Rede von Joe Bauer, Autor und Stadtspaziergänger, auf der 450. Montagsdemo am 28.1.2019
Schönen guten Abend, verehrte Stuttgarter Protestgesellschaft, herzlich willkommen auch die Freunde der italienischen Oper.
Das Jahr hat noch nicht richtig angefangen, da stehen wir schon wieder zusammen vor unserer Bahnhofsruine. Unsere Nummer 450 allerdings ist nicht irgendein Jubiläum – die 450. Montagsdemo ist vielmehr der Beweis, dass es Menschen gibt in dieser Stadt, die niemals aufgeben. Sie kommen 450 Mal, sie kommen 4500 Mal – und wenn es sein muss, fangen wir wieder von vorne an.
Neulich hat mich ein Bekannter via Facebook gefragt, ob wir eigentlich noch glauben, den Bahnhof verhindern zu können. Oder ob wir nur noch aus Gewohnheit demonstrierten. Die Antwort darauf kann nur lauten: Hättest du nur fünf unserer 450 Kundgebungen besucht, wüsstest du, dass es bei Stuttgart 21 nie nur um einen Bahnhof ging. Dieser Tiefbahnhof ist ein Propaganda-Vehikel zur Vertuschung von Milliardengeschäften mit Immobilien. Ein Bauloch-Monster zur Demonstration von Macht, erfunden von Machos, die heute ihren unterirdischen Bullshit mit dem Spruch bewerben: „Untenrum ist immer geil.“ Bei diesem Dorfdeppen-Marketing kann man sich vorstellen, was bei diesen Herrschaften obenrum so los ist: Würde sagen, voll schlaff im Hirn.
Seit jeher aber müssen wir uns die Phrase anhören, wir seien die Ewiggestrigen. Erst kürzlich hat unser junger Herr Landesverkehrsminister verlautbart, wir, die Gegnerinnen und Gegner der Stadtzerstörung, würden in der Vergangenheit leben. Ich weiß nicht, wie viel Feinstaub man geschluckt haben muss, um auf diesen Satz zu kommen. Meine Damen und Herren: Zum Glück gibt es nach wie vor Menschen in dieser Stadt, die sich unermüdlich gegen das Immobilien-Geschacher der Gegenwart zur Wehr setzen. Und wenn dieselben Menschen fortwährend darüber aufklären, wie Politiker und Geschäftemacher versuchen, uns die Zukunft zu verbauen und zu vermüllen – dann leben diese Menschen nicht in der Vergangenheit. Sie verteidigen vielmehr mit feinem Gespür für die Gefahren unserer Zeit demokratische Rechte – solange es die noch gibt.
Wie Stuttgart 21 den Ruf unserer bedeutenden Weltstadt in die unbedeutende Restwelt hinausträgt, zeigt folgendes lustige Beispiel: In Berlin firmiert zurzeit der Bau einer Nord-Süd-Trasse für die S-Bahn offiziell unter dem schönen Namen S 21. Weil aber das Kürzel S 21 so betörend klangvoll durch die Republik schwebt, spricht die Berliner Bahn inzwischen nur noch von der „City-S-Bahn“. Mit der Bezeichnung S 21 kannst du das Publikum höchstens noch in Comedy-Klitschen begeistern.
Wir S21-Gegner dagegen haben auf einmal sehr jungen Nachwuchs im Geiste. Nämlich aufgeweckte Schülerinnen und Schüler, die heute an morgen denken. Mit Blick auf ihre Zukunft protestieren sie gegen den Wachstumswahnsinn und den Rassismus der Gegenwart. Und jetzt erleben wir, wie diese jungen Leute mit ihrem Bewusstsein für die Bedrohung ihrer Umwelt und ihrer Existenz von Konservativen, Reaktionären und Neoliberalen mit derselben Arroganz behandelt werden wie die Generationen vor ihnen.
Ein Beispiel. Zwei Mitglieder der Stuttgarter Jungen Union sagten neulich laut Stuttgarter Zeitung: „Mit Schulschwänzen den Klimawandel zu bekämpfen ist in etwa so sinnvoll, wie mit dem Staubsauger durch die Sahara zu laufen.“ – Dieser Vergleich, meine Damen und Herren, ist in etwa so strunzdumm, wie mit der Stirnlampe die Unterbelichtung solcher CDU-Zöglinge zu bekämpfen.
Ich schätze mal, dass die Aktiven der „Fridays for Future“-Bewegung“ rein geistig niemals so greisenhaft werden, wie es die schwarzen Frischlinge schon heute sind.
Die Junge Union fordert sogar, die demonstrierenden Schülerinnen und Schüler mit der Eintragung von Fehlzeiten in ihren Zeugnissen zu bestrafen. Mit diesem Rohrstock im Hirn zeigen solche Konservative, dass sie generell nichts von der Meinungs- und Versammlungsfreiheit halten. Und dieses Denken ist fatal in einer Zeit, da uns die Vergangenheit durch den immer stärkeren Rechtsruck einholt.
Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter: Im Lauf der Jahre mit 450 Montagsdemos gegen die Abriss- und Absahnpolitik für Stuttgart 21 haben sich uns noch andere politische Untiefen aufgetan. Und die solidarischen Aktionen haben vielen von uns die Augen geöffnet für die Wichtigkeit demokratischer Bewegungen und Bündnisse. Wir haben gelernt, Zusammenhänge zu sehen: Mietenwahnsinn und Wohnungsnot beherrschen unsere Stadt, während ein schwachsinniges Immobiliengroßprojekt durchgeprügelt wird. Und selbstverständlich befördert die skandalöse Wohnsituation – diese Verletzung unseres Rechts auf Stadt – das Sündenbock-Denken. Und damit die Anfälligkeit der Unzufriedenen für die Propaganda der Völkischen und Nazis.
Wir als demokratische Bewegung haben deshalb die Pflicht, etwas zu tun. Dies gilt auch für den anstehenden Kommunalwahlkampf. Das politische Engagement schärft unsere Sinne für die gesellschaftlichen Verhältnisse – die nebenbei auch den Humor erzeugen, den wir dringend brauchen. Eine typische Stuttgarter Luftnummer war es doch neulich, einen noch gar nicht vorhandenen Ort über einem noch gar nicht existierenden Tiefbahnhof Manfred-Rommel-Platz zu taufen. Überhaupt sind die Versuche, dem ehemaligen OB und S21-Befürworter Denkmäler zu setzen, ausgesprochen komisch.
Nicht nur, dass im Schwäbischen der Begriff Rommelplatz sehr schnell Sehnsüchte nach Bierzelt, Achterbahn und Schießbude weckt. Zuvor schon hat man einem Flugplatz auf den Fildern den Namen Rommel verpasst. Niemand aber wird diesen Provinzflughafen ohne Bahnanschluss je so nennen. So bleibt es weiterhin Manfreds Vater, dem Generalfeldmarschall Erwin, vorbehalten, den Mythos Rommel in dieser Stadt zu pflegen. Bis heute gibt es auf dem Hallschlag eine Erwin-Rommel-Straße. Dort steht, in Zeiten der Wohnungsnot, ein unbewohntes ehemaliges Offizierskasino. Und auf einer Tafel werden dort nach wie vor gut sichtbar Rommels Afrikafeldzüge im Zweiten Weltkrieg gerühmt. Die blutigen Schlachten von Tunis, El Alamein und Tobruk.
Ich erzähle Ihnen das, weil führende Köpfe in Politik und Wirtschaft bei uns pausenlos von Fortschritt und Zukunft faseln, während in der Gegenwart die braunen Geister der Vergangenheit präsent sind.
Und was den sogenannten Fortschritt betrifft, noch so viel: Angesichts unserer fröhlichen Stimmung an der Stuttgart-21-Front halte ich folgende Zukunftsvision für realisierbar: Noch ehe die erste Lokomotive in das Bahnhofsloch unseres Kessels rollen wird, reite ich auf einem E-Bike zum Mond.
Und um die Erinnerungen an den Alptraum S21 aus der Welt zu schaffen, wird Stuttgart bis dahin umgetauft sein. Unsere Weltstadt in der Grube heißt dann für alle Zeiten Rommelhausen.
Vielen Dank – und auf der Straße bleiben!