Rede von Dieter Reicherter, ehemaliger Staatsanwalt und Vorsitzender Richter am Landgericht Stuttgart, auf der Samstagsdemo am 30.9.2017
Liebe Freundinnen und Freunde,
da ich in letzter Zeit schon mehrmals oben auf der Bühne stand, will ich euch heute meinen Anblick ersparen und lasse meinen Text durch einen Fähigeren vortragen. Denn gestern startete ich zu einer nicht aufschiebbaren Reise in das Vereinigte Königreich. Das gab mir Gelegenheit, von demokratisch legitimierten Sicherheitsbehörden an mir staatliche Maßnahmen, auf die wir fast ein bisschen stolz sein dürfen, vollziehen zu lassen: Gesichtserkennung, Registrierung der Flugdaten, Durchleuchten mit dem Nacktscanner und andere Spezialitäten gaben mir das Gefühl, geliebt zu werden. Ich habe mir noch überlegt, ob nicht aufgrund eines Rahmenbefehls meine Rede direkt aus Torquay, wo ich heute bin, abgehört und zu Euch übertragen werden könnte.
Gestattet sei mir noch der Hinweis, dass ich nicht verstehe, warum niemand diese nützlichen Möglichkeiten des wehrhaften Rechtsstaats zum Beispiel an Innenminister de Maizière ausprobiert. Es wäre doch mal für seine Untertanen interessant, was er den ganzen Tag so treibt. Die NSA und wie die Geheimdienste alle heißen, vielleicht auch irgendwelche Hacker, müssten doch eigentlich in der Lage sein, hier zur Aufklärung der Menschheit beizutragen. Das wäre doch einmal etwas anderes als immer nur brave Untertanen zu bespitzeln. Und wenn es schon Rahmenbefehle gibt, könnte man doch mit den vielfältigen Möglichkeiten auch einmal das Autokartell beobachten und die Gründe für den Tunneleinbruch in Rastatt aufklären.
Nach diesem Ausblick in eine bessere Zukunft nun endlich zum Thema: Die Forderung nach der Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte im Einsatz ist nicht neu und war ein wichtiger Punkt der Abschlusserklärung des Bürgertribunals zum 30.9.2010. Trotz vieler politischer Versprechungen und der Vereinbarung im grün-roten Koalitionsvertrag (lang lang ist's her) ist es im Ländle dazu nicht gekommen. Interessante Hinweise dazu habe ich in einem Beitrag des grünen Innenpolitikers Uli Sckerl im neuen Buch „Sieg der Spatzen“ gefunden. Da las ich, diese Kennzeichnung sei trotz dieser vertraglichen Vereinbarung an der SPD-Fraktion gescheitert. Merke: Verträge sind nur einzuhalten, wenn es um ‚Stuttgart 21‘ geht.
Bekanntlich wurde dann von Grün-Rot noch kurz vor den Landtagswahlen des vergangenen Jahres als Ersatz ein Bürgerbeauftragter des Landes eingeführt, übrigens gegen die Stimmen von CDU und FDP. Sckerl verrät nun, in den Koalitionsverhandlungen mit der CDU sei es den Grünen gelungen, die von den Schwarzen verlangte Aufhebung des Gesetzes abzuwehren. Da wissen wir also nun genau, wo die Gegner einer Kennzeichnungspflicht und eines Ansprechpartners für Bürgerinnen und Bürger sitzen. Es sind genau diejenigen, die politische Verantwortung für den Polizeieinsatz im Schlossgarten und für die mangelhafte Aufklärung und gelungene Vertuschung tragen. Mir fällt dazu das Motto „Fünf Jahre Strafvereitelung“ unserer Veranstaltung vor zwei Jahren ein.
Wir wollen aber nicht jammern, sondern die Zugangsmöglichkeiten zum Bürgerbeauftragten Schindler nutzen. Mit ihm hatte ich bereits mehrfach Kontakt und er freut sich über Arbeit. Demzufolge hat er auf meine Beschwerde wegen der Videoaufzeichnungen bei der Grundsteinlegung im September 2016 mitgeteilt, anlassloses Videographieren könne eine einschüchternde Wirkung haben und Menschen von der Teilnahme an der Versammlung abhalten. Er habe diese Problematik mit dem Stuttgarter Polizeipräsidenten besprochen. Bevor Ihr jetzt überglücklich seid: Der Bürgerbeauftragte kann nur vermitteln, nicht entscheiden. Und auch nicht die Polizei anweisen, das Filmen zu unterlassen. Ich meine, dass schon das Bereithalten der Kameras und Verwenden von Bodycams zur Einschüchterung der Versammlungsteilnehmer führt.
Auch wenn es nun schon sieben Jahre seit der Niederschlagung einer friedlichen Versammlung sind, können wir den Mantel des Vergessens nicht ausbreiten. Zu viel ist immer noch „Unerhört. Ungeklärt. Ungesühnt.“, wie wir unser Buch zum Wasserwerferprozess genannt haben. Nach dem vom Landtag beschlossenen Polizeibericht, der auch nach dem Urteil des Verwaltungsgerichts, wonach das Tun und Treiben der Polizei rechtswidrig und unverhältnismäßig war, nie geändert wurde, sollen die Demonstranten Schuld an allem haben. Hierzu hat kein linker Chaot, sondern der Fachlehrer in der polizeilichen Aus- und Fortbildung und Diplomkriminologe Martin Herrnkind in „Sieg der Spatzen“ ausgeführt: Die insgesamt zwei polizeilichen Abschlussberichte zum Schlossgarteneinsatz „verschleiern Fehler nicht nur, sie enthalten unwahre Aussagen und Suggestionen“. Und er beklagt, dass diverse Anzeigen gegen Einsatzkräfte eingestellt werden mussten, weil die Verdächtigen nicht hatten identifiziert werden können. Herrnkind vergleicht den Polizeipräsidenten Stumpf wegen seines mangelhaften Einsatzplans mit einem Pokerspieler und kritisiert, der Einsatz von Wasserwerfern sei „mit einer nicht nachvollziehbaren Inkompetenz“ erfolgt.
Diese Aussage halte ich für sehr wichtig, denn bekanntlich setzt die Polizei in unserem Land auch weiter Wasserwerfer ein. Man möchte fragen: Hat die Polizeiführung aus dem Schwarzen Donnerstag gar nichts gelernt? Offensichtlich teilt man die Meinung, der Einsatz von Wasserwerfern verstoße sogar gegen die Menschenrechte, in Deutschland nicht. Man denke auch an die Wasserwerfer beim Hamburger G-20-Gipfel. Ich rede nicht von Einsätzen gegen Gewalttäter, sondern von denjenigen gegen friedliche Versammlungsteilnehmer, was ja durch Politik und Medien wunderbar vernebelt wurde durch die Schilderung, es habe in Hamburg nur gewalttätige Linksextreme gegeben. Übrigens gab es in Hamburg wie bei uns vor sieben Jahren Hinweise darauf, bei den Demonstrationen hätten Polizeibeamte in Zivil und sogenannte Agents Provocateurs in staatlichem Auftrag in die Versammlungsfreiheit eingegriffen oder gar Menschen zu Straftaten verleitet.
Auch nach der medienwirksamen Entschuldigung für den Polizeieinsatz, die Ministerpräsident
Kretschmann anlässlich der eindeutigen Entscheidung des Stuttgarter Verwaltungsgerichts ausgesprochen hatte, bleibt ein schaler Beigeschmack. War es nicht seine Regierung, die noch kurz zuvor beim Verwaltungsgericht die Abweisung der Klage der Schwerverletzten gefordert hatte, weil der Polizeieinsatz rechtmäßig gewesen sei? Und wo bleibt der längst fällige Schritt der Politiker und Polizeiführer, die damals verantwortlich waren, diese Verantwortung auch zu übernehmen und sich zu entschuldigen?
Der Bogen von denjenigen, die Leib und Leben friedlicher Versammlungsteilnehmer nicht respektierten, zu denjenigen, die ihre gesetzlichen Verpflichtungen zur Luftreinhaltung missachten und Leib und Leben der Bevölkerung durch weit überhöhte Feinstaub- und Stickoxidwerte gefährden, ist schnell zu spannen. Wieder einmal sieht man, dass es bei unserer Bewegung nicht nur um einen Bahnhof geht, sondern um eine bessere Politik für die Menschen. Um den verstorbenen Schlichter Heiner Geißler zu zitieren: „Die Zeit der Basta-Politik ist vorbei“.
Und so wollen wir nicht nur im Bahnhof, sondern bei allen Schicksalsfragen – oben bleiben!