Wo stehen wir und wie geht es weiter?

Rede von Dr. med. Dipl. Psych. Angelika Linckh, Parkschützerin, auf der 488. Montagsdemo am 4.11.2019

Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,

ich freue mich, dass wir hier zusammen auf der – sage und schreibe – 488. Montagsdemo für den Erhalt des Kopfbahnhofs und gegen das Stuttgarter Mega-Fiasko genannt Stuttgart 21 demonstrieren! Ich freue mich sehr darüber, dass Sie den langen Atem haben, den wir brauchen! Gerade, weil es uns um mehr geht als um einen Bahnhof!

Vor etwa zwei Jahren habe ich hier zum Wert dieses langen Atems gesprochen – vom Wert Ihres, unseres langen Atems! Vom Wert einer Bewegung, die das „Prinzip Stuttgart 21“ und die politischen Zusammenhänge erkennt, vom Wert einer Kundgebung, auf der Woche für Woche informiert und sich ausgetauscht wird über Zusammenhänge dieses Projekts mit einer Politik, die zwar über Reduzierung von Autoverkehr redet, tatsächlich aber die Verkehrswende mit ihrem schädlichen Flaschenhals Tiefbahnhof blockiert, und die den Klimaskandal S21 nach wie vor ignoriert und der die Luftqualität egal ist.

Und ich spreche vom Wert unserer sozial-ökologischen humanistischen Versammlung unter freiem Himmel! Von unserem gemeinsamen politischen Horizont, der weit über den Kesselrand hinausreicht.

Morgen am 5. November jährt sich zum 4. Mal der Dammbruch, das Umweltverbrechen des brasilianischen Konzerns Vale in Brasilien. Der verantwortungslose Bergbaukonzern, Geschäftspartner der deutschen Bau-, Auto- und Stahlindustrie, kümmert sich einen Dreck um Sicherheitsvorschriften und Menschenrechte.

Der Dammbruch war vorhersehbar und eine hochgiftige Schlammlawine hat den gigantischen Fluss Rio Doce, Trinkwasserquelle und Lebensgrundlage für Hunderttausende vergiftet. Anfang 2019 brach schon der nächste Damm des Bergbaukonzerns Vale und löschte mehr als 270 Menschenleben aus, und Menschenrechtsorganisationen und Angehörige der Toten haben kürzlich Strafanzeige hier in Deutschland gegen den TÜV Süd München gestellt.

Was haben diese furchtbaren Katastrophen nun mit uns und S21 zu tun? Selbstverständlich verbietet sich jeder Vergleich mit dem verursachten Elend der Menschen dort und den Dimensionen der Zerstörung von Lebensraum und Natur.

Aber als ich gelesen habe, dass der deutsche TÜV Süd diesen und 30 anderen Dämmen von Vale in Brasilien attestiert hatte, dass sie sicher seien, habe ich gewisse Parallelen gesehen. Inzwischen kam heraus, dass der TÜV das Sicherheitszertifikat trotz festgestellter Bedenken ausgestellt hat, um weitere Aufträge von Vale nicht zu gefährden. Das hat mich an den unvorstellbar ignoranten Umgang mit der solide erarbeiteten Kritik am hiesigen Brandschutzkonzept erinnert, dieses Einfach-Nicht-Wissen-Wollen, welche absehbaren Katastrophen auf uns zukommen können.

Auch das treibt uns an weiterzumachen. Wir wollen nicht schweigen und abwarten, bis – wann auch immer – die Verantwortlichen sagen „das Unvorstellbare ist eingetreten“ – wie damals in Rastatt.

Im Oktober 2019 haben wir zurückgeschaut auf 10 Jahre wöchentlicher Montagsdemos und Bilanz gezogen, mit einer Kundgebung am Hauptbahnhof und einer wunderbaren, Mut machenden Veranstaltung im Theaterhaus. Grund zum Weitermachen gibt es ja genug. Soviel Motivation zum Weitermachen störte Jan Sellner, Lokalchef der Stuttgarter Nachrichten und -Zeitung dann aber doch.

Zwar kam er nicht umhin einzuräumen, dass wir mit unserer Kritik bisher immer Recht behalten hätten. Und meinte dennoch, uns nahelegen zu müssen aufzugeben. Das hätte er mal besser den Projektunterstützern geraten. Denn sie schlingern ja nur noch von Desaster zu Desaster. Wetten können abgeschlossen werden, wann der Fertigstellungstermin in die 30er Jahre verschoben wird und wann der Kostendeckel zur fliegenden Untertasse Richtung 12 Milliarden wird.

Manchen unserer früheren Mitstreitenden ist auf unserem Langstreckenlauf der lange Atem ausgegangen. Und einige von ihnen konnten unsere lebendige Motivation so wenig aushalten wie Herr Sellner. Sie meinten uns hinterherrufen zu müssen: „Wir sind doch längst gescheitert!“ Besonders Kluge wussten natürlich auch ganz genau, warum; auch z.B. warum hier keine 10.000 Menschen mehr mit uns gegen das bankrotte Skandalprojekt protestieren.

Die einen meinen zu wissen: weil wir nicht radikal genug gewesen seien. Die andern finden das Gegenteil. Und wieder andere erklären: wenn wir nicht an Schlichtung und Faktencheck teilgenommen und die Volksabstimmung boykottiert hätten, wären wir garantiert auf der Siegerstraße.

Über Fehler kann man natürlich diskutieren, wenn man es solidarisch tut, um eine Bewegung vorwärts zu bringen, in der man sich selber engagiert. Und manche, die heute hier engagiert auf dem Platz sind, sehen bestimmt auch Fehler.

Aber den zurückgezogenen Abseitsstehenden sage ich: Quatsch! Tatsächlich waren mit der Landtagswahl 2011 und einem grünen Ministerpräsidenten unglaublich viele Mitstreitenden einfach ziemlich zufriedengestellt! Nicht einmal die Verwandlung der Grünen zu S21-Unterstützern hat daran etwas geändert! Aber nicht nur das. Auch die Stahl- und Betonmassen des sogenannten „Baufortschritts“ erzeugen Ohnmachtsgefühle und haben Zehntausenden die Zuversicht genommen, den Irrsinn stoppen zu können. Das sind wohl die wesentlichen Gründe, warum sie sich von der Straße aufs Sofa zurückgezogen haben!

Statt uns mit Schuldzuweisungen in den eigenen Reihen aufzuhalten, schöpfen wir lieber Kraft. Kraftquelle politischer Bewegungen ist nicht einfach nur ihre aktuelle Konjunktur oder Größe. Denn die schwankt bekanntlich immer, nicht nur bei uns!

Wertet es denn die heutige Friedensbewegung ab, dass sie zur Zeit trotz Brandherden an allen Enden der Welt keine Hunderttausende mobilisieren kann wie in den 80er Jahren? Nicht im mindesten!

Wertet es denn die Klimaproteste ab, wenn trotz Massenprotest der Jugend die Bundesregierung, Land, Stadt und Autoindustrielle so weitermachen, als hätten wir eine zweite Welt in Reserve?

Kraftquellen für standhaftes Durchhalten mit aufrechtem Gang sind gegenseitige Wertschätzung, Großherzigkeit, Langmut und eine tiefer liegende Motivation. Nämlich eine Liebe zu den Menschen und zur Natur und der Wunsch nach einer solidarischen Gesellschaft. Leonardo da Vinci nannte das so schön: seinen Karren an einen Stern binden!

Natürlich nagen die Ignoranz, die Machtfülle der S21-Täter und die von der Masse der Menschen hingenommene Zerstörung an solchen Kraftquellen. Und deshalb müssen wir uns auch immer wieder mit Humor und Witz motivieren. Deshalb sind für uns Mitstreitende wie David Stützel, Peter Grohmann, Christine Prayon, Uta Köbernick, Joe Bauer und Max Uthoff so wertvoll.

Wie Max Uthoff im Theaterhaus sagte: „Weitermachen, … einfach dran bleiben“, und „ganz wichtig“ – sinngemäß – „Ihr dürft denen nicht den Gefallen tun, zu verbittern und zu verzweifeln, denn darauf setzen sie! Zum Oben-Bleiben gehört immer ein Locker-Bleiben.“

Ja, die „normative Macht des Faktischen“ aus Beton und Stahl hindert die Mehrheit der Stuttgarter*innen aus ihrer passiven Ablehnung des Projekts wieder einen aktiven Massen-Protest zu machen. Das wissen wir. Aber wir haben im Gegensatz zu Herrn Sellner den Mut, uns auch schmerzhaften Zerstörungen auszusetzen, hinzuschauen, den Blick nicht zu verschließen vor den weiter drohenden Katastrophen. Das alles wertet uns überhaupt nicht ab als „halsstarrig“, wie Herr Sellner das versucht.

Halsstarrig und verantwortungslos sind die, die sich weigern innezuhalten, um das ganze Ausmaß ihres S21-Desasters zur Kenntnis zu nehmen! Uns treibt zum Weitermachen, zum Protest auch eine tiefe Sehnsucht nach einer Gesellschaft an, in der Menschen in verantwortungsvoller Position tatsächlich auch verantwortungsvoll handeln!

Sebastiao Salgado, der weltweit anerkannte Fotograf, lebt ganz in der Nähe des eben erwähnten Rio Doce in Brasilien. Er wurde kürzlich mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet, weil er sich mit seinen Fotografien für soziale Gerechtigkeit und Frieden einsetzt. Seine Fotos sind eine Liebeserklärung an die Menschen und diesen Planeten, auch wenn sie, wie seine Fotos aus den Kriegen, die ganze Grausamkeit und Zerstörung zeigen. Bei der Preisverleihung am 20. Oktober sagte er: „Um eine andere Zukunft zu errichten, müssen wir die Gegenwart verstehen. Meine Fotos zeigen diese Gegenwart und so schmerzhaft der Anblick auch ist, wir dürfen den Blick nicht abwenden.“

Auch wir sind Zeugen eines Zerstörungsprozesses, der Zerstörung durch Privatisierung. Wir sind hier mit einem klitzekleinen Ausschnitt dieser globalen Zerstörung konfrontiert: mit diesem unterirdischen Bahnhofsprojekt. Ich sehe das, was hier mit unserem Bahnhof passiert überall: bei den Wohnungen, im Gesundheits- und Pflegebereich, überall Investoren, die für ihre Aktionäre Rendite machen wollen. Und ich finde, man sieht das Zerstörungspotential der Privatisierung sehr gut an Stuttgart 21 und der Deutschen Bahn: das, was die Menschen brauchen, zum Beispiel in der Fläche schöne Bahnhöfe mit sauberen Klos und verlässliche Züge, bietet die DB nicht mehr. Tausende Kilometer Strecke wurden still gelegt, um die Deutsche Bahn für private Investoren und einen Gang an die Börse „attraktiv“ zu machen.

Den Blick nicht abwenden, das fordert Sebastiao Salgado! Und wir wenden den Blick nicht ab, wir zeigen und sagen, was ist! Und wir haben mit Umstiegsvorschlägen einen positiven Gegenentwurf zum destruktiven Projekt Tunnelbahnhof und Autoverkehrsinfarkt!

Wir sind die Kinder, die – wie in Andersens Märchen – den nackten S21-Kaiser vorführen, dessen Autorität mit jedem weiteren Tag des Wassereinbruchs in Obertürkheim zerfällt.

Wir sind auch die Analytiker*innen, die entlarven, wie grotesk und hilflos die grünen S21-Kaiser in Land und Stadt mit ihrem letzten Aufgebot „soziales Wohnen im Rosensteinviertel“ daherkommen. Während sie gleichzeitig im Rest der Stadt ungeniert zuschauen, wie dort die Mieter*innen aus ihren Wohnvierteln rausgentrifiziert werden.

Machen wir uns also immer wieder aufs Neue bewusst, wie wertvoll es ist, dass wir nach über einem Jahrzehnt und heute hier zum 488. Montagsprotest immer noch zusammen auf der Straße sind, dass unser Protest in Deutschland einzigartig ist und bei Initiativen und Protestbewegungen im ganzen Land Mut zum langen Atem macht.

Und erinnern wir uns an die großartige „Anstalt“ zu S21 am 29. Januar, als Uta Köbernick mir wirklich die Tränen in die Augen getrieben hat mit ihrem Schluss-Satz an ein Millionenpublikum: „Liebe Stuttgart-21-Gegner! Ihr habt nichts erreicht! Und deshalb macht weiter!“

Ja, wir machen weiter. Eine andere Welt ist möglich!

Oben bleiben!

Rede von Angelika Linckh als pdf-Datei

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4 Antworten zu Wo stehen wir und wie geht es weiter?

  1. D.F. sagt:

    Großartig, liebe Dr. Angelika Linckh!
    Danke.

  2. Rainbow-Warrior21 sagt:

    Da kann ich mich nur anschliessen 🙂 !
    Oder um es mit den Worten von Barbara Drescher zu sagen:
    „Das ist für mich das Tollste an dieser Bewegung, dass Jede macht, was sie für richtig hält und machen will – und das funktioniert auch noch! Ich finde das großartig!“ 🙂

  3. Jörg Hirsch sagt:

    Ihre Rede, liebe Frau Dr. Linckh, atmet in ihren Teilen einen großen, weiten Atem. Er stärkt uns und hält uns zusammen und zeigt den Weg zu Lebendigkeit, Leichtigkeit und Unverzagtheit. So frei sind Sie!, sind wir!, wenn wir der Liebe zu den Menschen und zur Natur verpflichtet bleiben.
    Wie eng dagegen ist ihm die Brust verschnürt, dem Ministerpräsidenten, jedes seiner Wortgeschlurfe drückt das grüne Versagen aus.

  4. HaNoi sagt:

    „GUT gebrüllt“,Löwin Linckh! Schließe mich ebenfalls mit großem Dank an!

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