Rede von Karlheinz Rößler, Verkehrsberater, auf der 463. Montagsdemo am 6.5.2019
Liebe Freundinnen und Freunde des Stuttgarter Kopfbahnhofs,
am 18. April 2019, also vor gut 14 Tagen, wurde ‚Stuttgart 21‘ angeblich 25 Jahre alt – ein Jubiläum also. Denn am 18.4.1994 wurden die Pläne für S21 im Landtag von Baden-Württemberg erstmals vorgestellt, also vor einem Vierteljahrhundert. Vorausgegangen war ein Hubschrauberflug von Rommel, Dürr und Teufel über das Gleisfeld des Stuttgarter Hauptbahnhofs.
Diese drei Herren sprühten geradezu vor Begeisterung, als sie von oben sahen, welche riesigen Flächengewinne möglich wären, wenn endlich das ganze „Gleis-Glump“ verschwinden würde. Doch in Wirklichkeit hatten Rommel, Dürr und Teufel nur eine fremde Idee für die eigene ausgegeben, also den ursprünglichen Vorschlag einfach geklaut. Deshalb ist es ein reiner Irrtum, der auch von den Medien geschürt wurde und wird, dass die Idee für Stuttgart 21 im April 1994 erstmals in die Welt gesetzt worden sei.
Man schrieb vielmehr das Jahr 1990, als drei junge Stuttgarter Tüftler, frischgebackene Architekten und Bauingenieure der Universität Stuttgart – sie hießen Hansjörg Bohm, Klaus Gurk und Christian Wendt – an die Öffentlichkeit traten. Sie veröffentlichten damals ihren Vorschlag, den sie „Querdenken“ nannten und den zu diesem Zeitpunkt niemand ernst nahm: Quer zu den heutigen Gleisen des Stuttgarter Kopfbahnhofs soll tief im Untergrund ein neuer Bahnhof entstehen, der es den Zügen endlich erlaubt, geradeaus weiterzufahren, ohne die Fahrtrichtung im Bahnhof – wie umständlich das doch ist! – wechseln zu müssen.
Doch auch diese Schnapsidee war keine eigene Erfindung dieser drei selbsternannten Stadtplaner, sondern einer von ihnen hat sie aus London mitgebracht: Das Büro des Star-Architekten Sir Norman Foster in London arbeitete in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts, also immerhin vor fast 40 Jahren, einen großen Masterplan aus. Nach diesem Masterplan sollten die beiden direkt nebeneinander liegenden Kopfbahnhöfe St. Pancras und Kings Cross in London durch einen riesigen unterirdischen Durchgangsbahnhof quer zu den heutigen Gleisen ersetzt werden. Dieser neue Bahnhof sollte für den Eurostar, von Paris oder Brüssel kommend, nicht nur End- bzw. Startbahnhof sein, sondern auch einen Zwischenstopp auf der damals vorgesehenen Weiterfahrt nach Nordengland und Schottland ohne Fahrtrichtungswechsel erlauben.
Das Hauptmotiv für die geplante Beseitigung der beiden oberirdischen Kopfbahnhöfe bestand allerdings darin, die frei werdende Fläche für eine Vermarktung durch Immobilienhaie zu verwenden. An diesem Masterplan war auch der bereits erwähnte Christian Wendt beteiligt, der nach seiner Rückkehr die für London entwickelte Idee auf Stuttgart übertrug und sie seinen beiden Mitstreitern Bohm und Gurk schmackhaft machte.
Aber was ist aus den Tunnelbahnhof-Plänen für London geworden? Diese sind schon längst „beerdigt“, weil der finanzielle Aufwand selbst für die echte Weltstadt London zu groß und der städtebauliche Nutzen zu gering wäre. Stattdessen wurde der aus der Dampflokzeit stammende, verrußte und relativ kleine Bahnhof St. Pancras vollkommen renoviert und modernisiert und um mehrere Kopfbahnsteig-Gleise erweitert. Er besitzt inzwischen 13 Bahnsteig-Gleise und hat ein helles, licht-durchflutetes Dach, so dass er ein repräsentatives Bauwerk darstellt. Er dient seit einigen Jahren als Start- bzw. Zielbahnhof des Eurostars für die Fahrt nach Paris und Brüssel bzw. von dort und hat somit den früheren Eurostar-Bahnhof Waterloo Station abgelöst.
Falls es sich tatsächlich einmal als wirtschaftlich sinnvoll erweisen sollte, die Eurostar-Züge und möglicherwiese auch ICE-Züge über London hinaus nach Nordengland oder Schottland weiterzuführen, findet problemlos in St. Pancras der Fahrtrichtungswechsel statt. Hierfür wurden Gleisverbindungen zwischen der vom Kanaltunnel kommenden Neubaustrecke und den bestehenden Strecken Richtung Norden baulich schon vorbereitet.
Der benachbarte Kopfbahnhof Kings Cross wurde ebenfalls modernisiert und verfügt jetzt über 11 Bahnsteiggleise, so dass beide Bahnhöfe zusammen nun 24 Kopfbahnsteiggleise besitzen.
Rommel, Dürr und Teufel und viele andere Propagandisten des Stuttgarter Tunnelwahns wollten mit der Zahl ‚21‘ im Projektnamen Stuttgart 21 suggerieren, dass es ein Projekt sei, das genau zum 21. Jahrhundert passt. Denn das 21. Jahrhundert war, als die Idee für das Eingraben der Eisenbahn in Stuttgart entstand, ein Symbol für die Zukunft. Doch mit Zukunft hat S21 nichts zu tun – im Gegenteil: Stuttgart 21 untergräbt geradezu in vielerlei Hinsicht unsere Zukunft, indem es den Treibhauseffekt richtig anheizt, indem es uralte, riesige Bäume im Schloßgarten vernichtete und somit ein Massaker an den besten Klimarettern anrichtete, indem es die gewünschte Zunahme des Personenverkehrs auf der Schiene in Stuttgart verbaut, indem es wegen seiner katastrophalen Sicherheitsmängel zur Todesfalle für Tausende von Fahrgästen werden kann, indem es Steuergelder in Milliardenhöhe sinnlos verpulvert – Geld, das man wesentlich besser und vor allem zukunftsfähiger verwenden könnte.
Stuttgart 21 ist also auch wegen seiner Ignoranz des Treibhausgas-Problems ein Projekt der Vergangenheit. Wegen seiner Geschichte, die ich eingangs kurz beschrieben habe, ist es ein Vorhaben des 20. Jahrhunderts und müsste deshalb ‚Stuttgart 20‘ heißen – das wäre wenigstens ein stückweit ehrlicher als die verlogene Zahl ‚21‘.
Kommen wir nun zurück in die Gegenwart: Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sich immer mehr Menschen – vor allem junge Leute – ernsthafte Sorgen um die Zukunft machen. Denn in der Zukunft droht eine gewaltige Katastrophe, wenn die zunehmende Erdüberhitzung nicht endlich gestoppt wird. Eine Aufforderung von mir in diesem Zusammenhang an Euch alle: Bitte sprecht nicht mehr von „Erderwärmung“ oder „Klimawandel“, denn durch diese Wortwahl wird das gigantische Problem verharmlost bzw. sogar beschönigt. Denn wer kann gegen „Wärme“ oder gegen „Erwärmung“ sein? Wärme ist angenehm, aber „Überhitzung“ ist in jedem Fall schädlich. Und „Wandel“ ist ein neutrales, harmloses Wort, anders als „Katastrophe“. Deshalb sollten wir nur noch Wörter wie „Erdüberhitzung“ und „Klimakatstrophe“ verwenden.
Vor fast 40 Jahren, als die Tunnelbahnhof-Schnapsidee in London aufkam, und vor rund 30 Jahren, als sie auf Stuttgart übertragen wurde, wusste man von der Erdüberhitzung und der daraus resultierenden Klimakatastrophe fast noch nichts. Damals hatte man eher Angst vor einer neuen Eiszeit. Aber inzwischen sind die wissenschaftlichen Hinweise erdrückend, dass der Menschheit und den meisten Lebewesen auf der Erde ein Desaster bevorsteht, wenn nicht endlich das Steuer herumgerissen und die Freisetzung von klima-relevanten Gasen weltweit schnell gestoppt wird.
Noch besser wäre es, zusätzlich möglichst viel Kohlendioxid aus der Atmosphäre wieder zurückzuholen indem man Bäume pflanzt und die vorhandenen, großen Bäume vor dem Abholzen schützt. Bäume sind die wahren Klimaretter und müssen einen absoluten Schutz erhalten. Diese Klimaretter für den Bau von Häusern, Straßen oder Gleise zu fällen, ist ein Frevel, der nie wieder gutzumachen ist.
Den Treibhauseffekt zu stoppen, ist also die wahre Herausforderung für das 21. Jahrhundert! Stuttgart 21 jedoch ist das genaue Gegenteil. Denn allein der Bau von fast 60 km Tunnelröhren inklusive der Tunnelbahnhöfe führt zu einer Freisetzung von fast 2 Millionen Tonnen an Treibhausgas, und zwar im Wesentlichen durch die Herstellung des benötigten Zements und die Erzeugung des Bewehrungsstahls, der dem Beton in den Tunnels erst die erforderliche Stabilität verleiht. Im Übrigen ist die weltweite Zement- und Stahlproduktion für rund 20 % aller Treibhausgasemissionen verantwortlich – kaum weniger als alle Kohle-, Öl- und Erdgaskraftwerke zusammen, deren Abschaltung in Deutschland immerhin langsam eingeleitet wird und leider zu lange dauert.
Aber von einer Abschaltung der klimaschädlichen Zement- und Stahlwerke ist überhaupt keine Rede. Es wird nicht einmal thematisiert, dass Zement und Stahl wegen ihrer CO2-intensiven Herstellung wahre Klimakiller sind! Aber Stuttgart 21, das Projekt aus der Vergangenheit, ist noch aus fünf anderen Gründen Gift für das Klima:
- Weil das nur 8-gleisige Bahnhöfle im Stuttgarter Untergrund einen gewaltigen Rückbau der Kapazität gegenüber dem ursprünglich 17-gleisigen Kopfbahnhof darstellt, können zukünftig gar nicht so viele Züge fahren, wie eigentlich benötigt werden, damit mehr Fahrgäste als heute mit dem Zug nach Stuttgart hinein oder aus Stuttgart heraus fahren können. Es wird deshalb zwangsweise eine große Verkehrsverlagerung von der Schiene auf die Straße stattfinden. Diese zusätzlichen Autofahrten führen naturgemäß zu einem drastischen Anstieg der Treibhausgas-Freisetzung durch die Verbrennungsmotoren.
Wenn es tatsächlich bis zum Jahr 2050 gelingen sollte, dass nur noch Elektroautos unterwegs sind – ein sehr progressives Szenario – werden so noch einmal knapp 2 Millionen Tonnen Treibhausgas in die Atmosphäre geblasen, und zwar zusätzlich zu den Abgasen des Tunnelbaus: Der Treibhausgas-Ausstoß verdoppelt sich also.
Falls die Umstellung auf Elektroautos bis 2050 nicht gelingt, was leider zu befürchten ist und was somit ein pessimistisches oder konservatives Szenario darstellt, kommen gut 4 Millionen Tonnen hinzu. In diesem Fall verdreifacht sich der gesamte Ausstoß an klimaschädlichen Gasen gegenüber dem reinen Bau der S21-Tunnels.
An dieser Aussage ändert sich nur wenig, selbst wenn man nun entgegenrechnet, dass ohne Stuttgart 21 wesentlich mehr Züge fahren können und diese Züge auch zusätzlichen Strom aus vorerst noch konventionellen Kraftwerken brauchen. Insgesamt verursachen diese Züge nur gut 300.000 Tonnen an klimaschädlichen Gasen und tragen somit nur zu einem Bruchteil der Emissionen bei, für welche der zusätzliche Autoverkehr verantwortlich ist.
- Die durch Stuttgart 21 frei werden Gleisflächen sollen bekanntlich mit Häusern zum Wohnen, für Büros und für Gewerbe und mit Straßen und Stellplatzflächen für die vielen Autos der hier wohnenden bzw. arbeitenden Menschen zugepflastert werden. Für diese Bauwerke wird wiederum sehr viel Zement und Bewehrungsstahl verbraucht und diese Baustoffe werden für große Mengen an zusätzlichem Treibhausgas verantwortlich sein. Wieviel insgesamt, müsste in einer eigenen Untersuchung erst noch ermittelt werden.
- Zusätzliche große Mengen an Treibhausgas werden von den Autos der neuen Bewohner und Arbeitnehmer auf den ehemaligen Gleisflächen ausgestoßen, so lange sie noch mit Verbrennungsmotoren oder mit Strom aus Kohlekraftwerken angetrieben werden.
- Durch Heizungen, Klimaanlagen und Warmwasserboiler wird in den neuen Gebäuden auf den heutigen Gleisflächen weiteres Treibhausgas frei, falls Stuttgart 21 realisiert wird.
- Für das kleinräumige Stadtklima wird es geradezu verheerend sein, wenn die vorhandenen Frischluftschneisen über den heutigen Gleisen durch Stuttgart 21 zugebaut werden. Der Stuttgarter Talkessel ist bereits heute in einer extrem ungünstigen Situation, was die Belüftung der Stadt betrifft. Doch dieses Immobilienwahn-Projekt macht alles nur noch schlimmer!
Vielleicht könnte man diesen ganzen Irrsinn noch hinnehmen, wenn die Immobilienhaie selbst für die Kosten von Stuttgart 21, also für die Verbannung der Eisenbahn unter die Erde und für das Freiräumen der Gleisflächen, finanziell aufkommen müssten. Das würde die Bauunternehmen, Wohnungsbaugesellschaften und Immobilien-Spekulanten dann ungefähr 10 Milliarden Euro kosten – so teuer wird Stuttgart 21 bekanntlich nach seriösen Schätzungen, u.a. durch den Bundesrechnungshof – sein. Aber bezahlen müssen dies alles wir, die steuerzahlenden Bürgerinnen und Bürger.
Das heißt im Klartext: Mit unseren Steuergeldern wird die drohende Klimakatastrophe regelrecht subventioniert, anstatt unser Geld in Maßnahmen und in Technik gegen die Erdüberhitzung zu investieren. Falscher als dieses Vorgehen kann Politik kaum noch sein! Oder: Dümmer geht's nimmer!
Hoffnung gibt mir die Schülerbewegung „Fridays for Future“, die voll und ganz zu unterstützen ist. Diese Demonstrationen sind die richtigen Schritte für eine bessere Zukunft oder zumindest zur Verhinderung der großen Katastrophe, die zwangsläufig kommt, wenn es mit den Treibhausgasemissionen so weiter geht wie bisher, auch und gerade durch Stuttgart 21.
Deshalb gilt auch zur Rettung unseres Klimas das Motto: Oben bleiben!
bzgl. Zementproduktion:
ZDF – planet e. – Doku – „Zement – der heimliche Klimakiller“
https://www.zdf.de/dokumentation/planet-e/planet-e-zement—der-heimliche-klimakiller-100.html
(28 min. – vom 13.05.2018 – nur noch verfügbar bis 10.05.2019, 11:00 Uhr!)