Rede von Dr. Norbert Bongartz, Sprecher des Aktionsbündnisses gegen S21, auf der 387. Montagsdemo am 25.9.2017
S21 – Auf gut Glück spekuliert
Liebe Mit-Leute hier auf dem Schloßplatz, geht es Ihnen ebenso wie mir?
Ich bin immer noch fassungslos über all die Ungereimtheiten, Lügen, Bagatellisierungen und Beschönigungen, die wir von Seiten der Bahn, von den Mehrheitsfraktionen im Gemeinderat, von der Landes- und der Bundesregierung zu S21 aufgetischt bekommen. Angesichts ihrer bodenlos unkritischen Haltung und Weiter-So-Strategie frage ich mich immer wieder: Was muß eigentlich noch passieren, damit die Verantwortlichen endlich innehalten und zu einer Abwägung über das Für und die vielen Wider dieses von vornherein unsinnigen Prestigeprojekts nachdenken? Ist das Desaster in Rastatt kein Weckruf für sie?
So sinnlos es vielleicht erscheinen mag: Ich bemühe mich immer noch darum, das aus unserer Sicht unbegreifliche Handeln der zuvor genannten Akteure zu verstehen und ihre jeweilige Motivlage zu ergründen.
Ich weiß, eine halbwegs objektive Analyse der jeweiligen Motive würde den Rahmen einer Demorede sprengen – eine gute Zusammenfassung der so umstrittenen Situation der Bahn und der Landes- sowie der Kommmunalpolitik um S21 in Stuttgart ist Winfried Wolfs Buch: „Abgrundtief und bodenlos“, dessen aktuelle Auflage bald ausverkauft sein wird.
In Rastatt hatte sich bewiesen, dass die Bahn und die beauftragten Baufirmen darauf spekuliert hatten, ihre technischen Vorkehrungen würden so wie geplant funktionieren. Sie haben bei der Wahl der Bautechnologie alles auf diese eine Karte gesetzt und der für diese besonderen Verhältnisse nicht erprobten Technik Vertrauen geschenkt, mehr Vertrauen als berechtigt war, wie wir wissen. In Rastatt hatten sie damit kein Glück...
Auch bei S21 war, wie wir wissen, von Anfang an Spekulation das treibende und entscheidende Motiv: Ganz vordergründig ging es um eine so zugkräftige Grundstücksspekulation im Rosenstein-Areal, dass die politische Entscheidung ohne weitere Abwägungen fiel. Mit dieser „überfallartigen“ Federstrich-Entscheidung waren auch weitere Spekulationen verbunden: die Spekulation, dass sich alle weiteren Bedenken oder Probleme dieser politischen Entscheidung unterzuordnen hätten; sie waren, vergleichbar dem Denken von Militärs, zu lösen oder a priori als Kollateralschäden hinzu-nehmen.
Für diese Art der Denke haben wir den Begriff des Abenteurertums. Abenteurer sind per Definition Menschen, die bereit sind, ein Wagnis mit Risiken als „prickelndes Erlebnis“ (so steht es im etymologischen Duden) in Kauf zu nehmen, im Wissen darum, dass sie selbst mit dem Leben davon kommen. Als Abenteuer werden auch die sprichwörtlichen Seitensprünge bezeichnet...
Abenteurer und Spekulanten vertrauen darauf, dass ihre riskanten Pläne gut enden, sie rechnen damit, dass sie mit ihrem Vorhaben Glück haben werden. In meinen Augen gleichen sie den Reitern, die auf ihr Pferd vertrauen und meinen, dieses in einer brenzligen Situation noch beherrschen zu können. Im Gegensatz zu Kampfpiloten tragen Reiter keinen Fallschirm oder Luftkissen mit sich herum – ihre Fallhöhe ist ja weit geringer.
Bleiben wir eine Weile beim Bild der allzu vertrauensvollen Reiter: Was ist, wenn das Pferd zu bocken beginnt?
- Reiter kommen aus dem Gleichgewicht und geraten in kürzester Zeit in Panik,
- sie werden zum Gespött der anderen benachbarten Reiter (z. B. in der angrenzenden Schweiz)
- sie können sich nicht mehr im Sattel halten, es sei denn, Mutti eilt herbei und richtet sie wieder auf,
- oder sie stürzen: a) sanft, auf einen eigens so zubereiteten weichen Boden und werden mit goldenem Handschlag ins zivile Leben entlassen, oder b) sie stürzen unsanft, weil sie die kritische Situation fahrlässig unterschätzt hatten.
Doch halt! Unser Bild des unvorsichtigen, unseriösen Reiters hinkt noch gewaltig – nein, nicht weil das Pferd hinken würde, sondern, weil in unserem Fall die Reiter nicht nur für sich und ihr Pferd verantwortlich sind. Ihr symbolisches Ross ist gewaltig und hat sich seinen Weg durch unsere Kultur getrampelt. Im Vergleich dazu zwergenhaft sind seine größenwahnsinnigen Reiter!
Unverantwortlich ist und bleibt es, wenn diese weiter das monumentale Pferd eines Großprojektes reiten, bei dem nicht nur die Legitimation fehlt, also die öffentliche Rechtfertigung, sondern dazu auch ein hinreichendes Management für den nicht unwahrscheinlichen Fall, dass einige seiner Teile während des Baus oder in einem späteren Betrieb nicht plangerecht funktionieren werden.
Für Stuttgart und für den Schienenverkehr im Land ist es schlimm, ja schon tragisch, mit ansehen zu müssen, wie die für diesen desaströsen Schildbürgerstreich Verantwortlichen in ihrer mit vielen Desinformationen selbst gebauten Falle sitzen, aus der sie ohne Gesichtsverlust nicht mehr herauskommen (haben die eigentlich noch ein Gesicht??), weswegen sie meinen, weiter machen zu müssen, unfähig zu einem selbst verantworteten Umstieg. Weder die Mehrheit im Gemeinderat, noch die im Landtag sind zum Einlenken bereit, auch nicht die Bundesregierung.
Unsere Hilfestellung mit dem Konzept von Umstieg 21 haben sie alle in den Wind geschlagen, in der Hoffnung, dass wir endlich Ruhe geben? Hilfe kann jetzt nur noch von außen kommen, z.B. wenn die Berliner Staatsanwaltschaft Anklage gegen die Spitzen der Bahn erhebt oder die Bahn mit ihrem Versuch scheitern sollte, dass sich Stadt und Land an den Mehrkosten für S21 beteiligen.
So trägt die Bahn also weiter ihre schönfärberischen, über ihre Blößen gezogenen Kostümchen und wirft weiterhin – ob in Rastatt oder hier in Stuttgart – ihre Nebelkerzen und Werbesprüche, darauf hoffend, dass der politische Schutzschirm über ihnen und um sie herum nicht reißen möge. Die neuerdings so genannte Lückenpresse steht ihnen dabei wacker zur Seite...
Ich komme zum Schluss meiner etwas ungehaltenen Betrachtungen: Kennen Sie Eugen Roths Gedicht vom missratenen Schnitzel?
„Ein Mensch, der sich ein Schnitzel briet,
bemerkte, dass es ihm mißriet.
Doch, weil er es selbst gebraten,
tut er, als sei es ihm geraten
und – um sich nicht zu strafen Lügen –
ißt er's mit herzlichem Vergnügen.“
Viel Vergnügen mit eurem Blendwerk S21, das könnten wir den für S21 Verantwortlichen sarkastisch zurufen, denn wir wissen: deren Vergnügen an dem missratenen Schnitzel, bzw. an ihrer selbst eingebrockten Suppe schwindet – von Woche zu Woche!
Wir wollen daher unseren traditionellen Weckruf wiederholen: OBEN BLEIBEN!!
Dr. Norbert Bongartz nennt S21 Abenteurertum und Schildbürgerstreich. Weshalb benennt er es nicht einfach als das was es ist – Kapitalismus (insbesondere Profitgier, Privatisierungen und Lobbyismus)?
Das Aktionsbündnis hat all die bisherigen Machenschaften der Projektverantwortlichen (so auch das Unglück in Rastatt) vortrefflich analysiert und bloßgestellt. Dennoch fragt sich Dr. Norbert Bongartz immer noch was noch passieren muss damit die politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen einlenken. Auf die naheliegenste Antwort, das die Verantwortlichen teil eines Systems sind (für Frau Merkel ist S21 systemrelevant – „..an S21 entscheidet sich die Zukunftsfähigkeit Deutschlands..“) und S21 dieses System verkörpert und die verantwortlichen deshalb – egal was noch kommt – an S21 festhalten, auf diese Antwort schein Dr. Norbert Bongartz und das Aktionsbündnis nicht zu kommen. Ich frage mich deshalb warum alle Welt und scheinbar auch das Aktionsbündnis vor einer fundamentalen Systemkritik zurückschrecken – m.E. der einzig möglichen Lösung und Erklärung für die privatisierte Bahn und S21.
Fundamentale Kritik am Kapitalismus bedeutet nicht den Weltuntergang (auch wenn es von den Medien dann so dargestellt werden würde) sondern die Chance auf einen demokratischen Neuanfang.