Rede von Dr. Winfried Wolf, Verkehrsexperte, Journalist und Herausgeber von ‚LunaPark21‘, auf der 466. Montagsdemo am 27.5.2019
Liebe Freundinnen, liebe Freunde,
wenn ich richtig gezählt habe, dann absolviere ich hiermit in diesem Jahr die dritte Rede auf einer Montagsdemo. Ergänzend sprach ich auf zwei Veranstaltungen in Stuttgart. Jetzt könnte man sagen: Der Mann hat doch die BahnCard100. Und er ist Schwabe. Der will halt „s´Kärtle abfahren“. Richtig ist, dass ich im letzten Jahr 46.000 km mit der Bahn fuhr. Und dass ich bis Ende Mai 2019 bereits 24.000 km Schiene hinter mir habe, also in diesem Jahr wohl bei gut 50.000 km lande.
Doch ich mache das um der Sache willen. Auch wenn ich – und da bin ich tatsächlich Schwabe – die Fahrten säuberlich notiere und immer prüfe, ob ich ohne BC100 und mit irgendwelchen Lidl- und Aldi- und Toffifee-Tickets – die ja hier Andi Kegreiß so clever für Eure Berlin-Fahrten organisiert – günstiger (wenn auch mit erheblich mehr Stress) bahnfahren würde.
Heute Nacht saß ich bis 3 Uhr früh vor dem TV-Bildschirm und am Rechner, um eine Wahlanalyse für eine Internet-Plattform schreiben.[1] In meiner Bilanz haben wir mit dem gestrigen Wahltag eine dreifache Erschütterung erlebt.
Erschüttert wird – erstens – das Projekt der EU. Dieses Projekt hat inzwischen für mich wenig Positives. Es steht zunehmend für Demokratieabbau, für Spardiktat und für Militarisierung. Dieses EU-Projekt der selbst ernannten Eliten, der Konzerne und Banken, wird erschüttert durch den Niedergang der sogenannten Volksparteien und dadurch, dass die „Achse“ Berlin-Paris mit der gestrigen Wahl einen massiven Knacks erhielt. In Frankreich wurde die rechtsextreme Partei von Marine Le Pen die stärkste politische Kraft. In Deutschland steht hinter der Schein-Großen Koalition nur noch eine Minderheit in der Bevölkerung.
Erschüttert wurde – zweitens – die deutsche Bundesregierung. Hinter CDU/CSU und SPD stehen inzwischen addiert nur noch 44,7 Prozent. CDU/CSU und SPD sind notorische Verlierer-Parteien: Sie hatten bereits bei der Bundestagswahl 2017 verloren. Sie haben bei der Landtagswahl in Hessen krachend verloren. Und jetzt haben sie die EU-Wahl vergeigt. Das dürfte noch erhebliche Konsequenzen haben, wohl auch personelle.
Erschüttert wurde – zum dritten – die EU (und dabei nicht zuletzt unser Land) – durch den weiteren massiven Vormarsch der Rechtsextremen. In meinem Bundesland Brandenburg und in Sachsen wurde die AfD die stärkste Kraft. In den anderen ostdeutschen Ländern Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern ist sie hinter der CDU die Nr. 2. Die Rechtsextremen sind nicht nur in Frankreich stärkste Kraft. Sie stellen mit Fidesz in Ungarn und mit PiS in Polen die Regierungen – und legten jeweils zu. In Österreich verlor die FPÖ trotz des unglaublichen „Ibiza-Videos“ nur wenig. Die ÖVP mit Sebastian Kurz an der Spitze, die die rassistische, rechtsextreme FPÖ hoffähig gemacht hat, legte nochmals zu. In Italien hat die rassistische, rechtsextreme Partei Lega mit Salvini an der Spitze massiv an Stimmen gewonnen. In diesem großen EU-Mitgliedsland droht eine politische, eine wirtschaftliche und eine Finanz-Krise.
Leute, die Euch und mich nicht kennen, könnten fragen: Und was hat das alles mit Stuttgart 21 zu tun? Meine Antwort: Das hat zunächst mit dem zivilgesellschaftlichen Engagement gegen S21 insofern zu tun, als wir auch eine politische und nicht allein eine umweltpolitische Bewegung sind. Wir stehen auch für Demokratie, gegen Militarisierung, gegen Ausgrenzung und für internationale Solidarität. Sodann hat das mit uns zu tun, weil der Aufstieg der rechtsextremen Parteien gleichbedeutend ist mit dem Aufstieg von Kräften, die den Klimawandel leugnen. Mit Kräften, die als Ellbogen-Parteien die kapitalistische Politik befürworten, die den Planeten Erde unwirtlich werden lässt und die hunderte Millionen Flüchtlinge „produzieren“ muss. Mit Kräften, die diesen Weg in Richtung des „jeder gegen jeden“ und in Richtung Abgrund bewusst befördern.
Die AfD ist letztlich auch eine Partei der Betonlobby, der Diesel-Pkw-Verharmloser und der Mafia der Autokonzerne. Bei Stuttgart 21 kritisiert die AfD ab und an, dass hier Steuergelder verschleudert werden würden. Doch die AfD-Leute wollen diese Steuergelder dann für noch mehr Straßenbau bei gleichzeitig deutlich weniger ÖPNV einsetzen.
Übrigens: Der Aufstieg der rechten Lega in Italien dürfte bedeuten, dass die Atempause, die unsere Freundinnen und Freunde im Val di Susa beim Kampf gegen den absurden Alpentunnel zwischen Lyon und Turin erreicht haben, bald beendet ist. Dort herrscht seit einigen Monaten ein Baustopp –
- weil die Bewegung gegen das Tunnelprojekt auf der italienischen Seite stark ist,
- weil eine Tunnelbaugegnerin in Turin Bürgermeisterin wurde
- und weil die zweite Regierungspartei in Rom, die Cinque Stelle, zumindest offiziell gegen das zerstörerische Großprojekt ist, und diese bisher den Verkehrsminister stellt.
Doch die Lega fordert den Bau des Tunnels. Und sie geht jetzt – nach ihrem Wahlerfolg – in die Offensive. Sie wird wohl – nicht zuletzt bei diesem Thema – die Regierungskoalition in Rom sprengen.
Vor knapp 10 Tagen gab es das sensationelle Polit-Video des Youtubers Rezo. Darin fordert er die „Zerstörung der CDU“. Inzwischen haben rund 12 Millionen Menschen das Video aufgerufen. Das ist Rekord auf diesem Gebiet. Und das ist ein wunderbares Coming Out dieses Youtubers, der bislang eher unpolitisch unterwegs war.
Kurz vor der EU-Wahl, am 24. Mai, veröffentlichte Rezo ein neues Video. Eingeleitet mit „Dies ist ein offener Brief, ein Statement“ präsentierte der Mann mit der blauen Tolle mehr als neunzig Youtuber. Sie unterstützen alle die Grundaussagen im ursprünglichen Rezo-Video, wonach CDU und SPD inkompetent sind und die Zukunft verspielen. Das neue Video war mehr noch als das Ursprungsvideo von Rezo ein direkter Wahlaufruf. Darin heißt es gegen Ende: „Wählt nicht die CDU/CSU, wählt nicht die SPD. Wählt auch keine andere Partei, die so wenig im Sinn von Logik und der Wissenschaft handelt und nach dem wissenschaftlichen Konsens mit ihrem Kurs unsere Zukunft zerstört. Und wählt schon gar nicht die AfD, die diesen Konsens sogar leugnet.“
Damit riefen Rezo und das Youtuber Großorchester dazu auf, Grüne und LINKE zu wählen. Dieser Aufruf hat sicher mit zur massiven Wahlniederlage von CDU/CSU und SPD beigetragen. Und er hat offensichtlich auch den Aufstieg der Grünen begünstigt.
Ja, die Grünen haben massiv zugelegt. Sie konnten ihr Wahlergebnis gegenüber der letzten EU-Wahl auf mehr als 20 Prozent verdoppeln. Das gilt im Übrigen nur für wenige EU-Mitgliedsländer. EU-weit liegen die Grünen bei lediglich 9,3 Prozent.
Der Erfolg der Grünen bei uns hat sicher vor allem damit zu tun, dass das Thema „Klimawandel“ inzwischen zum wichtigsten aller Polit-Themen aufrückte. Das ist auch ein Verdienst der Fridays-for-Future-Bewegung und der Aktionen der Extinction-Rebellion-Bewegung. Millionen Menschen, für die die Klimafrage das förmlich brennende, zentrale Problem ist, sahen offensichtlich nur eine Möglichkeit, ihre Position für eine wirksame Klimapolitik zum Ausdruck zu bringen: indem sie für die Grünen stimmten.
Die LINKE hat hier bedauerlicherweise auf Bundesebene nicht gepunktet. Sie erreichte 5,5% der Stimmen (das sind minus 1,9 Prozentpunkte). Bernd Riexinger, Parteichef der Linken, argumentierte gestern, EU-Wahlen seien für die LINKEN „schon immer ein schwieriges Feld“ gewesen. Das ist eigentlich tragisch. Wo links doch eigentlich für internationalistische Projekte und für internationale Solidarität steht.
So gut die LINKE oft vor Ort ist, so gut eine Verkehrs- und Bahnpolitik ist, für die Sabine Leidig steht, und so gut es ist, dass hier in Stuttgart die LINKE und SÖS wohl wieder zusammen auf rund zehn Prozent Stimmenanteile kommen, so ist diese LINKE vielerorts doch auch schillernd.
Ich hab gestern – Wahlgeheimnis hin oder her – brav bei der LINKEN meine Kreuzchen gemacht (wir hatten in meinem Ort in Brandenburg vier Wahlen gleichzeitig). Doch ich weiß auch: Der fortgesetzte Braunkohleabbau in Brandenburg wird von der LINKEN, die zusammen mit der SPD die Regierung stellt, deutlich befürwortet. Obgleich viele die LINKE vor vier Jahren wählten, weil sie für einen schnellen Ausstieg aus der Braunkohle warb. Doch das war damals.
Doch so schillernd das bei der LINKEN ab und an aussieht. Es schillert doch weit heftiger bei Grüns: Was machten die Grünen in NRW, wo sie bis zum Mai 2017 Regierungspartei waren? Genau! Sie stimmten für das Abholzen des Hambacher Forstes. Und damit für das grüne Licht zum Braunkohleabbau durch RWE.
Was machen die Grünen in Hessen, wo sie seit mehr als fünf Jahren Regierungspartei sind und seit mehr als fünf Jahren den Verkehrsminister stellen? Genau! Sie betreiben den Ausbau des Rhein-Main-Airports, wogegen unsere Freunde vor Ort, Montag für Montag – so wie wir hier gegen S21 – demonstrieren. Grün heißt hier: Massive Begünstigung von CO-2-Emmissionen und damit Beschleunigung des Klimawandels.
Was betreiben die Grünen in Hamburg, wo sie seit Jahren mit in der Regierung sitzen? Genau! Sie betreiben den Neubau des Kohlekraftwerks Moorburg, das allein einen CO2-Ausstoß von jährlich 8,5 Millionen Tonnen hat. Grün heißt hier: Massive Beschleunigung des Klimawandels. Nebenbei betreiben die Grünen in Hamburg auch die Ausbaggerung der Elbe, was die schädliche Globalisierung und die Containerschifffahrt beschleunigt und die Deichsicherheit in Niedersachsen gefährdet. Sie leisten auch keinen Widerstand gegen die Zerstörung des Bahnhofs Altona zugunsten eines gigantischen Immobilien-Projekts.
Was betreiben die Grünen bundesweit? Genau! Sie treten für die massive Förderung von Elektroautos ein. Sie fördern damit eine nochmals höhere Pkw-Dichte vor allem dort, wo es bereits viel zu viele Autos gibt: in den Stadtzentren. Grün heißt hier: Massive Begünstigung von Zweit- und Drittwagenbesitz und damit Beschleunigung des Klimawandels.
Und was betreiben die Grünen in Stuttgart? Genau! Seit zehn Jahren sagen Sie uns: Eigentlich waren wir gegen Stuttgart 21. Doch jetzt – 2012, 2015, 2017, 2019 … - können wir nichts mehr gegen das Projekt machen. Vor zwei der drei Jahren, ja damals hätte man, wenn man all das gewusst hätte, noch aussteigen können.
Übrigens: Die gleichen Grünen, die auf EU-Ebene sagen, die Briten sollten doch bitte nochmals zum Thema Brexit abstimmen … und sie sollten so lange abstimmen, bis das Ergebnis stimmt – die gleichen Grünen sagen: Die S21-Abstimmung aus dem Jahr 2011 hat Gültigkeit – für immer, ewig und noch drei Tage länger.
Am 21. Mai erschien in der Stuttgarter Zeitung ein Interview mit dem Bahnchef Richard Lutz. Er wurde darin von Thomas Wüpper, der in seinen Fragen gute Fakten lieferte, wie folgt gefragt: „Nach Ihrer vertraulichen Agenda muss die DB AG allein bis 2023 rund 3,3 Milliarden Euro und damit das Sechsfache des Jahresüberschusses für Stuttgart 21 aufbringen. Wie soll das gehen?“
Die Antwort von Lutz: „Wir haben die gesamten Mehrkosten […] vollständig mit höheren Eigenmitteln und mit höherer Verschuldung hinterlegt.“ Im Übrigen wolle er aber weiterhin „mit unseren Projektpartnern klären, wie die Mehrkosten verteilt werden können.“
Der Bahnchef akzeptiert damit die von Wüpper genannten Fakten – S21 kostet die DB enorme zusätzliche Gelder; Stuttgart 21 ist damit die sprichwörtliche Grube ohne Boden. Er sagt explizit, S21 müsse mit einer noch höheren Verschuldung der DB „bezahlt“ werden. Und er droht damit, dass das grün regierte Land Baden-Württemberg, dass die grün dominierte Region Stuttgart und dass die grün regierte Stadt Stuttgart die Mehrkosten von Stuttgart 21 – die nicht mehr gedeckelt sind! – wird bezahlen müssen.
All das heißt im Klartext: Die Grünen, die hier überall das Sagen haben beziehungsweise die zumindest personell mit Winfried Kretschmann, mit Winfried Hermann und mit Fritz Kuhn entscheidende Verantwortung tragen, und die Umwelt- und Verkehrsverbände, die die Grünen hier unterstützen, also die Landesverbände von BUND und VCD, sind mitverantwortlich für ein Projekt, das
- den Deutschlandtakt in Stuttgart und für den Südwesten verhindert,
- das ein Fass ohne Boden ist und die Steuerzahlenden in Land, Region und Stadt noch Milliarden Euro kosten kann,
- das nicht absehbare Schäden in Stadt und Land verursacht. Siehe die Obertürkheimer Wasser-Spiele. Siehe die Rissbildungen im Kerner-Viertel. [2] Staufen im Breisgau lässt grüßen!
Die Grünen in Land und Stadt unterstützen damit auch ein lokales zerstörerisches Großprojekt, das auf Bundesebene einen gewaltigen Flurschaden anrichtet: Ein Projekt, das die unverantwortliche Verschuldung der Bahn vorantreibt und damit die Krise der Deutschen Bahn AG beschleunigt. Ein Projekt, das den Abbau von Schiene bundesweit befördert. Ein Projekt, das damit Verkehr von der Schiene auf die Straße und in die Luft lenkt und auch hier den Ausstoß von CO2 und den Klimawandel beschleunigt.
Was bleibt? Der Protest gegen die klimazerstörende Politik muss nach den Urnengängen vor allem auf die Straßen und Plätze getragen werden – mehr als je zuvor. Wir sollten den Youtuber Rezo nach Stuttgart einladen, damit er sich ein Bild von der Politik der großen S21-Koalition von CDU, SPD, FDP und Grünen mache kann. Wir sollten die Youtuber-Gemeinde dazu einlade, für uns hier und für die Friday-Demos bundesweit einen Song zu schreiben mit dem Titel – genau:
OBEN bleiben!
Anmerkungen:
[1] Meine ausführliche Wahlanalyse findet sich hier:
https://kenfm.de/tagesdosis-27-5-2019-die-erschuetterungen-des-wahltags-vom-26-mai-2019/
[2] Am 21. Mai 2019 berichtete die Stuttgarter Zeitung, dass „bei den Anwohnern des Kernerviertel“ im Zentrum von Stuttgart „die Alarmglocken schrillen“. Anlass ist die Ankündigung der Bahn, „einen beim Tunnelbau für Stuttgart 21 beschädigten Teil des Hauses Kernerstraße 30 abzureißen.“ Berichtet wird darüber, dass „weitere Gebäudeeigentümer an der Kerner- und an der Werastraße Bauschäden melden“ würden. Weiter heißt es dort: „Unter dem Kernerviertel verzweigen sich die vom künftigen Bahnhof kommenden Tunnel in vier Röhren ins Neckartal und auf die Filder.“ Siehe: https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.hausschaeden-durch-stuttgart-21-bewohner-des-kernerviertels-fordern-bahn-infos.d0758823-6f01-49cd-8c91-e5e153e6e508.html?reduced=true
Neues Buch von Winfried Wolf: „Mit dem Elektroauto in die Sackgasse“. U.a. erhältlich an der Mahnwache.
Dass Winfried Wolf die Grünen, den BUND und den VCD für S 21 verantwortlich macht, ist absoluter Schwachsinn.Der VCD Stuttgart ist übrigens Mitglied im Aktionsbündnis gegen S 21. So kann amn die Bewegung gegen S 21 auch schwächen. Ich frage mich, warum er das macht.
Christoph Link
VCD KV Stuttgart e.V.
Kommentar von Winfried Wolf, eingestellt vom BAA-Team: