Rede von Guntrun Müller-Enßlin, TheologInnen gegen Stuttgart 21, auf der 483. Montagsdemo am 30.9.2019
Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter, liebe Freundinnen und Freunde,
es gibt Tage, die vergisst man nie!
Bis zum Jahr 2010 war der 30. September für mich ein Tag wie jeder andere. Ein Sommer zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Höhenflügen und Momenten tiefer Tragik lag hinter uns. Viele Gründe, gegen S21 zu sein, lagen auf dem Tisch, aber der Park war der Nerv, an dem unsere Bewegung stets am empfindlichsten reagiert hat; hier schlugen die Wogen der Emotionen am höchsten.
Ich weiß, wovon ich rede: Mein eigenes Engagement begann in jenem Moment, als ich erfuhr, dass für das neue Herz Europas 300 alte Schlossgartenbäume fallen müssten. Mir war sofort klar: Ein Projekt, für das so viel Schönes, Nützliches, in Jahrhunderten Gewachsenes zerstört werden muss, kann nicht gut sein. Es bedarf übrigens keiner großen Intelligenz, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen; wie dumm muss demnach ein größerer Teil der Bevölkerung sein, wenn er dazu offenbar nicht fähig ist!
In jenem Herbst hing die drohende Rodung des Schlossgartens über uns wie ein Damoklesschwert. X-mal haben wir uns darauf vorbereitet, haben nächtelang im Park ausgeharrt, patroullierend oder schlafend unter den alten Schlossgartenbäumen. Als es dann aber so weit war, war es nicht Nacht, sondern heller Tag. Ausgerechnet den Morgen einer schon länger angesagten Schülerdemo gegen S21 hatten sich die Entscheidungsträger ausgesucht, um mit schwerem Geschütz, mit Wasserwerfern und Kettensägen, bewaffnet bis an die Zähne, im Park aufzufahren, diesen abzuriegeln und an ihr zerstörerisches Werk zu gehen. Wer in den Schlossgarten geeilt war, um die Jugendlichen zu unterstützen, die sich vor die Absperrzäune gesetzt hatten, fand sich in einem Albtraum wieder. Gnadenlos nahm der Wasserwerfer alles ins Visier, was und wer sich ihm in den Weg stellte, Rentner, Schülerinnen, Mütter mit Kindern. Menschen wurden blind geschossen, Dutzende vom brachialen Strahl des Wasserwerfers umgehauen und verletzt, Hunderte mit Reizgas traktiert.
Was an diesem Tag mitten in Stuttgart geschah, war ein zivilisatorischer Rückfall, ein kriegerischer Akt gegen die eigene Bevölkerung, wie man ihn sonst nur aus totalitären Staaten kennt. Eine skrupellose machtbesessene Obrigkeit hat an diesem Tag die Hosen runter gelassen und sich entlarvt. Mit perfiden Methoden haben ihre Exponenten die Tatsachen später heruntergespielt, herumgedreht, die Geschädigten eingeschüchtert, kriminalisiert und Angst und Schrecken verbreitet; sie haben sich eine parteiische Justiz willfährig gemacht und erreicht, dass viele von uns sich nicht mehr getraut haben, Anzeige zu erstatten, aus Furcht, sich mir nichts, dir nichts in der Rolle von Angeklagten wiederzufinden. Und wieder weiß ich genau, wovon ich rede.
Bis heute haben die Drahtzieher jener skandalösen Vorgänge vor 9 Jahren, allen voran Stefan Mappus, keinerlei Verantwortung übernommen, zeigen keine Reue, laufen frei herum, sind die Karriereleiter gar hinaufgefallen statt hinunter und streichen satte Gehälter ein.
Der Schwarze Donnerstag war ein Angriff auf vieles. Auf die Natur, die Lebensqualität der Stadt, auf unbescholtene Bürgerinnen und Bürger und ihr Recht, das zu schützen, was ihnen lieb und wert ist. Dass diese Art von Repression, von Rechtsbeugung möglich war in einer Demokratie, das hat mich schon damals zweifeln lassen an deren Absolutsetzung und ihrer Unanfechtbarkeit.
Ein weiterer trauriger Höhepunkt, der vielen von uns die Grenzen der Demokratie aufgezeigt hat, kam eineinhalb Jahre später. Mir ist klar geworden, dass es möglich ist, basisdemokratisch legitimiert den Globus vor die Wand zu fahren – damals im Februar 2012, als der Schlossgarten dann vollends dem Erdboden gleichgemacht wurde – ausgerechnet unter dem grünen Ministerpräsidenten einer Regierung, deren Vertreter großenteils noch bis kurz zuvor auf der Seite der Projektgegner gestritten hatten. Mir will nicht in den Kopf, dass das nicht zu verhindern gewesen sein soll!
Wer es nicht weiß: Die mächtigen verstümmelten Stämme der Schlossgartenbäume liegen bis heute beim Wasserwerk im Feuerbacher Wald, genau so, wie sie vor fast acht Jahren dort abgeladen worden sind, mittlerweile bemoost, verfault, vergessen. Niemand hat etwas daraus gemacht, niemand etwas damit angefangen.
Für mich sind diese verstümmelten vergessenen Stämme ein trauriges Symbol, ein Gleichnis auf unsere Gesellschaft, eine gedankenlose, ignorante Gesellschaft, unfähig, aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen und sich zu verändern.
Denn – wo stehen wir heute – 9 Jahre nach dem Schwarzen Donnerstag? Was hat sich bewegt? Leider weniger als nichts. Vielmehr sind die Herausforderungen, denen wir uns gegenüber sehen, heute noch gewaltiger als damals.
Schon 2010 war uns klar, dass unser Protest gegen Stuttgart 21 sich gegen weit mehr richtete als gegen einen verzeihlichen Lausbubenstreich mit absehbaren Folgen; vielmehr bildete er einen Angriff auf die Machenschaften einer geldgierigen Machtelite und stellte deren ungebremstes Agieren zum eigenen Nutzen in Frage. Ökologischer Raubbau, Verschwendung von Steuergeldern, Gewinnmaximierung von Wirtschaft und Konzernen auf Kosten der normalen Bevölkerung – das alles stand damals zur Disposition. Unser Protest war gefährlich und das rabiate Durchgreifen der Ordnungskräfte am Schwarzen Donnerstag ein Versuch, ihn mundtot zu machen. Im Prinzip stand hinter unserem Ruf „Oben bleiben!“ schon damals die Forderung einer radikalen Wende, einer strukturellen Veränderung und Erneuerung des Systems. Unser Satz hieß: Es geht um mehr als einen Bahnhof.
Mittlerweile schreiben wir 2019, und die Entwicklung von nur 9 Jahren hat uns an einen Punkt gebracht, an dem es um nicht weniger geht als um alles!
Der Klimawandel ist in vollem Gang, die globale Erwärmung schreitet voran, Hitzerekord reiht sich an Hitzerekord, Meeresspiegel steigen, Polkappen schmelzen, Landschaften versteppen, Regenwälder brennen, Gletscher brechen ab, das Sterben der Arten, an deren Ende der Mensch steht, nimmt Fahrt auf.
Und das sind nur Vorboten eines zukünftigen Horrorszenarios, das sich keiner ausmalen will. Wir verspielen die Zukunft unserer Kinder und die merken das allmählich und gehen auf die Barrikaden. Die junge Klimaprotestbewegung hat die Demonstrationen wie einst wir selbst als ihr Mittel entdeckt. Die Bürgerbewegung gegen S21 streitet im Schulterschluss mit Fridays for Future auf der gleichen Seite. Am Freitag, 20.09.2019 haben wir gemeinsam an der größten Demonstrationsbewegung für das Klima teilgenommen, die die Menschheit je gesehen hat. Es war ein lauter Schrei nach einer nachhaltigen Kursänderung. Und als solcher ist er für diejenigen, die um jeden Preis am Status Quo festhalten wollen, genauso gefährlich wie unser Protest vor 10 Jahren. Ob er erfolgreicher ist als jener, oder ob die Klimabewegung auf der Straße stehen gelassen wird wie einst wir, ist deshalb noch längst nicht ausgemacht. Wir können aber nicht weitermachen wie bisher. Es reicht nicht mehr, am Symptom rumzudoktern.
Liebe Freundinnen und Freunde, es gibt Tage, die vergisst man nie. Der 30.09.2010 ist einer von ihnen und das ist gut so. Erinnerung ist wichtig. Wer sich nicht erinnert oder erinnern will, ist nicht lernfähig. Der Schwarze Donnerstag ist für mich Mahnung und Aufforderung zugleich.
Eine Mahnung – gebt Acht! Der Firniss der Zivilisation ist dünn, eine Haut, die allzu schnell reißen kann. Er ist eine Aufforderung – lernt aus der Vergangenheit und kehrt um! Ändert die Richtung!
Einer der stärksten Sätze von Greta Thunberg ist, dass sie unsere Hoffnung nicht will. Daran kann ich nahtlos anknüpfen: Ich habe keine Lust mehr, von Optimismus zu sprechen, wo die Zukunft rabenschwarz daherkommt. Ich habe es satt, von Amts wegen Hoffnung zu verbreiten, wo es keine gibt. Wenn wir das Desaster verhindern wollen, brauchen wir einen Richtungswechsel. Unbedingt. Wir müssen was tun. Wir müssen umkehren. Und zwar nicht ein bisschen. Sondern radikal. Wir müssen es, mehr denn je, denn diesmal geht es ums Überleben der Menschheit. Wenn wir und die Generationen nach uns auf diesem Planeten überleben und eine Zukunft haben wollen, gibt es keinen anderen Weg.
Die gute Nachricht ist: Noch geht das. Noch ist dieser Weg offen. Noch ist Umkehr möglich – mit dem Ausstieg aus Stuttgart 21, dem klimaschädlichsten Infrastrukturprojekt auf deutschem Boden, als erstem Schritt.
Lasst uns dafür weiter einstehen, unbeirrt und streitbar, für eine Welt, in der wir überleben – und Oben bleiben!