Rede von Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin, Rechtsanwältin und Bundesjustizministerin a. D., auf der Samstagsdemo am 7.7.2018
Es gilt das gesprochene Wort
Liebe Anwesende,
Gegnerinnen und Gegner der „größten Fehlentscheidung der Eisenbahngeschichte“, wie Winne Hermann das Projekt Stuttgart 21 zurecht bezeichnet hat, vielen Dank für die Einladung, bei der heutigen Demonstration einige Worte zu sagen.
Ich habe das vor zwei Jahren, im Sommer 2016, schon einmal gemacht, bei der eindrucksvollen 333. Demo gegen Stuttgart 21.
Damals – also vor zwei Jahren – war den Experten und Engagierten längst klar, wie falsch die Annahmen und Behauptungen, die Versprechungen und Zusagen und auch die Kostenprognosen zu S21 waren.
Damals war ebenfalls schon klar, dass Heiner Geißlers Schlichtungsveranstaltung im Jahre 2010 und die darauf aufbauende Volksabstimmung in Baden-Württemberg 2011 nicht nur auf tönernen Füßen ruhte, sondern auf Sand gebaut war, der schon längst weggespült worden ist.
Damals haben das auch viele Verantwortliche für S21 gewusst, auch manche unter den gutachtenden Wirtschaftsprüfungsgesellschaften. Leider haben sie wenig über ihre Bedenken mitgeteilt. Interessanterweise haben sie jedoch ihre – bisweilen durchaus denkwürdigen – Bewertungen des behaupteten Verkehrsnutzens, der Kostenschätzungen oder der Einhaltung der Baudauer von S21 häufig mit einschränkenden Floskeln versehen. Sie schrieben z. B., dass sich alles natürlich auch anders entwickeln könnte und dann ihre Bewertungen eben nicht mehr gelten – wir Juristen bezeichnen das als salvatorische Klauseln. Sie sollen verhindern, dass man später haftbar gemacht oder auch nur an den abgegebenen Bewertungen festgehalten werden kann. Einige der etwas mehr auf Transparenz gepolten Befürworter von S21 hatten damals schon gewarnt, viele der bisherigen Annahmen und Prognosen „seien eher als optimistisch einzuschätzen“.
Heute kann niemand mehr so argumentieren. Heute ist das alles klar. Heute kann es keine Zweifel mehr geben, heute liegen nicht nur die Fakten auf dem Tisch, sondern auch deren Bewertung ist von Wahrheitsstufe zu Wahrheitsstufe weniger umstritten.
Vor zwei Jahren habe ich heftige Kritik an jenen Verantwortlichen in der Polizei und der damaligen Regierung geübt, die für den Schwarzen Donnerstag und seine Folgen verantwortlich waren. Ich habe mit Nachdruck die Forderung vorgetragen, dass Fehlverhalten und Verantwortung endlich rechtstaatlich und ohne politische Rücksichtsnahmen aufgearbeitet würden. Das war und ist nötig, weil sonst das Vertrauen in die Politik und in unser Land immer mehr vor die Hunde geht. Das wollen wir nicht.
Und schließlich hatte ich damals, vor zwei Jahren, noch die Hoffnung geäußert, Heiner Geißler, der ja damals noch lebte, würde oder könnte die Kraft und die menschliche Größe besitzen, in aller Öffentlichkeit dazu Stellung zu nehmen, wie unzutreffend die Grundlagen für seine Mediation 2010 und damit auch für die Volksabstimmung waren. Er hat das nicht mehr getan. Heute ist es zu spät dafür, das ist schade.
Aber heute gehören die Folgen auf den Tisch: Das heißt, die Grundlagen für die Volksabstimmung in Baden-Württemberg waren falsch. Das muss Folgen haben. Deshalb will ich heute daran erinnern, was diejenigen Bürgerinnen und Bürger wollten, die in der Volksabstimmung im Ländle damals für S21 gestimmt haben und dann fragen, was davon heute übrig ist:
- Die Befürworter wollten doch – das konnten wir in zahlreichen Stellungnahmen von Bürgerinnen und Bürgern lesen – mehr und bessere Verkehrsverbindungen und sie haben den Versprechungen von S21 vertraut. Die Versprechungen sind zerronnen, die Befürworter sehen sich getäuscht.
- Sie wollten für die schon damals hohen Kosten für S21 mehr und bessere Verkehrsleistungen der Bahn in Baden-Württemberg. Mit ihrer Zustimmung wollten Sie für Innovation und Wirtschaftlichkeit, für Verkehrsnutzen und Effizienz eintreten.
Viele meinten auch, mit S21 würde manches von dem gefördert, was auf diesem Bereich in Baden-Württemberg verbessert werden muss. Und nötig ist ja eine Menge:
- Nicht nur für die Pendler, die sich täglich mit den Regionalzügen unter häufig problematischen Bedingungen zu ihrem Arbeitsplatz quälen,
- sondern auch für die Autofahrer, die sich tagein tagaus etwa auf der B27 hin und her, Richtung Stuttgart oder Richtung Reutlingen/Tübingen stauen müssen und die – ich weiß, wovon ich rede – sehr gerne eine Entlastung der hoffnungslos überforderten B 27 durch eine Verlängerung der S-Bahn in Richtung Stuttgart/Tübingen gesehen hätten.
Auch diese Erwartungen haben sich wie auch die Versprechungen längst in Luft aufgelöst.
Außerdem gingen viele der Befürworter von S21 in der Volksabstimmung 2011 mit Sicherheit auch davon aus, dass sich die schon damals gigantischen Kosten in dem vorgegebenen Rahmen halten würden. Alles andere wäre unschwäbisch – und unbadnerisch.
Also: Alle, die damals für S21 waren, sehen sich heute in vielem getäuscht. Denn die Prognosen und Versprechungen sind ja nicht eingetroffen.
Seit der Anhörung im Deutschen Bundestag am 11.6.2018 und der Sitzung des Verkehrsausschusses kennen nicht nur wir, kennen nicht nur die Stuttgarter, sondern alle, auch die Verantwortlichen im Ländle und im Bund die traurige Wahrheit. Deshalb kann sich heute niemand mehr darauf berufen, die Volksabstimmung im Ländle könne die Grundlage oder auch nur ein politisches Mäntelchen für irgendeinen Auftrag sein.
Die ganze Abstimmung damals beruhte auf falschen Angaben, die entweder mit der Absicht der Täuschung von Anfang an verfälscht wurden. Oder die jedenfalls, wenn später doch nichteinkalkulierte relevante Veränderungen hinzugekommen sein sollten, der damaligen Volksabstimmung die Grundlage entzogen haben. Die Grundlage für eine Berufung auf die Volksabstimmung ist in jedem Fall längst weggefallen!
Wo stehen wir heute?
Heute erheben wir die Forderung an die Verantwortlichen, die Tatsachen nicht länger schlichtweg zu leugnen. Augen zu und weiterbauen, alles einfach laufenlassen, oder auch – das ist ja die moderne Version – politisch aussitzen, ist keine Option. Änderungen müssen her.
Es ist doch geradezu widersinnig, dass die Einsicht auch des neuen Bahnvorstandes, S21 wäre besser nicht begonnen worden, keinerlei Auswirkungen haben soll. Das geht doch nicht!
Wenn schon der Vorstandsvorsitzende der DB die Ehrlichkeit besitzt, zu erklären, die Wirtschaftlichkeit von S21 sei „nicht gegeben“ und – ich zitiere wieder, wie die Presse seine Äußerungen wiedergibt, man hätte „eine andere Entscheidung“ getroffen, wenn 2009 kurz vor Baubeginn die heutigen Fakten bekannt gewesen wären“, muss doch eine Korrektur her!
Wenn schon der Vorstandsvorsitzende das sagt, dann sind doch Konsequenzen fällig. Solche Äußerungen können doch nicht nur zum Verschieben von Verantwortlichkeiten auf frühere Entscheider dienen.
Nun hat der Aufsichtsrat der DB in einer Stellungnahme vom Januar dieses Jahres, also 2018, erklärt – auch das lässt sich alles in seiner Presseerklärung nachlesen, aus der lese ich jetzt vor: „Der Vorstand hat – bestätigt durch die Gutachter – glaubhaft dargelegt, dass die Fortführung des Projekts Stuttgart 21 wirtschaftlicher ist als ein Abbruch.“
Das ist eine Aussage, die so nicht stehen bleiben kann. Die darf nicht das letzte Wort sein:
- Zum einen schon deshalb nicht, weil die vom Aufsichtsrat akzeptierten Kostenberechnungen nicht nachvollziehbar sind, wie Experten längst dargelegt haben. Und weil es ärgerlich ist, dass manche auch die Kosten für sinnvolle und vernünftige Teilprojekte, wie etwa die für den Albaufstieg, einfach den Umstiegskosten zuschlagen. Das dient nur der weiteren Ablenkung und Verwirrung und ist einfach unseriös.
- Zudem muss auffallen, dass zu den Gutachtern, auf die sich der Aufsichtsrat zur Entlastung beruft, wieder einmal vornehmlich die gleichen Wirtschaftsprüfer- und Beratergesellschaften gehören, die schon für die zahllosen früheren „eher als optimistisch einzuschätzenden Annahmen“ einschließlich salvatorischer Klauseln Verantwortung tragen. Dass manche von denen schon aus Eigeninteresse auf eingefahrenen Gleisen weiterfahren wollen, kann doch niemand verwundern. Das muss auch der Aufsichtsrat berücksichtigen, wenn er eine verantwortliche Aussage treffen will.
- Erstaunlich ist auch, dass das neueste Bewertungs-Gutachten etwa von PWC (PricewaterhouseCoopers) weder der Öffentlichkeit noch dem Bundestag bekannt gegeben wurde. Warum eigentlich nicht? Weil da etwas drinsteht, was unsere Forderung zum Umstieg stützen würde? Auf jeden Fall ist das nicht die „neue Transparenz“, die doch auch vom Aufsichtsrat beschworen wird.
- Der Beschluss des DB-Aufsichtsrats kann auch nicht so stehen bleiben, weil er die Umstiegsüberlegungen der Kritiker nicht ausreichend und nicht richtig würdigt. Die gehen, wie alle nachlesen könnten und müssten, davon aus, dass die vernünftigen Elemente aus dem verkorksten Projekt in die Umstiegsplanung einbezogen werden können und einbezogen werden sollen.
Wir alle sehen und wissen ja, dass unglaublich fähige technische Ingenieure und Fachleute auf allen Ebenen des Projekts arbeiten. Deren Sachverstand will und kann sich auch die Umstiegsplanung nutzbar machen.
Also: Diejenigen Teilprojekte, die nachhaltigen Nutzen bringen und finanziert werden können, bleiben doch erhalten – gestoppt wird der Schwachsinn von S21.
Wir stellen heute fest: Es ist schade, dass die fundierte Kritik von kundigen Sachverständigen und Experten im DB-Aufsichtsrat nicht ernsthafter zur Kenntnis genommen wurde. Deshalb fordern wir: Das muss sich ändern. Unverzüglich.
Und wir erheben diese Forderung nicht nur gegenüber dem Vorstand und dem Aufsichtsrat der DB. Sie geht auch an
- Bundes- und Landesregierung,
- an den Verkehrsausschuss des Bundestages
- und an den Rechnungshof.
Die Sitzung des Verkehrsausschusses des Deutschen Bundestags vom 11.6.dieses Jahres kann deshalb nur ein Anfang sein; er muss das Startsignal für die erforderlichen Änderungen geben. Seine öffentliche Anhörung, in dem endlich auch die Umstiegsplanungen und -fakten offen auf den Tisch kamen, muss zu den fälligen Folgen und Auswirkungen führen.
Und: der Rechnungshof, der seine durchgehend kritischen bis vernichtenden Gutachten zu S21 – soviel ich weiß – zum letzten Mal im Jahr 2016 aktualisiert hat, sollte jetzt – auf der Grundlage der ja eingestandenen Unwirtschaftlichkeit – hergehen, seine Bewertungen nochmals zu aktualisieren und vor allem auch die Wirtschaftlichkeit der Umstiegsplanungen zu begutachten. Er muss endlich auch Kosten, Wirtschaftlichkeit und Verkehrsnutzen von „laufenlassen“ und „umsteigen“ seriös vergleichen und bewerten.
Es gibt noch eine weitere Stelle, an die ich, an die wir alle, unsere dringende Aufforderung richten, endlich die Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen und die nötigen Konsequenzen zu ziehen: das ist die zuständige Staatsanwaltschaft in Berlin.
Rechtsanwalt Eisenhart von Loeper und andere Experten, wie etwa Prof. Bülte aus Mannheim, weisen seit Jahren in qualifizierten Stellungnahmen und eindrucksvollen Strafanzeigen an die Berliner Staatsanwaltschaft darauf hin, welche Fakten die missbräuchliche Verwendung öffentlicher Gelder durch die beteiligten Verantwortlichen in den verschiedenen Bereichen belegen könnten. Unser Strafgesetzbuch bezeichnet so ein Vorgehen als Untreue.
Es ist einfach traurig und beeinträchtigt unser Vertrauen in die Justiz in gravierender Weise, dass die Berliner Staatsanwaltschaft seit Jahren nicht einmal einen Anfangsverdacht der Untreue bejaht, um Ermittlungen aufzunehmen. Die Gründe, die sie dazu bewegen, können wir nur vermuten: Die freundlichste Annahme ist, die Staatsanwaltschaften seien überlastet.
Schlimm aber wäre, wenn die dauerhafte Untätigkeit aus einem falschen Gefühl der Rücksichtnahme auf Wirtschaftsverantwortliche, Politiker und Beamte resultieren würde. Solche Rücksichtnahme darf unser Rechtstaat nicht dulden. Das geht nicht!
Wir wollen, dass nicht alles weiterläuft wie bisher. Dass sich alle mit dieser „größten Fehlentscheidung der Eisenbahngeschichte“ abfinden, die dann nur dazu führt, dass die Bürgerinnen und Bürger, das Unternehmen und die Steuerzahler die Zeche zahlen, sich täglich als Verkehrsteilnehmer ärgern, die Suppe auslöffeln und immer wütender auf Politik und Rechtsstaat werden.
Fehlentscheidungen kann und muss man korrigieren. Das muss gerade auch in unserer Demokratie möglich sein. Das muss sie leisten. Das wollen wir Bürgerinnen und Bürger. Wir fordern Konsequenzen und Änderungen!
Also: nicht „Augen zu und weiterbauen“, sondern „OBEN BLEIBEN und UMSTEIGEN“ und zwar jetzt!