Rede von Christoph Hofrichter, Schauspieler, Regisseur und Mitglied des Bezirksbeirats in Obertürkheim, auf der 436. Montagsdemo am 8.10.2018
„Brummt die Wumme in der Nacht, ist Obertürkheim um den Schlaf gebracht.
Die Bürger leiden große Qual, der Deutschen Bahn ist das scheißegal.“
Dieses kleine Gedicht haben wir an dem großen von Heinrich Heine angelehnt: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht“. Immer noch hochaktuell !
Das Jahrhundertprojekt hat jetzt also auch Obertürkheim erreicht; mit schwerstem Gerät werden Tag und Nacht Eisenträger längs der Bahntrasse zwischen Unter- und Obertürkheim in die Erde gerammt. Ziel der Veranstaltung ist, die Trasse von S21, die durch den Wangener Tunnel über Untertürkheim führt, von unten hier in die bestehende Trasse einzufädeln.
Aber jetzt ist Pause, mit Gottes Hilfe hat ihnen das Wasser erst mal einen Strich durch die Rechnung gemacht, die linke Tunnelröhre ist seit Juni gestoppt, die rechte jetzt auch.
Die DB hatte beim „bestgeplanten Projekt“ vergessen, dass der Neckar da – genau, wo sie jetzt bauen – bis vor 60 Jahren geflossen ist, davor auch die letzten 1000 Jahre. Er kam immer von Esslingen-Weil-Brühl durchs Tal, machte vor dem Bahnhof Obertürkheim eine Kurve und floss der Bahnstrecke entlang bis Untertürkheim. Im Mittelalter war direkt am Fluss eine große Mühle, die aus ganz Württemberg großen Zulauf hatte. Das Wappen von Obertürkheim ist auch ein Mühlenrad.
Ich habe selbst 1953 noch im Neckar gebadet, ein Naturfluss mit Pappeln und Uferwiesen. Das ganze Areal hinüber bis Hedelfingen und Wangen waren Äcker, Wiesen, Bäume, Sträucher, zwei Baggerseen: ein riesiges Biotop.
Das alles musste dem Industrieprojekt ‚Stuttgarter Neckarhafen‘ Ende der 50er Jahre weichen, man hat den Neckar 1,5 km nach Westen Richtung Hedelfingen versetzt und den alten Flusslauf aufgeschüttet, Industriegebäude und Straßen darauf gesetzt. Und jetzt ist es so für mich, als ob der Neckar sich rächen will dafür, dass man ihm sein altes Flussbett weggenommen hatte.
In Untertürkheim war die Bahn schon in eine Fast-Katastrophe geschlittert: in der Tiefe schoss plötzlich Wasser aus einem Loch: 10 Liter pro Sekunde! Wenn da jemand gestanden hätte, er wäre tot.
Man hat das ganze Viertel abgesperrt, die Sportplätze abgeräumt und ein Jahr lang Betonmengen in den Untergrund gepumpt. Danach war wieder alles in Ordnung und konnte „zügig“ weitergehen. Aber vor Obertürkheim war schon wieder Schluss.
Was geschieht jetzt genau in Obertürkheim? Die Trasse vom Tiefbahnhof mit zwei Gleisen, die durch den Wangener Tunnel kommt, im Untergrund von Untertürkheim eine große Rechtskurve macht, soll jetzt in die bestehende Bahntrasse eingefädelt werden. Diese Trasse – Bahnstrecke nach Ulm, München und ab Plochingen nach Tübingen – besteht aus vier Gleisen, dort verkehrt jetzt der ICE, IC/EC, IRE, RE, die S1 und viele Güterzüge. Also da ist was los. Laienhaft ausgedrückt: die beiden Gleisstränge müssen nach rechts und links gerückt werden, damit die S21-Trasse in der Mitte aus dem Untergrund hochkommen kann, um dann hinter Obertürkheim vor Esslingen in die vier bestehenden Gleise einzufädeln. Rücken geht natürlich nicht, man baut zwei neue Bahndämme rechts und links, daher die Rammen Tag und Nacht. Rechts wurde der Schiller-Neckartalweg verdrängt, sonst ist da nur Hafengebiet, aber links führt der Damm direkt durch die Gärten der Häuser im Imweg, einer Wohngebietsstraße im unteren Teil von Obertürkheim. Dort kann man letztlich nicht mehr wohnen: Es stehen auch Häuser zum Verkauf. Dahinter die große Augsburgerstraße ist ebenso vom Lärm betroffen wie die angrenzenden kleinen Querstraßen. Vom Schwerlastverkehr des Aushubs sind die Leute noch verschont, dank der Wasser-Pleite in den Tunnels.
Es ist noch zu sagen, diese Kurzstrecke zwischen Ober- und Untertürkheim ist eine Achillesferse: wenn das Problem an der Baustelle wirklich chaotisch endet, ist der gesamte Bahnverkehr nach Stuttgart in Esslingen beendet; und der Fernverkehr, der an Stuttgart vorbei geht, müsste schon in Ulm über Aalen umgeleitet werden, Fahrzeitverlängerung: zwei Stunden. Denn erst in Untertürkheim gäbe es die Chance, die Züge an einer Baustelle vorbei zu leiten über die ‚Schusterbahn‘ (Stuttgart-Münster – Stuttgart-Zazenhausen – Kornwestheim).
Meine persönliche Meinung ist, dass am Ende – egal was alles an Chaos geschieht, die ‚Geißlersche Kombibahnhof-Lösung‘ übrig bleibt. Alles was wir jetzt reden wäre dann Makulatur: Obertürkheim, Untertürkheim, Abstellbahnhof, auch diese blöde Brücke in Cannstatt, alles unnötig und kann wieder weg... Übrig bleibt der alte Kopfbahnhof mit 10 Gleisen, der den gesamten Verkehr nach Würzburg, Nürnberg und die alte Bahnstrecke Ulm und Tübingen versorgen würde.
Durch den Tiefbahnhof von Feuerbach ging dann die Strecke, mit nur noch zwei Gleisen, hoch auf die Fildern, weiter ab nach Bratislava.
Aber es wird weitergebaut, Beton wird zu Gold. Eine Freundin im Innsbrucker Landtag, der ich mein S21-Leid geklagt hatte (die haben in Tirol Erfahrung mit korrupten Tunnel-Bauprojekten) sagte mir: „Christoph, das ist die europäische Beton-Mafia“.
Bei der großen Sitzung in Obertürkheim vor einem Jahr, der Saal war voll besetzt, als die Bahn den Bewohnern die anstehenden Baumaßnahmen in schönen Farben erklären wollte, kam doch Unruhe auf: die Bürger hatten inzwischen mitbekommen, wie sich das akustisch in Stuttgart immer dargestellt hatte, auch in Obertürkheim hatte man ja schon begonnen zu rammen.
Da sagte der junge Bauleiter des Abschnitts den Leuten: „Sie dürfen ins Hotel...!“ Ein Antrag von mir auf Baustopp hatte natürlich keine Chance.
Klar ist, die Obertürkheimer hatten bei dieser Volksabstimmung, weit über dem Schnitt in Stuttgart, für das Projekt gestimmt. Und jetzt haben sie den Dreck!
Ich erinnere mich an ein riesiges Plakat der Befürworter damals, das auch in Obertürkheim hing: „Weiter ärgern? Oder voll fertig bauen?“ – „voll fertig bauen“ für meine Sprachempfindung ein halbes Jahr, ein Jahr oder anderthalb Jahre...
Eine miese, verlogene, kaltblütige Volksverdummung!
Oben bleiben!!