Rede von Gerd Ratgeb, Leiter des Projekts POEMA („Armut und Umwelt in Amazonien“), auf der 473. Montagsdemo am 22.7.2019
Als ich vor fünf Jahren hier gesprochen habe, ging es um die Probleme bei Großprojekten weltweit. Hier natürlich um S21 und in Brasilien u.a. um das drittgrößte Wasserkraftwerk der Welt Belo Monte im Amazonasgebiet.
Es waren und sind Projekte, die nicht demokratisch legitimiert sind und weder ökologischen noch ökonomischen Mindeststandards entsprechen. Nicht die Menschen im Land haben davon profitiert, sondern Interessengruppen wie Banken, Baufirmen und viele korrupte Politiker. Es sind bekannte Seilschaften, die solche Projekte auf den Weg bringen und sie wissentlich mit falschen Zahlen politisch durchsetzen. Weder bringt das Kraftwerk Belo Monte die versprochene Leistung, noch leistet der Stuttgarter Tiefbahnhof die angekündigte Zahl an Zugbewegungen, und dies alles bei Kostensteigerungen ohne Ende. Schon längst müsste gegen die Treiber dieser Projekte ermittelt werden – wegen Untreue und Betrug!
Interessant und nicht zu verschweigen dabei ist, dass die Projekte in Brasilien und in Stuttgart von sozialdemokratischen Parteien forciert und letztlich mit durchgesetzt wurden. Wo ein klarer Blick in die Notwendigkeiten der Zukunft angebracht wäre, sehen sie in der Menge von Beton und in der Länge von Tunnels die Zukunftsfähigkeit des Landes. Diese Politik ist zwar beton-, aber nicht enkeltauglich. Und auch so mancher grüne Funktionsträger sollte sich schamhaft in den Tunneln verstecken, wenn unsere Enkel fragen: „Wie konnte denn der Kretschmann davon reden, dass der Käse gegessen ist? Er stinkt doch heute noch zum Himmel!“
In Brasilien lief die Geschichte ganz anders. Da nutzten rechtsradikale ältere Männer und ein korrupter Richter die Krise der Arbeiterpartei dazu, den beliebten Ex-Präsidenten Lula ins Gefängnis zu stecken und seine Nachfolgerin Rousseff durch einen kalten Putsch abzusetzen. Sie sahen die Möglichkeit gekommen, sich Brasilien wieder anzueignen und die sozialen Verbesserungen durch die Arbeiterpartei ins Visier zu nehmen. Unter Lula wurde der Mindestlohn erhöht, Sozialprogramme eingeführt, Schwarze hatten leichteren Zugang zu Unis und Minderheiten wurden respektiert. Die Zivilgesellschaft konnte sich entwickeln, auch wenn die Kritik an der Umwelt- und Regenwaldpolitik von der Arbeiterpartei nie ernst genommen wurde. Deshalb ist die Umweltministerin Marina Silva auch sehr bald zurückgetreten.
Und auch in der Frage der Landreform gab es unter der Arbeiterpartei keine Fortschritte. 20 Millionen ha Land z.B. gehören gerade mal 20 Großgrundbesitzern, während sich 3,3 Millionen Kleinbauern dieselbe Fläche teilen. Man fühlt sich in die Kolonialzeit zurückversetzt.
Wahlentscheidend waren allerdings die nicht nachlassende Gewalt im Land sowie die Korruptionsaffären, in die auch die Arbeiterpartei verwickelt war. Das hat das Fass zum Überlaufen gebracht und im Verein mit privaten, rechtslastigen Medien und Whatsapp-Orgien einen Bolsonaro ermöglicht.
Jetzt stellt sich heraus, dass der Richter Moro mit der Staatsanwaltschaft offensichtlich gekungelt und Absprachen getroffen hat, wie es am sichersten zu erreichen ist, Lula ins Gefängnis zu bringen, um damit seine Teilnahme an der Präsidentenwahl unmöglich zu machen. Hätte er kandidiert – so alle Umfragen – hätte der rechtsradikale Bolsonaro gegen ihn keine Chance gehabt. Auch deshalb, weil alle anderen maßgeblichen Politiker noch viel tiefer im Sumpf der Korruption stecken. Zur Belohnung für diese Machenschaften wurde der Richter Moro von Bolsonaro zum Justizminister ernannt – nach dem bekannten Motto: eine Hand wäscht die andere.
Auf dieser kriminellen Basis wurde also die Wende eingeleitet. Soziale Bewegungen werden kriminalisiert, die Landrechte der Indigenen in Frage gestellt, Minderheiten beleidigt, die Regenwälder der weiteren Ausbeutung und Zerstörung freigegeben und die Voraussetzung dafür geschaffen, dass noch mehr Waffen in Umlauf kommen, in einem Land, das jetzt schon zu den gewalttätigsten Ländern weltweit gehört. Bolsonaro soll Ordnung schaffen, die Gewalt eindämmen und die Korruption beenden. Diese Illusion hatten viele und zusammen mit dem Hass auf die Arbeiterpartei konnte so der Bock zum Gärtner gemacht werden. Dazu kam die Unterstützung der evangelikalen Kirchen, des Militärs, der Agrar-Lobby und der Großgrundbesitzer.
Anzumerken wäre allerdings, dass die Zerstörung des Regenwaldes nicht mit Bolsonaro beginnt. Die Militärs waren es, die schon in den 60er Jahren zum Angriff auf die Wälder aufgerufen haben. Die Nachfolgeregierungen, einschließlich der Arbeiterpartei, waren auch nicht die großen Waldschützer und haben zugelassen, dass heute über 20 Prozent des Regenwaldes in Amazonien unwiderbringlich zerstört sind.
Und wir in Europa sind auch mit dabei, wenn es darum geht, die Wälder auszubeuten. Ob Holz, Rindfleisch, Soja, Palmöl oder Eisenerz und Mineralien – alles importiert für unser Wachstum und unseren Wohlstand.
Grund für die Abholzungen sind hauptsächlich wirtschaftliche Interessen. Eine der Hauptursachen für die Waldzerstörung ist die Fleischproduktion und der Sojaanbau. Die Ölbohne wird nicht nur nach China, sondern auch in die EU exportiert. Allein 2017 35 Millionen Tonnen. Dafür sind 13 Millionen Hektar erforderlich – fast die landwirtschaftliche Nutzfläche Deutschlands.
Und viele Konsumenten essen gerne die Steaks aus Südamerika, kaufen Tropenholz für Terrassendielen, Bauern verfüttern Soja hauptsächlich an Schweine, wir holen die Kohle aus Kolumbien, Coltan vom Kongo, importieren Lithium für unsere Batterien und Handys aus Bolivien, Chile und Argentinien und schütten heute noch Palmöl aus Malaysia in unsere Autotanks. Dies alles mit üblen Folgen für die Natur und die Lebensräume indigener Völker auf der ganzen Welt.
Nicht wenige unserer Freunde in Amazonien sagen zu uns: Wir erleben gerade die zweite Welle der Kolonialisierung. Vor 500 Jahren habt ihr die Indigenen getötet um an das Gold und Silber, die Baumwolle, das Zuckerrohr und den Kaffee zu kommen und heute beutet ihr unser Land wieder aus, um euren Wohlstand und das immerwährende Wachstum zu sichern.
Rolf Gössner von der Internationalen Liga für Menschenrechte sagt es im Buch: „Todesursache Flucht“ so: „Es wird keinen nachhaltigen Frieden und keine soziale Gerechtigkeit geben ohne eine radikale Änderung der aggressiven Wirtschafts- und Agrarpolitik, der ausbeuterischen Welthandels- und Rohstoffpolitik sowie der bisherigen Sozial- Umwelt- und Klimapolitik. Denn es sind gerade auch die kapitalistische Wirtschaftsweise und unser westlicher Konsum- und Lebensstil, die anderswo töten und Menschen zur Flucht zwingen.“
Es funktioniert also nicht, unsere Hände in Unschuld zu waschen. Die Kosten unseres Lebensstils werden von Millionen armer Teufel im Süden der Welt bezahlt, von den Näherinnen in Indien, den Bergbauopfern in den Minen Brasiliens und des Kongo, den Bananenpflückern in Mittelamerika, den vertriebenen Urvölkern in aller Welt, den Flüchtlingen in den Gemüsefeldern Südspaniens und von den Landarbeitern aus Osteuropa, die für uns den Spargel und die Erdbeeren ernten. Vor den Regalen bei Aldi und Lidl, den klimatisierten Verkaufsräumen von Daimler und VW und den Kleiderregalen im Milaneo ist nichts zu sehen und zu spüren von den Menschenrechtsverletzungen, denen die Arbeiter und Arbeiterinnen alltäglich ausgesetzt sind. Die Frage ist, ob wir sie überhaupt sehen wollen.
Im Zusammenhang mit der Erderhitzung wird immer noch das Verschwinden von Regenwäldern unterschätzt und viel zu wenig gesehen. Dabei spielen die Regenwälder für das Weltklima eine entscheidende Rolle. Wenn die Sonne auf den Amazonas-Regenwald scheint, setzt ein faszinierender Effekt ein: Feuchtigkeit verdunstet in riesigen Mengen über den Flüssen und Wäldern. Die sogenannten „fliegenden Flüsse“ entstehen. Dabei kann ein einzelner Baum 1000 Liter Wasser pro Tag abgeben. Diese gigantischen Mengen Feuchtigkeit werden in riesigen Wolken gebunden und sorgen für die Kühlung der globalen Atmosphäre. Weltweit absorbieren die Regenwälder rund 30 Prozent des von Menschen verursachten Ausstoßes von Treibhausgasen – mehr als elf Milliarden Tonnen pro Jahr.
Der Regenwald ist allerdings nicht nur für das Klima von großer Bedeutung. Die gigantische Artenvielfalt geht verloren, wenn die Rodungen weitergehen, genauso wie die Lebensräume von Kleinbauern und indigenen Völkern. Die Natur und unsere Mitwelt verarmen zusehends.
Doch der rechtsextreme Präsident Brasiliens Bolsonaro wird nicht alles auf den Kopf stellen können. Auch er wird an seine Grenzen kommen. Seine Zustimmungswerte sinken jetzt schon ständig – vor allem bei den jungen Menschen. Er stolpert von einer Turbulenz in die nächste und hat schon in den ersten sechs Monaten 19 Spitzenfunktionäre entlassen. Größeren Teilen des Volkes bleibt nicht verborgen, was hinter der Politik der Militärs, der evangelikalen Kirchen, der Bergbaufirmen und Agrarkonzerne steckt: die gnadenlose Ausbeutung des Landes, Exporte vor allem nach China und Europa und das immer wieder versuchte Ausschalten der Kritiker dieser Politik. Doch die Opposition wird sich neu finden und organisieren und im Verein mit der Sozial- und Umweltbewegung Widerstand leisten. Erst vor einigen Wochen waren Hunderttausende auf den Straßen und haben gegen die Kürzungen im Bildungshaushalt protestiert. Ein Generalstreik legte das Land lahm, die Rentenpläne der Regierung werden attackiert und auch das Parlament und die Justiz verhindern die Umsetzung mancher Dekrete Bolsonaros.
Viele Gruppen in Deutschland und Europa stehen wie wir von POEMA im Kontakt mit indigenen Völkern, Kleinbauern, progressiven Kirchenleuten und sozialen Bewegungen wie der Bewegung der Landlosen. Wir unterstützen sie und ermöglichen konkrete Projekte im Bereich Bildung, Solarenergie, Trinkwasserversorgung und Wiederaufforstung. Wir hoffen, dass dies auch weiterhin möglich sein wird und können noch nicht genau abschätzen, wie die Regierung sich zukünftig gegenüber den ausländischen NGOs verhält.
Was tun? Wir alle können unseren persönlichen Beitrag leisten, indem wir unser Konsumverhalten überprüfen. Schließlich sind wir es ja im globalen Norden, die das meiste CO2 produzieren und zu den Hauptverursachern der Erderhitzung gehören. Die Grundfrage ist, wie wir in den reichen Staaten es schaffen können, unser heutiges Leben zu Lasten zukünftiger Generationen, zu Lasten der Armen und zu Lasten der natürlichen Ökosysteme so umzustellen, dass ein gutes Leben für möglichst alle Menschen erreicht werden kann. Dabei sind die persönlichen Veränderungen im Konsumverhalten wichtig, aber bei weitem nicht ausreichend. Die notwendige Transformation umfasst alle Bereiche und ist nur möglich, wenn die Zivilgesellschaft, also wir alle, den notwendigen Druck entfaltet, um die radikal notwendigen Schritte einzuleiten.
Ein Punkt in diesem Zusammenhang sind die Initiativen von Umweltgruppen und anderen NGOs gegen die unsägliche Handelspolitik der EU mit vielen Ländern der Welt, auch mit Brasilien. Aktuell soll ein neuer Vertrag mit den Mercosur-Staaten abgeschlossen werden mit dem Ziel, noch mehr Rindfleisch, Zucker und Soja aus Südamerika in die EU zu importieren und im Gegenzug noch mehr Autos von VW und Daimler, sowie Ackergifte von Monsanto nach Südamerika zu liefern. Welch ein Irrsinn! Wir produzieren mehr Fleisch als wie brauchen, exportieren den Überschuss nach Afrika und beziehen gleichzeitig noch mehr aus Südamerika, wo Wälder gerodet und das Land mit Monsanto-Giften überzogen wird. So wird der Wahnsinn der Globalisierung und dieser Handelsverträge buchstabiert. In einer Stellungnahme aus Österreich heißt es: „Die geplanten Rindfleischimporte von 99.000 Tonnen aus brasilianischen und argentinischen ‚Rinderfabriken‘ gefährden Bauern, Lebensmittelstandards und Umwelt. In Zeiten der Klimakrise ist es unverantwortlich, noch mehr Güter über Zehntausende Kilometer zu schiffen, die genauso gut bei uns produziert werden könnten. Den Preis zahlt die Umwelt.“
Über alle Bedenken und Forderungen hinweg hat die EU-Kommission die Verhandlungen als abgeschlossen erklärt. 20 Jahre wurde verhandelt und jetzt, mit dem rechtsextremen Bolsonaro, wurde der Deal abgeschlossen, und Angela Merkel war die treibende Kraft dabei, ohne Regeln und Klauseln für Menschenrechte und den Pariser Klimavertrag einzufordern, wie es z.B. die Franzosen getan haben. Dies ist fatal für Klima und Menschenrechte. Wir müssen die Notbremse ziehen und den Abschluss dieses Abkommens stoppen. Noch müssen die 28 Mitgliedstaaten und das Europaparlament den Vertrag billigen. Es ist also noch nicht alles verloren.
Ich glaube, dass wir gerade in einer Zeit leben, in der mehr Menschen als noch vor einem Jahr bewusst wird, dass grundlegende Änderungen anstehen. Dazu gehört, dass wir die zerstörerischen Grundlagen unseres Wirtschaftssystems, das auf den Irrlehren des Neoliberalismus basiert, überwinden und Wirtschaftsformen entwickeln, die auf der Basis von Zusammenarbeit und Kooperation funktionieren , statt auf ewigem Wachstum und Konkurrenz. Was diese Konkurrenz und Geldgier bewirkt, sehen wir wiederum in Brasilien.
Am 25. Janaur 2019 ergossen sich etwa 12 Millionen Tonnen verseuchter Abfälle beim Ort Brumadinho im Bergland von Minas Gerais talabwärts. Die Schlammlawine riss mindestens 300 Menschen in den Tod. Der Minenkomplex, Wohnsiedlungen, Flüsse und die Tropenvegetation wurden bis zu 15 Meter hoch mit dem toxischen Schlamm bedeckt. Der Dammbruch war kein Unfall, sondern ein schweres Verbrechen an Mensch und Natur.
Betreiber der Eisenerzmine ist der brasilianische Konzern Vale, der größte Eisenerzproduzent der Welt. Die Verantwortlichen für die Katastrophe sitzen aber nicht nur in Brasilien, sondern auch in Deutschland. Der TÜV Süd mit Sitz in München hatte den Damm des Absetzbeckens noch im September 2018 als sicher zertifiziert.
Wir beziehen jährlich gut 26 Millionen Tonnen Eisenerz – etwa 58 Prozent der Importe – aus Brasilien. Konzerne wie ThyssenKrupp und die Salzgitter AG stellen daraus Stahl her, aus dem die deutsche Industrie Millionen Autos, Maschinen, Baustahl und viele weitere Konsumgüter für uns und den Export in alle Welt erzeugt. Ein Skandal ist, dass der Bundesregierung bis jetzt freiwillige Unternehmensverpflichtungen reichen, was die Umwelt- und Sicherheitsstandards sowie die Arbeits- und Menschenrechte betrifft.
Das muss sich dringend ändern. Die Regierung und die Wirtschaft müssen die Verantwortung für die Lieferketten tragen und bei Verstößen zur Rechenschaft gezogen werden. Viele NGOs sind am Thema dran und in der heutigen Stuttgarter Zeitung ist zu lesen, dass jetzt auch die Wirtschaftsministerin begreift, dass das Thema auf die Tagesordnung kommen muss. Mal sehen, was aus der Ankündigung wird.
Brasilien und Amazonien zeigen uns, wie wir mit der Welt verflochten sind und wie alles mit allem zusammenhängt. Geographisch ist Brasilien weit weg, ökonomisch aber sehr nah. Die Regenwälder haben eine große Bedeutung für das Weltklima – und das Weltklima wird unsere Welt radikal verändern, wenn wir nicht heute damit anfangen die Wälder zu schützen und grundlegende Veränderungen in Wirtschaft, Verkehr und Landwirtschaft durchzusetzen. Nur wenn wir daran glauben, dass weniger Konsum ein Mehr an Lebensfreude, Solidarität und Gerechtigkeit weltweit bewirken kann, wird uns dies gelingen.
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