Rede von Dieter Reicherter, Vorsitzender Richter am Landgericht a.D., auf der 432. Montagsdemo am 10.9.2018
Liebe Freundinnen und Freunde eines sicheren Schienenverkehrs,
bekanntlich meinen manche Schwaben beweisen zu müssen, dass man zu den ganz Großen in der Welt gehört. Das macht man am besten mit großkotzigen Sprüchen wie „Partner der Welt“, „Herz Europas“, „Magistrale Paris-Bratislava“. Oder aber auch gleich mit dummen Großprojekten wie Stuttgart 21 oder – vor einigen Jahren – mit der Planung für einen Trump-Tower.
Man kann auch Hannah Arendt zitieren. Das will ich heute auch mal tun. Hannah Arendt schreibt: „Unsere Zuversicht ist in der Tat bewundernswert, auch wenn diese Feststellung von uns selbst kommt. Denn schließlich ist die Geschichte unseres Kampfes jetzt bekannt geworden.“ Als sie dies schrieb, gab es unsere Bewegung noch nicht. Dennoch passt der Spruch gut auf uns. Ich zitiere ihn gerne, weil ich ihn von Ministerpräsident Kretschmann noch nie gehört habe. Das würde ihm auch fern liegen, denen das Zitat stammt aus dem Buch „Wir Flüchtlinge“. Und wenn der Ministerpräsident aus diesem Buch zitieren würde, müsste er ja seine Flüchtlingspolitik ändern.
Nun aber zurück zum Partner der Welt. Am 11.9.2001, inzwischen als 9/11 zu trauriger Berühmtheit gelangt, begingen in den USA Terroristen Anschläge mit gekaperten Flugzeugen. Tausende von Menschen fanden dabei den Tod. Auch heute noch sterben viele an den Folgen dieser Anschläge, zum Beispiel an Krebs infolge der damals freigesetzten Stoffe. Zwar sollte man meinen, Stuttgart habe mit New York nicht allzu viel gemeinsam. Aber offenbar denken die Verantwortlichen, wenn sie ausgerechnet morgen, also am 11.9.2018, eine Terrorübung in Stuttgart abhalten würden, seien sie genauso wichtig wie die Städte, die Terror erlebt haben. Vielleicht gilt es auch, uns zu zeigen, wie bedroht wir sind. Möglicherweise steht auch der Gedanke dahinter, der Bevölkerung in unserem Land einmal mehr klar zu machen, dass Polizei und Militär angesichts dauerhafter Bedrohungen noch mehr aufrüsten und demokratische Bürgerrechte weiter eingeschränkt werden müssen. Jedenfalls ist der Ort der Übung gut gewählt, denn schließlich strahlt der Mercedes-Stern darüber.
Dass Bahnhöfe und überhaupt Anlagen des Schienenverkehrs Objekte für Terroranschläge sein können, haben wir leider in der Vergangenheit immer wieder erlebt. Das Bundeskriminalamt warnt ausdrücklich vor dieser Gefahr. Auch die Deutsche Bahn AG weist gerade in einem Prozess, der jetzt vor dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg anhängig ist, auf diese Gefahr hin. In diesem Prozess hat das Verwaltungsgericht Stuttgart in erster Instanz festgestellt, dass die konkrete Gefahr eines Anschlages bei S21 besteht. In dem Prozess, der von den Ingenieuren22 betrieben wird, geht es um Einsichtnahme in die Unterlagen zur Evakuierung im Tiefbahnhof und in den Tunneln von Stuttgart 21. Dabei geht es nicht einmal speziell um Terroranschläge, sondern allgemein um mögliche Unglücksfälle.
Jedoch wurde die Einsichtnahme in die Unterlagen verweigert mit der amtlichen Begründung, diese sei ein Sicherheitsrisiko. Und der Landespolizeipräsident stellt es sogar so dar, dass die Terrorgefahr nicht etwa deswegen besteht, weil Objekte des Schienenverkehrs Anschlagsziele sind, sondern nach seiner Auffassung entsteht eine solche Anschlagsgefahr dann, wenn die Ingenieure22 Einsicht in die Unterlagen bekämen. Mit anderen Worten: Unsere Ingenieure sind die verkappten Terroristen!
Auf diesen Unsinn will ich hier nicht weiter eingehen. Eisenhart von Loeper und ich haben das Thema aufgegriffen. Sobald greifbare Ergebnisse vorliegen, werden wir das veröffentlichen.
Aber jetzt zurück zu der morgigen Terrorübung. Dass solche Übungen sinnvoll sind, ist unbestritten. Schließlich wollen wir alle vor möglichen Anschlägen geschützt werden und nicht nur unser Innenminister Strobl, der mit seiner gepanzerten Limousine Audi A8 durch die Gegend fährt und dabei pro Kilometer 376 Gramm CO² aus dem Auspuff bläst. Auch dass eine derartige Übung in unserem Kopfbahnhof stattfindet, ist nicht zu beanstanden. Nach unserer Überzeugung wird sich sehr deutlich zeigen, dass die Einsatz- und Rettungskräfte im Kopfbahnhof weit besser ihre Aufgaben erfüllen können als im Tiefbahnhof und seinen Tunneln. Die Ingenieure22 arbeiten seit langer Zeit und mit vielen Veröffentlichungen an diesem Thema.
Dass die Ergebnisse der morgigen Übung umfassend und transparent veröffentlicht werden, erwarte ich allerdings. Nach einer Rettungsübung im Katzenbergtunnel hat man das nicht getan und alle Auskünfte verweigert. Warum wohl?
Ich persönlich meine, wenn die morgige Übung durchgeführt und ausgewertet ist, müssten die Verantwortlichen dazu verpflichtet werden, den künftigen Tiefbahnhof als Kulisse nachzubauen und in dieser unverzüglich die nächste Übung durchzuführen. Nur so können rechtzeitig Schlussfolgerungen gezogen und die baulichen Gegebenheiten bei S21 an die Bedürfnisse der Rettung bei Unglücksfällen angepasst werden – falls das überhaupt noch möglich ist.
Wenn man für Filme ganze Stadtviertel nachbaut, muss uns das auch die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger bei S21 wert sein. Denn es handelt sich um ein Projekt des letzten Jahrtausends. Dass die Planungen damals schon auf die heutigen Standards ausgerichtet waren oder diesen inzwischen angepasst wurden, bezweifle ich. Wie komme ich darauf? Ganz einfach: Ich habe die Stellungnahme der Stuttgarter Naturschutzverbände zur künftigen Nutzung des Gleisvorfeldes des Kopfbahnhofs gelesen.
Darin steht allen Ernstes: „Die Landeshauptstadt Stuttgart hat 1997 ein Gutachten veröffentlicht, bei welchem der Bestand an Arten und Biotopen im Bereich des Stuttgarter Hauptbahnhofs untersucht wurde. Die Bestandsaufnahme erfolgte zwischen April und Oktober 1996. Wir weisen darauf hin, dass das Gutachten in diesem Jahr 22 Jahre alt wird. Die Datenaktualität überschreitet das Minimum von 5 Jahren bei Weitem.“
Deutlicher kann nicht gezeigt werden, wie fortschrittlich S21 geplant ist, oder anders herum: Die Planungsgrundlagen sind total veraltet. Die Erkenntnisse aus 9/11 und anderen Anschlägen sind nicht berücksichtigt. S21 wird zur Todesfalle.
Übrigens wird in der Stellungnahme zum Naturschutz auch auf die Belange der Feldhasen hingewiesen, die sich im Park angesiedelt haben. Und jetzt wird mir der Nutzen der morgigen Übung vollends klar. Bekanntlich ist die Polizei ja sehr gut ausgerüstet. Ich weiß allerdings nicht, ob morgen auch schon Handgranaten zum Einsatz kommen. Jedenfalls könnte man mit dem entstehenden Lärm, Rauch und Feuer locker diese Hasen und andere geschützte Tierarten in die Flucht schlagen, sodass weitere Bauverzögerungen vermieden werden. Ob gar als unbeabsichtigte Nebenfolge des Kampfeinsatzes ein heißer Abbruch der Reste des Kopfbahnhofs zu befürchten ist, vermag ich nicht zu beurteilen, rufe aber den Einsatzkräften von Polizei und Feuerwehr vorsorglich zu:
Oben bleiben!
Dieter ist mein Held! So standfest sollten doch alle Richter sein.