Wahrheit ist – in der Justiz - das Gegenteil von Lüge. Der Schriftsteller Erich Mühsam begann seinen Aufsatz „Justiz“ , in dem er sich im Jahr 1911 mit dem Problem der Wahrheit beschäftigte, mit den Worten: „Und Adam aß von dem Apfel, und seitdem wissen die Menschen, was gut und böse ist. Auf daß diese Kenntnis nicht wieder in Vergessenheit gerate, gab Gott ihnen die zehn Gebote, die von zwei steinernen Gesetzestafeln abzulesen waren.“
Paragraf 153 im Strafgesetzbuch
Wir befinden uns inzwischen im Jahr 2018, das deutsche Strafgesetzbuch umfasst 358 Paragrafen, die besagen, was der Mensch möglichst nicht tun sollte. Um einen davon – nämlich den § 153 – soll es im Folgenden gehen. Der Paragraf 153 des Strafgesetzbuches regelt die „Falsche uneidliche Aussage“ und lautet: „Wer vor Gericht oder einer anderen zur eidlichen Vernehmung von Zeugen oder Sachverständigen zuständigen Stelle als Zeuge oder Sachverständiger uneidlich falsch aussagt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“
Dem folgenden Bericht muss nun vorangestellt werden, dass wir es bei Prozessen im Rahmen von S21/K21 – und wir hatten in den letzten acht Jahren eine Menge davon – meistens um einen überschaubaren Themenbereich ging, der sich durch die Ausübung des Zivilen Ungehorsams und Widerstands gegen Stuttgart21 ergab. Beispiele waren Nötigung, Verstöße gegen das Versammlungsrecht, Hausfriedensbruch und Nichtbefolgung von polizeilichen Anweisungen.
Der Prozess am Montag, 12. November 2018, um eine angebliche Falschaussage war für die Zuschauer Neuland und eine Herausforderung, der Prozessstrategie auf Seiten des Gerichts sowie der Verteidigung zu folgen. Dieser Bericht wurde also „nach bestem Wissen und Gewissen“ geschrieben, als Zeugenbericht einer Verhandlung am Amtsgericht.
Die Anklage und ihre Begründung
Eine uneidliche Falschaussage soll nach Ansicht der Staatsanwaltschaft die heute 87-jährige Ernestine R. im Mai 2017 gemacht haben, als sie am Amtsgericht in dem Prozess eines K21-Aktivisten als Zeugin aussagte. Sie hatte berichtet, was sie bei einer Aktion des zivilen Ungehorsams – „Frühstück am Bauzaun“ - gesehen und erlebt hatte, gemäß ihrer persönlichen Wahrnehmung. Woraufhin sie einen Strafbefehl wegen vorsätzlicher Falschaussage von 3000 Euro erhielt. Sie legte Einspruch ein, so dass es am 12. November 2018 am Amtsgericht Stuttgart zu einer Verhandlung kam.
Worum ging es, was war die angeblich falsche Aussage? In der Urteilsbegründung vom Mai 2017 ist zu lesen: „Zeugin Ernestine R. … hat nach Überzeugung des Gerichts falsch ausgesagt, als sie angab, dass nicht nur der Angeklagte, sondern auch sie selbst vom LKW getroffen worden und sie schließlich aus Angst zur Seite gegangen sei. Die Zeugin führte konkret aus, dass der Laster sie selbst nur berührt habe, während der Angeklagte von diesem geschoben worden sei …“.
Das Gericht zog also Ernestines Aussage in Zweifel. Grundlage für diese richterliche Behauptung war, dass die Zeugin erstmals in der Hauptverhandlung diese Aussage gemacht habe, aber nicht vor Ort beim Polizisten. Außerdem „… zeigte die Zeugin R. starke Belastungstendenzen gegenüber dem Zeugen F. und starke Entlastungstendenzen gegenüber dem Angeklagten, dem sie - wie sie wiederholt ausführte und dem Gericht aus vergangenen Verfahren bereits bekannt war - , im Widerstand gegen das Projekt Stuttgart 21 aufs engste verbunden ist.“
Die Suche nach der Wahrheit
Um die Behauptung der Falschaussage aufrecht zu halten, müsste das Gericht beweisen, dass die Angeklagte von dem LKW gar nicht berührt und der damalige Angeklagte auch nicht geschoben worden war. Aber das allein hätte für eine Verurteilung nicht ausgereicht, denn eine Falschaussage ist nur bei direktem oder bedingtem Vorsatz strafbar. Das heißt also, dass ihr eine bewusste Lüge nachgewiesen werden müsste.
Zunächst ging es über weite Strecken bei der Vernehmung von Ernestine R. und vier Zeugen darum, wer was wann wo und wie genau bei der Blockade gesehen hatte, ob gestanden, gehockt, gesessen, gerutscht, gezerrt oder gestoßen wurde und in welcher Abfolge. Die Angeklagte schilderte ihre Beobachtungen detailliert, wie sie den Vorfall im Jahr 2015 erlebt und dann im Jahr 2017 dem Gericht als Zeugin dargestellt hatte, „mit bestem Wissen und Gewissen“. In ihrer Wahrnehmung hatte sich das Gerangel am LKW tatsächlich so zugetragen. Zudem gab es eine bemerkenswerte, von Ernestine R. angefertigte Skizze, auf der sie die Situation vor dem LKW eingezeichnet und zudem mit erklärenden Sätzen aufgeschrieben hatte. Diese Skizze übergab sie dem Richter zur Ansicht, wobei festzustellen war, dass der Richter sich die Skizze nicht erläutern ließ und nur beiläufig anschaute. Der Eindruck entstand, dass die Beschreibung nicht ernst genommen wurde.
Mit klarer, lauter Stimme betonte die Angeklagte: „Herr Richter, ich würde meine Aussage immer und immer wiederholen! Hundertmal, tausendmal!“ Dem Gericht hätte da bewusst werden müssen, dass Ernestine R. gar nicht anders aussagen konnte, als „falsch“. Denn würde Ernestine R. nun „richtig“ im Sinne der Staatsanwaltschaft aussagen, so wäre dies ihrer Wahrnehmung nach falsch.
Ein zärtlich-aggressiver Fahrer
Der damalige Angeklagte, nun im Zeugenstand, beschrieb, wie er von dem LKW geschoben und vom Fahrer aggressiv behandelt worden war. Zwei weitere Zeugen betonten ebenfalls die Aggressivität des Fahrers. Besagter Fahrer des LKW, nun als Zeuge vernommen, stellte sich als sanft und behutsam im Umgang mit den Personen an seinem LKW dar, allerdings leide er bis heute unter den Demonstrationen an der Baustelle und habe deshalb seinen Job an der S21-Baustelle aufgegeben. Die Angeklagte Ernestine R. – welche ausgesagt hatte, dass der Fahrer sie am Arm gepackt und zur Seite geschoben habe - habe er nie vor seinem LKW gesehen, so könne er sie auch nicht berührt haben.
Nun wäre der Moment gekommen, wo man sich das von einer Zeugin gefilmte Video hätte anschauen müssen, um zu sehen, ob der LKW-Fahrer – wie er behauptet hatte - , den Blockierer vor seinem Wagen „zärtlich“ angefasst oder - wie die Angeklagte behauptete -, aggressiv gehandelt hatte. Das Video wurde jedoch zur Klärung bzw. zum Beweis nicht herangezogen.
Eine verhinderte Anzeige und ein fehlender Zeuge
Ein Vorwurf des Gerichts und Grundlage für die spätere Anklage wegen Falschaussage „wider besseren Wissens“ war die Tatsache, dass die Angeklagte nicht direkt am Tatort eine Aussage bzw. Anzeige (wegen Körperverletzung) bei der Polizei gemacht hatte, sondern erst später in der Hauptverhandlung. Unverständlicherweise wurde der damalige Einsatzleiter (Polizeioberkommissar) nicht als Zeuge geladen, so dass Ernestine R. ausführlich die Situation am LKW beschrieb, ohne dass der Polizist dazu hätte befragt werden können.
Aussage gegen Aussage und Wertung des Gerichts
Somit stand Ernestine R.s Aussage gegen die Aussage des LKW-Fahrers und zudem noch ihre Aussage gegen eine nicht erfolgte Aussage des Polizisten. Diskrepanzen in Aussagen kommen oft vor bei Gericht. In der Rechtswissenschaft gibt es mehrere Definitionen der Falschaussage. Die herrschende Straflehre definiert eine Aussage als falsch, wenn ein Widerspruch zwischen dem gesprochenen Wort (Aussage) und der Wahrheit (Ablauf des Vorgangs) besteht. Strafbar wäre eine Falschaussage aber nur, wenn das Gericht meinte, dass Ernestine R. mit direktem Vorsatz gelogen habe, entweder in der Absicht, den damaligen Angeklagten zu schützen und ihn vor einer Strafe zu bewahren bzw. andererseits den LKW-Fahrer zu schädigen. Oder aber sie habe – nach Meinung des Gerichts - mit bedingtem Vorsatz gelogen, d.h. sie war sich in ihrer Wahrnehmung unsicher, entschied sich dennoch für eine bestimmte Aussage.
Da das Gericht von „vorsätzlicher Falschaussage, d.h. Aussage wider besseren Wissens“ in dem Strafantrag ausging, wäre es interessant gewesen zu erfahren, wie dieser „Vorsatz“ begründet werden würde. Was hatte die Angeklagte denn dazu bewogen, angeblich falsch auszusagen? War das abgesprochen? (Dass die angebliche Falschaussage dem damaligen Angeklagten nichts genützt hat - denn es wurde voll umfänglich dem LKW-Fahrer geglaubt -, soll hier nur der Information dienen, denn auch wenn eine Falschaussage nicht zu dem gewünschten Ziel führt, kann sie strafbar sein.)
Warum die Zeugin den Angeklagten im Mai 2017 angeblich mit ihrer Aussage habe schützen wollen, das wird mit ihrer engen Verbundenheit mit ihm im Widerstand gegen S21 erklärt.
Protokoll mit Fragezeichen
An dieser Stelle muss auf ein weiteres Problem bei der Verhandlung eingegangen werden, das zwar gar keine Relevanz hatte, auf das jedoch viel Zeit verwandt wurde. Es ging um die Verschriftlichung der Verhandlung im Mai 2017, also das Protokoll.
Die Aufgabe von Protokollführern übernehmen Justizbedienstete bei Gericht. Ihre Tätigkeit kann mit einer gewissen Hochachtung betrachtet werden, denn still im Hintergrund, hoch konzentriert und unermüdlich schreibend, fertigen sie Seite um Seite an. Allerdings werden keine Wortprotokolle gemacht, sondern nur Zusammenfassungen des Gehörten. Die Verhandlung muss sachlich richtig dargestellt werden, doch zählt nicht jedes einzelne Wort. (Anmerkung: Deshalb wäre es ratsam, dass Zuschauer bei wichtigen Prozessen Wortprotokolle machen, d.h. in Verhandlungen mitschreiben. Was auch oftmals bei bedeutsamen Prozessen gemacht wird.)
In dem Protokoll vom Mai 2017 gab es nun zwei Punkte, die der Klärung bedurften: Die angebliche Belehrung der Zeugin R. über die wahrheitsgemäße Aussage wurde nicht protokolliert. Und die Aussage der Angeklagten, dass sie gesehen habe, wie der den LKW blockierende P. mit der Schulter gegen den LKW geschlagen wurde, wurde von der Protokollantin als „mehrere Schläge“ protokolliert, was den Richter nun veranlasste, wiederholt die Zeugen und den LKW-Fahrer zu fragen, ob sie „Schläge und wenn ja, ob mit Faust oder Hand“ gesehen haben. Nein, das natürlich nicht, denn die Angeklagte hatte ja vom Schlagen der Schulter gegen das Auto gesprochen. Als sie die vor dem LKW stattfindende Rangelei beobachtete, hatte sie das so wahrgenommen.
Die fehlende Belehrung
Nach der Strafprozessordnung §57 hat der Richter die Zeugen darüber zu belehren, die Wahrheit zu sagen und dass sie im Falle der Zuwiderhandlung eine harte Strafe zu erwarten haben. Diese Belehrung stand nicht im Protokoll. War also die Belehrung gar nicht erfolgt?
Um das zu klären, wurde die damalige Richterin B. nun als Zeugin vernommen. Dass die Belehrung im Protokoll fehlte, hatte sie damals schon festgestellt. „Ich kann nicht sicher sagen, dass ich belehrt habe, ich kann es nicht beschwören“, sagte sie am Montag. Sie meinte aber, dass sie es wohl doch irgendwann gemacht habe. Und nochmals: „… ich habe keine Erinnerung.“
Immerhin war Richterin B. aufgefallen, dass die Belehrung – so sie denn stattgefunden hatte – im Protokoll hätte stehen müssen. Also war damals die Protokollführerin befragt worden und deren schriftliche Stellungnahme wurde nun verlesen. Es hatte demnach ein Formular gegeben, auf dem die Belehrung vermerkt war, das jedoch aus unersichtlichen Gründen gelöscht worden war und dann - aus Versehen - nicht wieder ins Protokoll hineingenommen wurde.
Der Richter, die Staatsanwältin und die Richterin als Zeugin einigten sich darauf, dass die Richterin wohl doch die Belehrung gemacht hatte und dass die vergessliche Protokollantin … siehe oben. Man beschloss, dass alles richtig war.
Das – juristisch ungebildete - Publikum meinte nun, dass die Angeklagte nicht wegen Falschaussage hätte angeklagt werden dürfen, da sie wahrscheinlich nicht belehrt worden war. Dem ist aber nicht so, denn eine Belehrung ist eine Formsache und das Fehlen im Protokoll rechtlich unerheblich. Die Belehrung ist gedacht als eine Art von Appell an die Konzentration auf die Erinnerung. Aus der fehlenden Belehrung eines Zeugen kann nicht ein Beweisverwertungsverbot abgeleitet werden.
Sie hätte es wissen müssen
Eine unterlassene Belehrung ist nur dann für das weitere Verfahren relevant, wenn man davon ausgehen muss, dass der Zeuge seine Pflicht zur wahrheitsgemäßen Aussage nicht kennt. An die Stelle der fehlenden gerichtlichen Belehrung wird also die Selbstbelehrung der Zeugin gesetzt: Sie hätte sich selber belehren müssen. Das Gericht sprach sinngemäß aus, was von der Angeklagten erwartet wurde: Sie hätte auch ohne Belehrung wissen müssen, dass sie vor Gericht die Wahrheit zu sagen habe. Das Gericht geht davon aus, dass Erziehung, Kindergarten und Schule, Religionsunterricht (das achte Gebot!) und fleißiger Fernsehkonsum (Gerichtsserien) jedem Bürger einhämmern, bloß nicht zu lügen. Im Falle von Ernestine R. wurde ihr vorgehalten, dass sie ja das Wahrheitsgebot durch den Besuch von Gerichtsverhandlungen kennen müsse.
Außer dass sich diese langwierige Erörterung zum Thema „Belehrung“ als eine Lehrstunde für das Publikum darstellte, wurde darauf zu viel Zeit verwendet. Dem Publikum wurde damit gezeigt, wie sehr man sich um Transparenz bemühte. Das hatte aber mit der Aufklärung des „Falls“ nichts zu tun.
Dann war die Beweisaufnahme abgeschlossen. Der Richter stellte noch fest, dass über die Angeklagte bisher keine Eintragungen (= Vorstrafen z.B.) im Register vorhanden seien, also 87 Jahre straffrei. Es folgten der Antrag der Staatsanwältin, dann das Plädoyer des Anwalts und am Schluss die Worte der Angeklagten.
Die Anklagepunkte und die Beweisführung
Treten wir nun einen Schritt zurück und rekapitulieren: Was war die Anklage? Wie war die Beweisführung? Welche Beweise werden für ein Urteil relevant?
Der erste Teil der Anklage war, dass Ernestine R. als Zeugin in einem Prozess im Mai 2017 falsch ausgesagt habe. In der Verhandlung am 12.11.2018 wurde durch drei Zeugen dargestellt, dass sich der Vorgang am LKW aggressiv zugetragen hatte, was durch den Fahrer des LKW aber nicht als aggressiv wahrgenommen wurde. Die Aussagen von Ernestine R. und dem LKW-Fahrer über den Hergang des Gerangels unterschieden sich. Konnte man daraus schließen, dass Ernestines Aussage falsch war?
Der zweite Teil der Anklage war, dass sie dabei wissentlich (bewusst) falsch ausgesagt habe. Also müsste man den Verdacht der „vorsätzlichen Unwahrheit“ erhärten, d.h. Beweise heranziehen, dass sie vorsätzlich gelogen hatte. Denn nur bei einem Vorsatz könnte sie verurteilt werden. Die Begründung für diesen zweiten Teil der Anklage war, dass sie ihre Aussage nicht von Anfang an (vor Ort), sondern erst später in der Hauptverhandlung gemacht habe. In der jetzigen Verhandlung am 12. 11.2018 wurde aber nicht versucht, den Vorsatz zu untersuchen. Es wurden keine Zeugen aufgerufen, die einen Vorsatz hätten bestätigen können. Es wurde unterstellt, dass sie aus persönlichen Gründen, d.h. aus Verbundenheit mit dem damaligen Angeklagten, die Unwahrheit gesagt hatte. Beweise? Der Vorsatz – und nur unter dieser Prämisse könnte die Angeklagte bestraft werden – war bei dieser Verhandlung nicht zu erkennen. Der Vorsatz war also bei Schließung der Beweisführung unbewiesen.
Der Antrag der Staatsanwältin
Die Staatsanwältin bezog sich in ihrem Antrag zunächst auf die fehlende Belehrung über die Pflicht zur wahrheitsgemäßen Aussage und behauptete, dass die Angeklagte sehr wohl belehrt worden sei und die im Protokoll fehlende Belehrung nur eine Schusseligkeit der Protokollantin gewesen sei. „Aber der Richterin glaube ich, dass sie belehrt hat,“ betonte die Staatsanwältin. Außerdem: „Sie – (Anm. Ernestine R.) - war schon im Gerichtssaal, sie weiß, dass sie keine falschen Angaben machen darf.“ Und dass der Fahrer nicht geschlagen wurde, das habe sie nun selber gesagt. „Ich bin der Überzeugung, dass sich der damalige Angeklagte und die Zeugin abgesprochen haben.“ Eine Begründung für diese „Überzeugung“ blieb aus. Ihr Strafantrag lautete auf 150 Tagessätze je 30 Euro. Also 4 500 Euro.
Das Plädoyer des Anwalts
Der Anwalt begann mit einer Vorbemerkung zum Begriff der Lüge. Er erinnerte an die Versammlung auf dem GWM-Gelände am 20.6.2011, als von der durch Sachbeschädigung betroffenen Firma zunächst Zahlen in Millionenhöhe angegeben und von den Medien gerne kommuniziert worden waren. Dass der wahre Schaden dann nur ein Bruchteil der anfänglich genannten Summe war, interessierte weder Medien noch Gerichte. Auch dass rund um das S21-Projekt die Wahrheit nicht im Vordergrund steht, kümmere die Gerichte nicht. Er wollte mit diesem Vorwort sagen, dass auch im vorliegenden Prozess durch eine ganz bestimmte Brille geschaut wird.
Zum Thema der Belehrung führte er an, dass die Belehrung seiner Mandantin nicht aus der schriftlichen Erklärung der Protokollantin hervorgehe, denn man wisse nicht, was das gelöschte Formular enthielt. Er wisse, dass die Richterin einzeln belehre, und dieses sei nicht erfolgt. Bei der Vernehmung des LKW-Fahrers habe der nicht auf alle Fragen des Gerichts konkret geantwortet. Dies sei für ihn als Anwalt ein Indiz, dass die Aussage seiner Mandantin, der damalige Angeklagte sei mit der Schulter an den Wagen geschlagen worden, richtig ist. Frau R. habe ihre Erlebnisse glaubwürdig geschildert, klar und deutlich. „Man kann ihr glauben,“ schloss er ab und forderte Freispruch.
Die Schlussworte der Angeklagten
Der Richter meinte zu der Angeklagten, als sie sich für ihr Schlusswort erhob, sie möge gerne sitzen bleiben. „Nein,“ sagte sie, „ich stehe auf. Ich habe die Wahrheit gesagt und sonst nichts. Ich sage immer die Wahrheit. Wenn Sie mich vereidigen wollen, bitte!“
Diese drei Stunden im Saal 105 hatten gezeigt, dass aneinander vorbeigeredet wurde. Ging es hier wirklich um die Erforschung der Wahrheit und ob die Angeklagte wissentlich gelogen hatte? Dieser Beweis wurde nicht im Ansatz erbracht. Wie auch? Man hätte ja das Video ernsthaft ansehen müssen, den Polizisten befragen, die Aufzeichnungen der Angeklagten genau ansehen müssen ...
Der Richter belehrte Ernestine R.: „Angeklagte werden nie vereidigt.“ Hatte er begriffen, dass ihr – wenn auch nicht realisierbares – Angebot auf Vereidigung eine Bestätigung ihrer innersten Überzeugung war? Sogar unter Eid würde sie das Gleiche sagen. Die Leidenschaft ihrer Schlussworte erinnerte mich an den am Anfang dieses Berichts zitierten Publizisten Erich Mühsam, der schrieb: „Doch ob sie mich erschlügen: Sich fügen heißt lügen!“
Das Urteil
Von einer aufrichtigen Wahrheitssuche waren die zahlreichen Zuschauer, die im Saal 105 des Amtsgerichts der Verhandlung beigewohnt hatten, nicht überzeugt. Die Erforschung der Wahrheit ist eine der Hauptaufgaben von Richtern bei der Beweisermittlung. Und so hätte die Justiz im Falle von Ernestine R. die Aufgabe gehabt ernsthaft zu erforschen, was „die Wahrheit“ ist. Am Schluss musste der Richter ein Urteil fällen, nach bestem Wissen und Gewissen. Böse Zungen behaupteten, dass das Urteil schon vorher feststand. Die Angeklagte hatte dennoch brav gekämpft, auf dass man ihr Glauben schenkt. „Du hast keine Chance, aber nutze sie“. Denn das Urteil – eine Verurteilung - kam, wie es kommen musste. Ein paar wenige werden überrascht gewesen sein, die meisten aber hatten es erwartet.
Der Richter betonte seine Auffassung, dass die Angeklagte belehrt worden sei. Auch sei er überzeugt, dass sie weder von dem LKW geschoben worden sei, noch habe der Fahrer geschlagen. „Ich glaube uneingeschränkt dem Fahrer F.,“ betonte er. Dieser sei nach dem Vorfall nervlich so angeschlagen, dass er sogar seinen Job aufgegeben habe. Dennoch wolle das Gericht es bei einer Geldstrafe belassen (und keine Haftstrafe aussprechen). Doch die Höhe der Geldstrafe erschütterte alle. Das Urteil lautete „Für Falschaussage wider besseren Wissens sind 130 Tagessätze je 30 Euro angemessen“ (= 3900 Euro).
Wie kam der Richter zu seinem Urteil? Eine ausführliche Urteilsbegründung muss noch abgewartet werden, sie kommt in den nächsten Wochen. Dann wird man sehen, ob und wie der Richter darauf eingeht, dass die Erörterung des Tathergangs nur ein Teil des Verfahrens war und warum der Beweis für die „bewusste Falschaussage“ ausgeblieben ist. Die Angeklagte wurde also für etwas bestraft, was das Gericht in drei Stunden nicht untersucht hatte.
(Anmerkung: Die Angeklagte hat Rechtsmittel eingelegt, so dass ein Berufungsprozess am Landgericht möglich ist.)
Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit
Hier stellt sich nun die Frage nach der Verhältnismäßigkeit des Strafmaßes, und dabei soll die Erinnerung an den sogenannten „Wasserwerferprozess“ im Jahr 2014 wachgerufen werden. Von Juni bis November 2014 war am Landgericht Stuttgart gegen zwei angeklagte Abschnittseinsatzleiter verhandelt worden, die zu verantworten hatten, dass Kollegen in Wasserwerfern schwere Körperverletzung – bis zur Erblindung – verursacht hatten. Nein, schuldig gesprochen wurden sie nicht, denn das überraschende Ende des Prozesses am 26.11.2014 war ein Deal gewesen, bei dem die Einstellung des Verfahrens wegen geringer Schuld (!) gemäß § 153 a der Strafprozessordnung gegen Zahlung einer Geldauflage von jeweils 3000 Euro beschlossen wurde und sie somit nicht vorbestraft sind.
Die heutige Angeklagte konnte nicht mit Milde rechnen, auch nicht mit einer Einstellung des Verfahrens wegen geringer Schuld, falls ihre „Schuld“ denn überhaupt eine gewesen wäre. Nein, sie müsste – wenn das Urteil rechtskräftig wäre - für den Rest ihres Lebens als „Vorbestrafte“ gelten und dazu noch mit 3 900 Euro (!) einen höheren Geldbetrag als zwei Verantwortliche am Schwarzen Donnerstag zahlen.
Die Frage nach der Falschaussage im Stuttgarter Landrecht
In diesem Zusammenhang darf an eine prominente Falschaussage bezüglich des 30.9.2010 erinnert werden, wobei es sich um eine bewiesene Falschaussage handelte, die aber nicht „wider besseren Wissens“ verurteilt wurde, sondern unter die Rubrik „geistige Absenz“ fiel und von der Staatsanwaltschaft eingestellt wurde. Es ging um eine Falschaussage von Oberstaatsanwalt Häußler.
Der Vorgang: Nach dem Wasserwerfereinsatz am Schwarzen Donnerstag, bei dem auch Kinder verletzt worden waren, hatte Oberstaatsanwalt Häußler die Anzeige (wegen Körperverletzung) eines 13-jährigen Mädchens zu bearbeiten. Er stellte die Ermittlungen ein. Als er später bei seiner Zeugenvernehmung im sogenannten Wasserwerferprozess angab, dass der jüngste Geschädigte 18 Jahre alt war, sah er sich mit einer Anzeige wegen „falscher uneidlicher Aussage“ konfrontiert. Es wurde ihm vorgehalten, dass er doch selber den Fall einer 13-Jährigen bearbeitet habe. Seine Reaktion: „Weder zum damaligen noch zum jetzigen Zeitpunkt könne er sich an dieses Verfahren erinnern.“ Erstaunlich genug ist diese Erklärung eines geistigen Blackout (in der puren Not greift der Mensch manchmal zu irrationalen Erklärungen), doch noch erstaunlicher ist, dass es eine Staatsanwaltschaft in Heidelberg gab, die diese windige Erklärung durchgehen ließ („wider besseren Wissens“) und Oberstaatsanwalt Häußler den Stempel der Absolution erteilte, indem sie das Ermittlungsverfahren wegen falscher uneidlicher Aussage einstellte. So war alles rechtens oder um mit einem halben Zitat von Bertold Brecht zu sprechen: „Wo Unrecht zu Recht wird …“
Die Gnade, dass ihr Verfahren wegen eines Blackouts eingestellt wird, durfte Ernestine R. nicht für sich in Anspruch nehmen. Aber sie hat sich ja auch nicht mit geistiger Schwäche herausgeredet, sondern blieb standhaft, da ihr nichts bewiesen werden konnte.
Am Ende Ratlosigkeit
Erich Mühsam schrieb im Jahr 1911 über die „Not“ von Richtern, der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen, dass „ … dem armen Richter zugemutet wird, auch noch in die Seele des Angeklagten zu steigen, um das Wieso und Warum und das Drum und Dran seines Tuns herauszukriegen. Diese Bemühungen nennt man einen Prozeß, und erst dadurch, daß sie Prozesse führt, erhält die Justiz bei den Bürgern und Bürgerinnen des Landes ihre Weihe und die Bestätigung ihrer Notwendigkeit.“
(Text: Petra Brixel)
Wow! Das ist mal ein Bericht, der zum Verweilen einlädt, da Grundlagen zum besseren Verstehen von Vorgängen an Gerichten gleich vorangestellt und enthalten sind – lang, jedoch gehaltvoll. |:-))
Allerdings gleich in der Überschrift das Wort „Wahrheit“, die es für uns Hominiden nicht geben kann – es kann für uns lediglich eine Annäherung an die _T a t S a c h e n_ geben! [1]
Wahrheitsfindung genannt, was, die Tat in Betrachtung genommen, zu sachlich korrektem Finden der aufzuklärenden Sachverhalte führen soll!
Jetzt ist das bei uns in STUTTGART so eine Sachen mit dem sachlich Richtigen – nicht erst seit sich die Stadt-, Landes- und Bundes-Oberen vollkommen verstiegen haben in _ihrer_ Vorstellung, dass es auf der Gemarkung der BRD keine -kaum nennbare Anzahl- Bürgerinnen und Bürger gibt. [2]
RA Stadler zu neuen Chancen für unsere Demokratie – Auszug:
Was die Würdenträger dieses Staates offenbar irritiert, ist der Umstand, dass plötzlich auch mit dem Bürger gerechnet werden muss und sich möglicherweise gerade die politischen Spielregeln ändern. Das stellt für unsere Demokratie keine Gefahr dar, sondern eröffnet ihr neue Chancen.
[1] Internationale Politik – Wo ist die Wahrheit? https://disqus.com/home/discussion/dkultur/internationale_politik_wo_ist_die_wahrheit/#comment-3227204081 Auszug:
Würden wir in den letzten 5 Jahren nicht einen solchen Fortschritt, in der Erweiterung unserer technischen Möglichkeiten „errungen“ haben, es bliebe so einiges im Verborgenen!
…
[2] 17.10.10 RA Thomas Stadler Präsident des BVerfG äußerst sich zu Stuttgart 21 http://www.internet-law.de/2010/10/prasident-des-bverfg-auserst-sich-zu-stuttgart-21.html
In einem Interview mit der SZ hat sich der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle zum Streit um Stuttgart 21 geäußert. Das ist zunächst deshalb erstaunlich, weil sich Verfassungsrichter regelmäßig aus dem aktuellen politischen Geschehen raushalten, was auch aus Gründen der Gewaltenteilung geboten erscheint.
…
16. Oktober 2010, 20:06 Uhr Schlichtung bei Stuttgart 21 https://www.sueddeutsche.de/politik/schlichtug-bei-stuttgart-vosskuhle-es-muss-ein-schlusspunkt-gesetzt-werden-1.1012669
Liebe Petra,
ich bewundere Deine klare und ausführliche Betrachtung und bin perplex, wie unterschiedlich das Gericht Urteile fällt.
Es ist nicht zu fassen und ich bin sprachlos, wie ein Gericht so oberflächlich und voreingenommen sein kann. Hoffentlich ist Ernestine R. beim Landesgericht erfolgreicher. Ich halte ihr die Daumen und werde dort sein, wenn ich es zeitlich einrichten kann.
Dieser Fall beweist, dass Justitia blind ist und dass die beiden Sätze gelten:
(1) Vor Gericht und auf hoher See bist du in Gottes Hand.
(2) Die Kleinen wird man hängen, die Großen lässt man rennen.
Leider verliert man hier das Vertrauen zu einem Staat, der so etwas zulässt.
…Stuttgart ist eben Exportweltmeister auch in Sachen Justiz…. Angela Merkel verkündete doch den (etwas abgewandelten)Spruch, daß sich am Beispiel S21 zeige, was die Griechen denn denken sollten, falls sich das „know how“ des Deutschen Technischen Vorsprungs im Bahnwesen nicht zur Ausführung gelange!
Jetzt -7 Jahre danach- hat die griechische Justiz sich daran erinnert, auf welche Weise der Vorsprung durchgesetzt wurde, nämlich mit „Häusslerschem“ juristischem „Fingerspitzengefühl“ mit Kanonen auf Spatzen zu schießen…. und der griechischen Putzfrau mit zu geringer Schulbildung gezeigt was ne Harke ist. „Urkunden(ver)Fälschung“
Eine Straftat die auch hierzulande eigentlich von oben nach unten verfolgt werden müßte.
Nicht doch Horst Ruch „hierzulande eigentlich“!
Das Wort _eigentlich_ zeigt den AMTSTRÄGERN* auf, dass _sie_ weiterhin verfassungswidrig handeln können (dürfen) – _sie_ brauchen also das anzuwendende Verfahren auf Amtspflichtverletzung nicht zu fürchten.
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Für Amtsträger gelten besonders strenge straf- und haftungsrechtliche Vorschriften.
AMTSTRÄGERN* Erklärung zum Begriff Amtsträger https://www.juraforum.de/lexikon/amtstraeger
Als Amtsträger werden Personen bezeichnet, die ein öffentlich-rechtliches Amt bekleiden. Dazu gehören nach § 11 Nr. 2 StGB Beamte, Richter, Personen im öffentlichen Arbeitsverhältnis (z.B. Notare oder Staatssekretäre) und auch Personen im öffentlichen Dienst, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung durchführen (z.B. Verwaltungsangestellte). Es besteht allerdings kein Unterschied darin, ob die Tätigkeit haupt- oder ehrenamtlich durchgeführt wird.
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