Rede von Dr. rer. nat. Hans Peter Münzenmayer, Technikhistoriker, gehalten von Dr. Norbert Bongartz auf der 462. Montagsdemo am 29.4.2019
Liebe Bewunderer einer nachhaltig funktionierenden Technik!
Ich komme nun wieder mit der alten Leier, mögen Sie stöhnen, da ich das Thema auf allen Schauplätzen bereits behandelt habe. Aber ich bringe aus dem SPD-Ortsverein eine ganz neue Erkenntnis mit: Stuttgart 21 ist ein politisches Projekt!
Es passt ja ins Bild, gewisse politische Erwartungen mit dem Projekt zu verknüpfen. Sobald es aber konkret ans Bauen geht, nützt die Politik gar nichts mehr, denn es ist leider gar nicht bekannt, mit welchen politischen Mitteln man ein Bauwerk standsicher, betriebssicher oder zweckmäßig machen kann. Hinter dem Polit-Argument könnte sich die landläufige Ansicht verstecken, in der Technik gäbe es immer verschiedene Möglichkeiten, es müsse nur der politische Rahmen stimmen.
In der Tat, es existieren in der Technik oft unterschiedliche Lösungen, immer aber sind sie sinnvoll und notwendig innerhalb eines größeren Zusammenhangs. Diesen Zusammenhang zu erkennen oder wo notwendig herzustellen, indem man alle Anfangsbedingungen berücksichtigt, nennt man Planung. Bestgeplant würde also allenfalls ein Projekt heißen, bei dem alle Voraussetzungen bekannt, geprüft und in der Zielsetzung beherrschbar sind. Nennen wir einmal einen derartigen Prüffall: Ist im Schwemmland des Neckars sicher mit zusitzendem Grundwasser beim Tunnelbau zu rechnen?
Als 1907 die Umgestaltung der Stuttgarter Eisenbahnanlagen beschlossen wurde, geschah dies aus der Notwendigkeit heraus, den Hauptbahnhof für das gestiegene Verkehrsaufkommen zu erweitern. Die Planung verstieg sich nicht in ein hastiges Größer, Schneller. Außerordentlich weitblickend gingen schon die frühen Überlegungen von einer durchgehenden Trennung der Funktionen aus. Grundsätzlich sollten die Reisenden vom Technikbetrieb nicht gefährdet oder belästigt werden – im alten Bahnhof lagen die Lokomotivdrehscheiben in der Bahnsteighalle. Ebenso waren Personen- und Güterverkehr zu trennen und schließlich – ganz entscheidend – sollten Fernverkehr und Nahverkehr auf jeweils eigenen Fahrstraßen ohne jegliche schienengleiche Kreuzung verkehren. Wir lassen hier Abstellbahnhof und Lokomotivbahnhof ebenso beiseite, wie die Maßnahmen bei den Rangierbahnhöfen.
Sicherheit und Orientierung der Reisenden gewährte das neue Bahnhofsgebäude: die Gleise 1 bis 4 sind für den Nahverkehr Richtung Cannstatt und Feuerbach vorgesehen, 5 und 6 für die Gäubahn, auf den Gleisen 7 bis 14 (später 16) verkehren nur Fernzüge, auch Durchgangszüge. Natürlich war bei den ersten Vorplanungen auch der Sprickerhof-Entwurf für einen Durchgangsbahnhof erörtert worden – nein: berechnet worden hinsichtlich der Kosten und der Reisezeiten. Die Abgeordneten vertrauten ganz ihren weitblickenden Planern und lehnten den Durchgangsbahnhof ab, da selbst heute noch die überwiegende Zahl der Zugreisen in Stuttgart beginnt oder endet und selbst der Lokomotivwechsel weniger Zeit kostet als das Ein- und Aussteigen und Gepäck umladen.
Die größte Herausforderung in der Verkehrsführung lag bei der Brauerei zum Englischen Garten, also zwischen der heutigen U-Bahn-Haltestelle Budapester Platz und dem UFA-Kino. Die Topographie Stuttgarts erfordert, dass alle Züge von der „Centralstation“ über die Hauptstrecken Richtung Cannstatt oder Feuerbach verkehren. Allein die Gäubahn, die noch heute vielfach bewunderte Panoramabahn, führt in weitem Bogen über die Höhen Stuttgarts nach Vaihingen. Nach Cannstatt fallen die Gleise, nach Feuerbach steigen sie zunächst ähnlich wie die Gäubahn, unterfahren aber dann in der Nähe des Nordbahnhofs die Gäubahn. Auf Grund der Höhenverhältnisse kommt die Gabelung zwischen dem Cannstatter und dem Feuerbacher Ast gerade an die engste Stelle beim Englischen Garten zu liegen, wobei gleichzeitig die Überführung der Gäubahn beginnt. Die Stelle ist aber nur deshalb so eng, wenn man den unteren Schlossgarten schonen und die Geländeformation nicht mit brachialer Gewalt verändern will.
Für die Ingenieure Karl Schaechterle von den Staatsbahnen und Emil Mörsch von der Industrie ist die Rücksicht auf die Stadtstruktur selbstverständlich. Sie sahen sich deshalb vor die Aufgabe gestellt, 10 Streckengleise, 2 Gütergleise und weitere Verbindungsgleise zum Betriebs- und Abstellbahnhof auf dem Rosenstein in ganz verschiedenen Höhenlagen ausgerechnet an der engsten Stelle unterzubringen. Die sensationelle Lösung: „Auf dem engen Raum von kaum 100 Meter Breite werden 19 Gleise mit Höhenunterschieden bis zu 12 Meter neben, über und unter einander hinweg geführt.“ Wohlgemerkt, ohne eine einzige schienengleiche Kreuzung.
Als Schaechterle 1914 in der Deutschen Bauzeitung das Bauwerk vorstellt, ist er sich vollkommen darüber im Klaren, dass es sich um „eine in der Geschichte der Eisenbahn-Technik wohl einzig dastehende Anlage“ handelt. Auch Emil Mörsch, die damals unbestrittene Autorität auf dem Gebiet des Stahlbetonbaus, spricht im selben Jahrgang der Deutschen Bauzeitung vom „kühnsten Bauwerk..., welches bisher für Eisenbahnbetrieb...überhaupt hergestellt worden ist“. Man kann das ganze „neben, über und unter“ der ein- und ausfahrenden Züge und einzelner Lokomotiven noch recht gut in der Nähe des Budapester Platzes beobachten. Auch der gute Bauzustand des Stahlbetonbaus ist gut ablesbar nach seiner über hundertjährigen Bewährung.
Das Tunnelgebirge, wie das Bauwerk nun volkstümlich genannt wird, ist aber nicht nur ein weltweit bewundertes Meisterwerk des Stahlbetonbaus. Es ist das Monument einer umsichtigen, von größtem Sachverstand geleiteten Planung, in der alle Gesichtspunkte wie stadträumliche Einordnung, Zugverkehr, Bedürfnis der Reisenden und zukünftige Entwicklung Eingang gefunden haben. Das Tunnelgebirge hat von Leuten mit Verstand und Sachkenntnis höchstes Lob erfahren, alle Urteile haben sich in fachmännischer Auseinandersetzung mit der Materie gebildet. Von politischer Seite sind keine unqualifizierten Äußerungen bekannt geworden von dem Kaliber: „Es geht doch nur um einen Bahnhof.“ Nein, es geht um unsere Kultur!
Spätestens seit dem 2. Weltkrieg ist die Vernichtung der Kultur des Kriegsgegners ein erklärtes Ziel. Wer aber die Befürworter von Stuttgart 21 in Parteien, Parlamenten und Regierungen sitzen hat, braucht keine äußeren Feinde mehr!
Quellen und Literatur:
Die neuen Eisenbahnbauten für Stuttgart und Umgebung. In: Bauzeitung für Württemberg, Baden, Hessen, Elsaß-Lothringen. 4.Jg., 1907, Nr.10 und 8. Jg. 1911, Nr. 29
Karl Schaechterle, Neue Bauformen und Bauausführungen in Beton und Eisenbeton bei der Württembergischen Staatseisenbahnverwaltung . In: Deutsche Bauzeitung-Mitteilungen über Zement, Beton- und Eisenbetonbau. 11. Jg., 1914, Nrn. 10,11,12,13
Emil Mörsch, Kunstbauten für die Gleisüberschneidungen vor dem Hauptbahnhof Stuttgart. In: DBZ – Mittteilungen, 11. Jg., Nrn. 16, 17 , 19
Johann-Martin Deinhard, Massiv-Bücken gestern und heute, Wiesbaden u. Berlin 1964
Hans Peter Münzenmayer, „Der Stuttgarter Bahnhof ist als Ganzes eine wichtige Pionierleistung. In: Stuttgart Hbf. Hg. vom Verein zur Förderung und Erhaltung historischer Bauten e.V., Stuttgart 1997, S. 2-15
Hans Peter Münzenmayer, Die Ingenieurbauten als Markenzeichen der Königlich Württembergischen Staatseisenbahnen. In: Die Welt bewegt sich. Quellen und Beiträge zur frühen regionalen Eisenbahngeschichte. Hg. Heinz Alfred Gemeinhardt u. Volker Trugenberger, Stuttgart 2011
Gleisbau und Bewältigung des „Tunnelgebirges“ – eine allseits auch heute noch bewundernswerte Ingenieurleistung, sagt Herr Münzenmayer (verlesen auf der Montagsdemo von Norbert Bongartz), und das wissen inzwischen wohl auch die meisten zu Experten gewordenen S21-Gegner. Jetzt in den Zeiten der Wahlen ist es sicher auch von Interesse (!), dass es einen SPD-Ortsverein gibt, der auch gegen S21 war/ist. Oder weshalb sonst die Erwähnung? Oder war das witzig gemeint? Anders kann ich mir sonst die „hochaktuelle“ Erkenntnis des SPD-Ortsvereins nicht erklären. ?
Ingenieur oder Architekturleistung hin oder her….das ist doch gerade das Stuttgart-Syndrom. Abriss ist billiger als Neubau. So brauchte die DBAG keine Überzeugungsarbeit gegenüber die Obersten der Oberschlauberger der öffentlichen Körperschaften aus Land und Stadt leisten, um die Milliarde für die seit 20Jahren fälligen Sanierungsarbeiten auch für das Tunnelgebirge notwendig gewesen wären, als riesiges Einsparpotential zu verkünden. Ein Aufwand der den Steuerzahler keinen Extracent gekostet hätte und bei fast doppelter Leistungsfähigkeit längst fertiggestellt wäre.
Dumm g*loffe. Dümmer geht’s eigentlich kaum noch.
Immerhin in 30 Jahren ein amüsantes Filmthema für die staunende Nachwelt. Nicht nur für die Ortsvereine der SPD usw.bzw. falls es diese Parteien überhaupt noch gibt, ein totgeschwiegenes deja vue.