Rede von Dr. Eisenhart von Loeper, Rechtsanwalt und Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21, auf der 414. Montagsdemo am 30.4.2018
Liebe Freundinnen und Freunde,
im langjährigen Kampf um das Bahnprojekt Stuttgart 21 gibt es eine neue Lage, die alle Beteiligten aufrütteln muss: Der Experte für Wirtschaftskriminalität der Universität Mannheim, Professor Jens Bülte, erklärt in seinem wissenschaftlich genau begründeten Gutachten, dass gegen Entscheidungsträger der Bahn wegen Untreue unaufschiebbar ermittelt werden müsse.
Wie kam es dazu? Wir vom Aktionsbündnis, Dieter Reicherter und ich, waren zornig, dass die Staatsanwaltschaft Berlin unsere Strafanzeige gegen amtierende und frühere Bahnvorstände und den Aufsichtsratschef abgebügelt hatte. Aus den für unsere Beschwerde zum Jahresende ausgehändigten amtlichen Akten erfuhren wir: Die Staatsanwaltschaft hatte einseitig der Deutschen Bahn AG zugearbeitet und deren Stellungnahme geduldig abgewartet, um die Anzeige dann nahezu begründungslos einzustellen.
Auf 26 Seiten haben wir Mitte Januar die Fehlentscheidung eindringlich angefochten. Aber das war uns nicht genug. Wir suchten herausragende wissenschaftliche Kompetenz; unabhängige, überzeugende, zügige Qualität, die Prof. Bülte bereits in einer anderen Arbeit zur Agrarkriminalität bewiesen hat. Er sandte mir seinen Beitrag, weil das seit Jahrzehnten mein Thema war. So erwiderte ich den Kontakt, bis es zum Gutachtenauftrag an ihn kam. Es galt unabhängig mit bestmöglicher Qualität zentrale Untreuefragen zu klären; die Beschwerde gegen die Verfahrenseinstellung bei der Generalstaatsanwaltschaft Berlin war zu fördern. Nach mehreren Wochen, noch vor Semesterbeginn, gelang Prof. Bülte das herausragende Gutachten auf 37 Seiten, dazu eine 33 Anlagen umfassende Materialsammlung auf etwa 300 Seiten.
Dazu kommt der weitere Coup: Dieses Gutachten sehr anerkennend, unterstützt Wolfgang Neskovic, ehemaliger Richter am Bundesgerichtshof, dass wegen Untreue gegen die Bahn-Entscheider dringend ermittelt werden muss.
Professor Bülte nennt dafür beeindruckend viele Gründe, die sich durchgängig auf die Stufen der Projektentwicklung erstrecken. Pflichtwidrig ist hiernach jede Entscheidung der Bahn, welche die Funktion des öffentlichen Personenverkehrs und die Wirtschaftlichkeit ihres Handelns benachteiligt. Solch pflichtwidriges, nachteiliges und vorsätzliches Fehlverhalten zeigt sich bei S21 laut Gutachten durchgängig, genannt seien fünf Stufen:
Stufe 1: Schon bei Abschluss des Finanzierungsvertrags im April 2009 mit der Kostenobergrenze von 4,5 Milliarden Euro gab es keine dafür belastbare Kostenkalkulation, sondern veraltete Zahlen, und besonders die Berechnung des Bundesrechnungshofs von mindestens 5,3 Mrd. Euro, auch Vieregg-Rössler stand dagegen, also hätten der Finanzierungsvertrag zu S21 und der Projektbeginn unterbleiben müssen.
Stufe 2: Genau das erkannte nach Amtsbeginn im Mai 2009 Bahnchef Rüdiger Grube und ließ die Kosten mit nachweisbar 4,979 Mrd. Euro ermitteln. Zweite krasse Fehlentscheidung, die wir alle kennen: Bahnvorstände Grube und Kefer sowie ihre Aufsichtsräte rechneten mit nebulösen „Einsparpotentialen“ von 891 Mio. Euro die Kosten herunter, um den Ausstieg aus dem Projekt zu vermeiden. In unserem Klartext: Man hat gelogen, dass sich die Balken bogen und kaschierte dies drei Jahre später mit 1,1 Mrd. Euro als „Kalkulationsirrtum“ statt auszusteigen.
Stufe 3: Der ehemalige Projektleiter Hany Azer erkannte 2011 für S21 über 6 Mrd. Euro Kosten. Man entließ ihn, statt Stuttgart 21 zu beenden.
Stufe 4 betrifft die Weiterbau-Entscheidung vom 5. März 2013: Der Gutachter nennt sie eine „schwere Pflichtverletzung“, da sie dem Dossier aus dem Bundesverkehrsministerium widerspricht, das für Alternativen zu S21 plädierte und die bahnseits behaupteten zwei Milliarden Euro Ausstiegskosten für nicht belastbar erklärt. Wie Prof. Bülte bestätigt, verhielt sich die Bundesregierung gesetzwidrig, als sie die Aufsichtsräte dennoch eindringlich zum Weiterbau von Stuttgart 21 veranlasste. Der Gutachter demaskiert die strafbare Untreue der Bahnspitze, gestützt auf ein Zitat des Bundesgerichtshofs: Sie nehme „nach Art eines Spielers bewusst und entgegen den Regeln der kaufmännischen Sorgfalt eine… äußerst gesteigerte Verlustgefahr“ auf sich, um „nur… eine zweifelhafte Gewinnaussicht zu erhalten“.
Das setzt sich schließlich Ende Januar 2018 fort. Professor Bülte sieht die Staatsanwaltschaft Berlin berechtigt und verpflichtet, Bahndokumente wie das PWC-Gutachten gerichtlich zu beschlagnahmen. Vorausgesetzt unsere Angaben treffen zu – und sie sind glaubhaft zu untermauern, dass auch jetzt noch durch den Umstieg von S21 Milliarden Euro einzusparen sind und keinesfalls 7 Milliarden Euro Ausstiegskosten anfallen. Wir haben der Staatsanwaltschaft erläutert, dass dabei fälschlich der Ausstieg aus der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm und totale Rückbaukosten von S21 berechnet werden.
Der zweite springende Punkt für den Tatverdacht der Untreue liegt darin, dass die Bahnspitze pflichtwidrig dem Bahnkonzern Vermögensnachteile verursacht und – vorsätzlich – in Kauf nimmt. Sie selbst erklärte 2009, S21 sei nur wirtschaftlich, wenn die Kosten von 4,7 Mrd. Euro nicht überstiegen werden. Diese Grenze ist aber seit jeher überschritten, so dass die strafbare Schädigung „auf der Hand liegt“, wie der Gutachter feststellt. Und wenn die Bahn-Angabe zuträfe, der Ausstieg hätte 2013 zwei Milliarden und jetzt gar sieben Milliarden Euro gekostet, schaufelte sie auch mit Grube und Kefer ihr eigenes Grab, weil sie das noch 2009 verhindern konnten. Der Finanzierungsvertrag hätte unterbleiben, später gekündigt und Alternativen zu S21 hätten vereinbart werden müssen, um den Schaden zu vermeiden oder zu minimieren. Der Umstieg von S21 erfüllt diesen Sinn.
Zweifel am Untreuevorsatz sieht der Gutachter nicht, wenn die Entscheidung der Verantwortlichen auf keine belastbare Kalkulation zu stützen war.
Der dritte springende Punkt für unaufschiebbare Ermittlungen wegen Untreue liegt darin: Das Fehlverhalten der Bahn-Entscheider seit 2009 ist nicht verjährt, weil – so der Gutachter – die Verjährungsfrist erst mit der Vollendung des Schadens beginnt, der schädigende Weiterbau von S21 aber noch im Gange ist.
Weitere Straftaten der Untreue können hinzukommen, wenn der neue Vorstand seine Vorgänger, soweit sie wie Grube und Kefer solvent sind, nicht wegen ihrer Fehlentscheidungen auf Schadensersatz verklagt oder fälschlich oder verspätet die Projektpartner wegen Mehrkosten verklagt.
Ich komme abschließend zu einem fünffachen Fazit:
- Nach Prof. Bülte und Bundesrichter a. D. Neskovic ist gegen die Bahnspitzen wegen des Tatvorwurfs der Untreue unaufschiebbar staatsanwaltlich zu ermitteln.
- Die neue Berliner Generalstaatsanwältin und ihr Justizsenator Behrendt haben gemäß dem Votum von Herrn Neskovic ihre Lenkungsaufgabe zur Gesetzesanwendung gegenüber den Tatverdächtigen wahrzunehmen, um intensiv strafrechtlich die Vorgänge zu S21 seit 2009 aufzuarbeiten.
- Nicht allein die Bahnspitzen, auch die politischen Entscheider in Bund und Land müssen Ermittlungen wegen langjähriger schwerer Untreue nachdenklich stimmen: Das Projekt war seit jeher politisch gewollt und sie sind dafür in starkem Maße mit verantwortlich. Die Minimierung des Schadens durch Umstieg von S21 ist der allein verbleibende Ausweg.
- Außerdem müssen politische Entscheider nach ihrem Amtseid auch strafrechtlich noch nicht greifbare Schadensfolgen vermeiden, so Personenschäden aufgrund des sechsfach regelwidrigen Gleis- und Bahnsteiggefälles oder das Risiko langwieriger Streckenstilllegungen infolge von quellfähigem Anhydrit. Und zur Schadensbilanz gehört die pflichtwidrige S21-Bahnhofsverkleinerung auf acht Gleise, die den Erhalt des Kopfbahnhofs und den Rückerwerb von Grundstücken durch die Bahn gebietet, also Kosten auslöst, die dem Weiterbau und nicht dem Umstieg anzulasten sind. Weitere schwere Mängel kommen hinzu.
- Bleiben wir dran und OBEN!