mit langen Umsteigewegen zu unattraktiven Fahrzeitverlängerungen. Man müsse Konzepte finden, die „sowohl für umsteigende Fahrgäste gegenüber dem gegenwärtigen Fahrplan verbesserte Umsteigemöglichkeiten als auch für durchfahrende Fahrgäste eine attraktive Reisezeit bieten.“ Was für abenteuerliche Argumente! Wenn man für 10 Milliarden Euro einen Bahnhof wie Stuttgart halb unter die Erde versenken kann, kann man für viel weniger Geld auch weitere Querungen bei großen Bahnhöfen bauen, die die Umsteigewege minimieren.
Gänzlich unverständlich bleibt, warum lange Reisewege die Wahl der Knotenbahnhöfe einschränken, so dass ein ITF unmöglich sein soll. Bereits 2011 hat Prof. Wolfgang Hesse für die spezielle Situation von Stuttgart Konzepte vorgeschlagen, die einen Vollknoten für Stuttgart grundsätzlich möglich machen sollten. Nachzulesen in Eisenbahnrevue International, Heft 3/2011, Seite 150-152. In einer zweiten Arbeit aus jüngster Zeit kritisiert Prof. Hesse ganz wesentlich den jetzigen Entwurf des Deutschlandtakts für Stuttgart. (Deutschland-Takt und BMVI-Zielfahrpläne: Chancen, Defizite und Lösungsvorschläge, Eisenbahn-Revue International, Heft 7/2019, S. 386-389, Minirex-Verlag, Luzern 2019).
Basierend auf den Arbeiten von Prof. Hesse, den Auswertungen von Christoph Engelhardt und den Mitarbeitern des Faktencheckportals Wikireal (http://wikireal.org/wiki/Stuttgart_21/ITF) und eigenen Berechnungen haben wir Ingenieure22 ein Flugblatt erstellt, das diesen Sachverhalt zur Realisierung eines Integralen Taktfahrplans im Allgemeinen und zum Deutschlandtakt im Besonderen für Stuttgart veranschaulicht. (http://www.ingenieure22.de/cms/index.php/flyer-deutschlandtakt-und-stuttgart-21)
Ausgangspunkt für unser kompaktes Flugblatt ist die jüngste A rbeit von Prof. Hesse. Mit seinen Grafiken und einer sehr komprimierten Beschreibung fassen wir auf einer DIN A4-Seite die wesentlichen Schwachpunkte des Deutschlandtakts für Stuttgart im 8-gleisigen Tiefbahnhof zusammen und zeigen, dass mit dem Kopfbahnhof die elegantere Lösung für diesen Knoten Stuttgart bereits besteht.
Eine erste Abbildung zeigt den prinzipiellen Aufbau einer Ankunfts- und Abfahrtsfolge in einem Taktknoten. Vor der vollen Stunde kommen Regional- und Fernzüge in den Bahnhof, die Fernzüge vorwiegend zuletzt, denn sie fahren meist mit einem Teil der Fahrgäste weiter, für die die Wartezeiten, die man für den Fahrgastwechsel braucht, nicht zu lang werden sollen.
Die zweite Abbildung zeigt die grundsätzlich im Knoten Stuttgart ein- und ausfahrenden Linien des Fern- und Nahverkehrs. Man zählt 6 Fernverkehrs- und 8 Nahverkehrslinien. Man braucht also 14 Bahnsteigkanten, um diese Züge alle zu einem Zeitpunkt im Bahnhof zu versammeln. Dann müssen für alle Züge die Einfahrtszeiten und Ausfahrtszeiten so weit auseinander liegen, dass man von jedem Zug zu jedem Zug umsteigen kann.
Doppelbelegungen sind der Fluch eines jeden Bahnhofs: Sie beschwören weitere betriebliche Probleme und, wie die Erfahrung zeigt, führen zu extremen Verunsicherungen der Fahrgäste, wenn die Zugreihenfolge oder auch das Gleis vertauscht werden müssen, weil ein Zug sich verspätet hat. Köln ist ein Bahnhof mit vielen Doppelbelegungen, aus eigener Erfahrung weiß ich, wie problematisch ein Umstieg in einen unplanmäßig abgestellten Zug ist, wenn es betrieblich nicht anders geht. Daher ist auch angestrebt, Köln Hbf mit weiteren Gleisen auszustatten, um weniger Doppelbelegungen zu benötigen und/oder die Leistungsfähigkeit dieses Bahnhofs zu erhöhen.
Die 14 Linien im Stuttgarter Knoten erfordern 12 Doppelbelegungen und zwei Einfachbelegungen in einem 8-gleisigen Bahnhof. Christoph Engelhardt benennt in seiner ausführlichen Analyse 4 Dreifachbelegungen und 15 Doppelbelegungen für den jetzt erstellten Fahrplan für Stuttgart 21 mit teilweise völlig unfahrbaren Linien. Der bestehende Kopfbahnhof dagegen ist optimal für all diese Linien zugeschnitten und hat selbst nach der Entfernung der Gleise 1a und 17 (2010 – 2011) noch immer zwei Gleise Reserve, die, wie man weiß, lebensnotwendig für die S-Bahn sind, wenn es wieder einmal auf der Stammstrecke klemmt. Mir ist bis heute nicht klar, wie diese Probleme je mit dem Tiefbahnhöfle gelöst werden.
Angesichts dieser Enge im Tiefbahnhof versucht der Deutschlandtakt auch gar nicht erst, einen Integralen Taktfahrplan herzustellen. Das veranschaulicht das dritte Bild. Wie man sieht, kommen laufend ohne jegliche Konzentration auf bestimmte Knotenübergangszeiten Fern- und Nahverkehrszüge im Bahnhof an und verlassen ihn wieder. Damit kann man immer nur in Züge umsteigen, die noch im Bahnhof stehen, wenn der eigene Zug einmal eingefahren ist. Bei Zügen, die bereits den Bahnhof verlassen, muss man eine volle Taktzeit der jeweiligen Linie warten, bis man seine Reise fortsetzen kann. Bei manchen Linien kommen da 40 bis 50 Minuten Wartezeit zusammen. Wir nennen dies einen „Kraut- und Rüben-Fahrplan“.
Roland Morlock hat für beide Fahrplankonzepte die resultierenden Fahrzeiten einschließlich der Umsteigezeiten berechnet. Mit dem Kraut- und Rüben-Fahrplan und heutigen Taktzeiten von ½, 1, oder gar 2 Stunden ist die mittlere Verweilzeit im Bahnhof gemittelt über alle Fahrgäste 24 bis 27 Minuten und damit doppelt so lange wie die 12 Minuten bei einem Knoten mit integralem Taktfahrplan. Man beachte, das sind die Durchschnittswerte aller Verbindungen. Sie enthalten auch die von den Protagonisten immer wieder ins Feld geführten Vorteile der durchgebundenen Linien für die sehr wenigen ‚Sitzenbleiber‘ im Regionalverkehr (im Fernverkehr zwangsläufig mehr), die vom Aufenthalt natürlich gar keinen Vorteil haben und am liebsten gar nicht halten wollen.
Dies hatte der SWR in einem Beitrag am 1.8.2019 ausgeführt (https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/Probleme-mit-dem-Deutschland-Takt-Stuttgart-21-Bundesregierung-bestaetigt-lange-Umsteigezeiten,s21-deutschlandtakt-verspaetungen-100.html) und die Bahn in arge Bedrängnis dadurch gebracht.
Eigentlich soll das Zukunftsbündnis Schiene a) die Gesamtreisezeit verkürzen und b) die Kapazität der Linien verdoppeln, bis 2030. Das ist mit Stuttgart 21 nicht möglich. Das Verkehrsministerium, das dafür einen Fahrplan entwickeln und beauftragen muss, hat daher „das Handtuch geworfen“, indem es feststellte, dass das nur mit zusätzlichen Gleisen möglich wäre. Daher wolle man einen Teil des Kopfbahnhofs erhalten bzw. unterirdisch neu aufbauen, quer zum neu gebauten Tiefbahnhöfle. Dass deswegen Zufahrtsgleise quer durch das Neubaugebiet Rosenstein bestehen bleiben bzw. unterirdisch zusätzlich vergraben werden müssten, lässt nun Baubürgermeister und Bürgermeister der Landeshauptstadt auf die Barrikaden gehen. In der eigens gegründeten Arbeitsgruppe ist man inzwischen übereingekommen, nur einen kleinen Kopfbahnhof am Nordbahnhof zu fordern, der dann auch den Verkehr der Gäubahn aufnehmen soll. Man sieht, mit wie wenig Planungstiefe man inzwischen an den Problemen des schlechten Konzepts Tiefbahnhöfle herumlaviert. Damit werden die Probleme nicht gelöst.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass wir am Ende ein Tiefbahnhöfle mit extremen Auflagen wegen des unvollkommenen Brandschutzes haben, das nicht einmal 32 Züge pro Stunde wird leisten können und ein erklecklicher Teil des alten Kopfbahnhofs auch nach Inbetriebnahme weiterhin gebraucht wird, bis man sich neue Lösungen ausgedacht hat, die aber alle nur bedeuten können, dass ein Teil des Zugverkehrs an Stuttgart vorbei fährt.
Dann doch lieber gleich richtig oben bleiben!
Ich schlage zuerst Mal einen BW-Takt für den Regionalverkehr, bei dem alle Regionallinien im Kopfbahnhof enden. Von S21 kann man 2 zusätzliche Gleise durch den Rosensteintunnel und über die Neckarbrücke nach Bad Cannstatt für die S-Bahn übernehmen. Richtung Zuffenhausen wird der Tunnel Feuerbach für einige Fernzüge, die durchgebunden werden, übernommen. Bis Zuffenhausen werden die vorhandenen zusätzlichen 2 Gleise für die S-Bahn übernommen. In die andere Richtung wird die NBS Wendlingen-Ulm und die NBS Stuttgart-Wendlingen mit dem Fildertunnel, aber ohne den Flughafenbahnhof für den Fernverkehr übernommen. Auf der Filstalbahn wird der Regionalverkehr verdichtet und fährt im Halbstundentakt. Vom Tiefbahnhof reichen dann 4 Gleise für den Fernverkehr aus.