Rede von Dieter Reicherter, Vorsitzender Richter am Landgericht a.D., auf der 483. Montagsdemo am 30.9.2019
Liebe Freundinnen und Freunde,
heute rede ich zu Euch aus Sicherheitsgründen. Wer sich jetzt wundert, der kennt noch nicht die Aktion von Digitalcourage. Weil die derzeitigen Verschärfungen der Polizeigesetze stets mit Sicherheitsgründen erklärt werden, kam die Bürgerrechtsorganisation auf die Idee, aus Protest diese Formulierung einfach total unsinnig zu gebrauchen. Auf der Internetseite kann man die besten Ideen nachlesen. Dazu gehört zum Beispiel der Satz: „Aus Sicherheitsgründen sind Torten an der Garderobe abzugeben“. Also genauso unnötig, wie es die meisten Verschärfungen der Polizeigesetze sind. Neuerdings wird übrigens wieder eine Vorratsdatenspeicherung geplant.
Und jetzt wisst Ihr schon mal, weshalb ich aus Sicherheitsgründen rede. Und Ihr müsst stark sein und diese Formulierung jetzt laufend ertragen. Denn aus Sicherheitsgründen hat die damalige Landesregierung von CDU und FDP am 30.9.2010 den Schlossgarten räumen und friedlich Demonstrierende verprügeln, mit Pfefferspray blenden und mit Wasserwerfern schwer verletzen lassen. Aus Sicherheitsgründen wurden aus harmlosen Kastanien schwere Pflastersteine als Begründung für brachiale Polizeigewalt, die unserem Dietrich Wagner das Augenlicht raubte. Aus Sicherheitsgründen hat ein uns allen wohl bekannter Polizeibeamter, Spitzname Prügelglatze, vorbeugend zugeschlagen, weil er dachte, er werde demnächst angegriffen. Aus Sicherheitsgründen wurde der Polizeieinsatz am Tag vorher auf eine Uhrzeit vorverlegt, zu der Kinder und Jugendliche im Park sein würden. Aus Sicherheitsgründen mischte sich Stefan Mappus bei dieser Besprechung in seinem Staatsministerium nicht ein. Aus Sicherheitsgründen hat seine Regierung trotz Baumfällungsverbots die unter Schutz stehenden, alten ehrwürdigen Bäume fällen und schreddern lassen. Und aus Sicherheitsgründen hat man mit staatlicher Gewalt vielen Menschen ein für alle Mal das Protestieren ausgetrieben.
Übrigens soll es Polizeigewalt aus Sicherheitsgründen immer noch geben, wie gerade ein Forschungsprojekt der Universität Bochum zutage gebracht hat. Man geht von 12.000 Fällen polizeilicher Gewalt im Jahr aus. Dem stehen aber nur 50 Fälle gegenüber, die überhaupt vor ein Gericht gebracht werden. Die meisten Fälle werden schon gar nicht angezeigt, fast alle angezeigten Verfahren von den Staatsanwaltschaften eingestellt. Einer von uns behauptet sogar, aus Sicherheitsgründen habe eine Polizeibeamtin frei erfunden, dass er ihr bei einem Einsatz während einer Demo Pfefferspray habe entwenden wollen. Nicht erfunden sei jedenfalls, dass sie ihn in den Bauch geschlagen habe. Das Verfahren gegen die Polizistin wurde mit der Begründung eingestellt, es stehe Aussage gegen Aussage, gegen unseren Mitstreiter aber läuft trotzdem noch ein Verfahren wegen versuchten Diebstahls.
Zurück zum 30. September: Aus Sicherheitsgründen fertigten Mitglieder des Führungsstabes im Landespolizeipräsidium Vermerke über ein Telefonat mit Bernhard Bauer wegen des Baumfällungsverbotes des Eisenbahnbundesamts. Bernhard Bauer war damals unter Tanja Gönner der Amtschef des Umwelt- und Verkehrsministeriums und wurde neulich aus Sicherheitsgründen zum Vorsitzenden des Vereins Bahnprojekt Stuttgart-Ulm e.V. gewählt. Nach einem Vermerk von 23.47 Uhr, den ich im Innenministerium gefunden habe, verhinderte Bauer am 30.9.2010 die Durchsetzung des Baumfällungsverbotes dadurch, dass er dem Führungsstab die Auskunft gab, es handle sich um Gerüchte. Aus Sicherheitsgründen nenne ich das kein Umweltverbrechen. Übrigens soll Bauer als Amtschef auch angeordnet haben, dass aus Sicherheitsgründen kein Protokoll über eine wichtige S21-Besprechung angefertigt werden sollte.
Wo nichts ist, da kann man auch nichts nachweisen. Und so ließ Stefan Mappus aus Sicherheitsgründen seine Emails löschen. Damit war mein davor gestellter Antrag, mir in diese Einsicht zu gewähren, elegant erledigt. Aus Sicherheitsgründen fiel Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler bei seiner Zeugenaussage im Wasserwerferprozess nicht mehr ein, dass er selbst Fälle von Kindern und Jugendlichen bearbeitet hatte, die am Schwarzen Donnerstag beim Polizeieinsatz verletzt worden waren. Genau wie den Wasserwerferbesatzungen aus Sicherheitsgründen am 30.9. nicht eingefallen war, dass Wasserstöße gegen diese jungen Menschen verboten sind. Sicherheitsgründe sind es auch, die bislang die Einführung der Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte verhindert haben. Wenigstens hat aber das Verwaltungsgericht Stuttgart trotz aller Sicherheitsgründe festgestellt, dass der Polizeieinsatz im Schlossgarten rechtswidrig war.
Wir wollen jedoch nicht in der Vergangenheit stehen bleiben wie die Ewiggestrigen, die das klimaschädliche Projekt aus dem letzten Jahrtausend unbedingt durchboxen wollen. Deshalb auch einmal eine positive Nachricht: Vor Jahren hatte ich Euch von einer Wasserwerferkonferenz in Südkorea berichtet. Damals war der Anlass, dass der Anführer einer Demonstration in Seoul von einem Wasserwerfer so schwer verletzt wurde, dass er ins Koma fiel und später verstarb. Als ich vergangenes Jahr wieder in Seoul war, erfuhr ich, dass nicht zuletzt auch als Folge der damaligen Konferenz die Politik in Südkorea reagiert hatte und Wasserwerfer dort abgeschafft sind. Ein leuchtendes Beispiel. Da könnten sich andere Staaten eine dicke Scheibe abschneiden, wobei ich auch unsere Politik meine. Bislang findet diese nichts dabei, deutsche Wasserwerfer nach Hongkong zu liefern, die dort gegen friedliche Demonstranten eingesetzt werden.
Und dann war ich kürzlich auch in Luxemburg beim Europäischen Gerichtshof, um die Verhandlung über die Klage der Deutschen Umwelthilfe gegen den Freistaat Bayern zu beobachten. Und da war ich doch perplex über das Vorbringen der Bayern. Diese beschwerten sich darüber, dass man Zwangshaft gegen die Personen anordnen will, die verantwortlich sind für die Missachtung des europäischen Rechts und der bayerischen Gerichtsurteile. Es sei völlig unverhältnismäßig, den für diesen Rechtsbruch verantwortlichen Politikern und Beamten, angefangen vom Regierungspräsidenten bis hin zu Ministerpräsident Söder, die persönliche Freiheit für Wochen zu rauben. Leider wies im Gerichtssaal niemand darauf hin, dass dieselben Verantwortlichen kein Problem damit haben, nach dem bayerischen Polizeigesetz Menschen, die bisher noch nichts angestellt haben, als sogenannte Gefährder vorbeugend und im Extremfall lebenslänglich in Schutzhaft zu nehmen. Vielleicht sollte man einmal prüfen, ob diejenigen, die durch Missachtung von Recht und Gesetz die Axt an die Wurzeln des Rechtsstaats legen, nicht auch unter die Gefährder einzureihen sind.
Bemerkenswert fand ich auch die Formulierung in einem Strategiepapier der Deutschen Bahn AG aus dem Jahr 2010. Um dieses sehen zu dürfen, musste ich aus Sicherheitsgründen bis zum Bundesverwaltungsgericht in Leipzig klagen. Immerhin wissen wir jetzt, dass die Deutsche Bahn AG direkt vor dem Schwarzen Donnerstag mit ihrer tollen Strategie, die in dem Papier beschrieben wird, „die Lufthoheit über die Stammtische zurückgewinnen“ wollte (wörtliches Zitat). Vielleicht hätte sie sich besser darum gekümmert, mit einer ordentlichen Strategie die Lufthoheit über ihre verstopften Toiletten wiederzugewinnen.
Aus Sicherheitsgründen hat übrigens unser Innenminister Thomas Strobl trotz unserer mehrfachen Anfragen nicht verraten, wie er denn im Falle eines Terrorangriffs auf den Tiefbahnhof die Menschen retten lassen will, falls die vorgesehene Entfluchtung über den S-Bahnhof bei einem Anschlag auf beide Ziele nicht funktioniert. Für ganz unwahrscheinlich halten wir einen derartigen Angriff auf Stuttgart leider nicht, weil die Terroristen wissen, dass hier vom Africom aus die Drohnenangriffe der USA mit organisiert werden.
Das alles ändert aber nichts an unserem Mut und unserer Entschlossenheit, denn es gibt zum Glück auch Erfreuliches zu berichten. Ich finde es toll, dass Ihr auch nach neun Jahren immer noch des Schwarzen Donnerstags gedenkt und viele von Euch jeden Montag ihre Haltung auch öffentlich zeigen. Begeistert bin ich von der Solidarität untereinander und mit anderen Menschen, die für eine bessere und gerechte Welt kämpfen, wie gerade beim Klimastreik. Vor allem möchte ich auch den Menschen danken, die nun schon so viele Jahre die Mahnwache rund um die Uhr betreiben und wertvolle Arbeit leisten.
Schließen möchte ich mit dem Wunsch, dass wir alle aus Sicherheitsgründen – oben bleiben!