Rede von Dr. Winfried Wolf zur Vorstellung seines Buches „abgrundtief + bodenlos“ im Rathaus Stuttgart am 24. Juli 2017
Musikalisches Intro „Cohen“ von Ekkehard Rössle [Saxophon]
So much of the world / is plunged in darkness and chaos […]
Ring the bells (ring the bells) that still can ring / Forget your perfect offering
There is a crack in everything (there is a crack in everything)
That´s how the light gets in […]
I can´t run no more / With that lawless crowd
While the killers in high places / Say their prayers out loud
But they´ve summoned, they´ve summoned up / A thundercloud
And they´re going to hear from me
Ring the bells (ring the bells) that still can ring […]
Leonard Cohen, Anthem[1]
Liebe Freundinnen und Freunde,
Was ihr soeben gehört habt, war das Stück von Leonard Cohen „The Anthem – Die Hymne“. Ein Song, den er zur Begeisterung von 7000 Menschen am 1. Oktober 2010 in der Stuttgarter Schleyer-Halle vortrug. Er widmete dieses Lied damals „den Bäumen“, den Bäumen im Schlossgarten, die in der vorausgegangenen Nacht erstmals – im direkten Anschluss an die massive Polizeirepression an diesem „Schwarzen Donnerstag“ – in großem Maßstab gefällt worden waren.
Der Song spielt eine wichtige Rolle in meinem Buch – bereits im vorletzten, dem siebten Kapitel. Und er bestimmt das gesamte letzte Buchkapitel, Kapitel VIII. Dieses trägt sogar die Überschrift, die dem Song entnommen ist: „Der Spalt, durch den das Licht dringt – There is a crack in everything / That´s how the light gets in“. Worauf zurückzukommen ist.
Damit ist schon klar, dass dieses Buch, das ich hier vorstelle, etwas Besonderes ist – etwas Besonderes für mich. Wobei in einigen der gut drei Dutzend Büchern, die ich schrieb, natürlich ebenfalls viel Herzblut drinsteckt.
So als ich 1977 mein erstes Buch, das in einem größeren Verlag, bei Wagenbach, veröffentlicht wurde, verfasst hatte – damals als Koautor mit dem von mir bewunderten, jüdischen Marxisten Ernest Mandel, der lange Zeit mein Mentor war. Thema und Titel damals dürften auch heute aktuell sein: „Ende der Krise oder Krise ohne Ende“.
Oder als ich 1980/81 in Gdansk auf der Lenin-Werft die Streiks von Solidarnosc verfolgte und danach zwei Bücher über den „Langen Sommer der Solidarität“ schrieb – und die Hoffnung hegte, dass in Polen das erstarrte System der Politbürokratie aufgebrochen würde und eine neue, demokratische, nichtkapitalistische Gesellschaft entstehen würde. Was kam, war ein Militärputsch unter General Jaruzelski. Und es war erst dann, dass die Menschen aufgrund dieser Repression in die Arme der Muttergottes von Tschenstochau und in diejenigen des reaktionären Papstes Wojtyła getrieben wurden. Vor ein paar Tagen las ich, dass ein Mann mit Namen Wladislaw Frasyniuk, den ich damals 1981 auf der Lenin-Werft interviewt hatte und der danach Solidarnosc im Untergrund anführte und dann mehrere Jahre im Knast war, dass dieser Frasyniuk heute einer der außerparlamentarischen Führer im Kampf derjenigen ist, die gegen die Zerschlagung der Justiz in Polen kämpfen. Es gibt sie, diese Leute, die sich treu bleiben.
Mit Herzblut geschrieben war auch ein Buch, das in mehreren Auflagen Ende der 1980er Jahre erschien und das den Titel „Sackgasse Autogesellschaft“ hat. Deshalb mit Herzblut geschrieben, weil ich in diesem eine erste alternative Verkehrsplanung vornahm – und dies für meine Heimatstadt Ravensburg. Wir plädierten damals – gemeinsam mit den Machern der alternativen Zeitschrift „Südschwäbische Nachrichten“– darunter Charly Schweizer – dafür, dass es keine gewaltige Umgehungsstraße ‚B30 neu‘ um die Region Mittleres Schussental geben sollte. Dass stattdessen „s´Bähnle“, eine Straßenbahn, die 1959 stillgelegt wurde, wieder eingeführt werden sollte. Und wir sagten voraus, dass eine ‚B30 neu‘ zunächst zwar die Städte Ravensburg und Weingarten vom Autoverkehr entlasten würde, dass es aber nach rund einem Jahrzehnt die Situation geben würde: massive Belastung des grünen Umlands und Zerstörung von Naherholungsgebieten durch die autobahnähnliche ‚B30 neu‘ und neuerliches „Volllaufen“ des innerstädtischen Verkehrs in Baind, Baienfurt, Weingarten, Ravensburg und Weissenau mit dem neu gesteigerten motorisierten Verkehr. Und just so kam es – wobei es seither alle zehn Jahre aufs Neue die Debatte gibt, ob man vielleicht nicht doch „s´Bähnle“ wieder einführen müsse…
Schließlich und endlich veröffentlichte ich mit erheblich viel Herzblut im letzten Jahr, zusammen mit meinem griechischen Freund Nikos Chilas, das Buch „Die griechische Tragödie“. Das war damals Ausdruck großer Hoffnungen, die wir wohl alle hatten, als ein gutes halbes Jahr lang Alexis Tsipras und Yanis Varoufakis die Welt in Atem hielten und die Eurokraten im Allgemeinen und den unbarmherzigen Sparmeister Schäuble im Besonderen herausforderten. Um dann nach dem wunderbaren Volksentscheid vom 5. Juli 2015, als fast zwei Drittel der Griechinnen und Griechen „Ochi“ – „Nein“ – sagten, verraten zu werden: Syriza unterzeichnete die Kapitulationsurkunde der EU unter Schäubles Knute. [2]
Der neue Dengler-Krimi von Wolfgang Schorlau greift das Thema Griechenland übrigens neu auf – wohl auch ab und an gestützt auf unser Griechenland-Buch.
Doch bei all dem: Dieses Stuttgart 21-Buch ist für mich, wie erwähnt, etwas Besonderes. Etwas Besonderes aus drei Gründen:
Erstens – die Existenz einer breiten Bürgerbewegung und das Eingebettetsein in diese langjährige Bewegung. Bei S21 handelt es sich um dasjenige unter meinen Engagements mit der größten Kontinuität. Genau genommen mit einer nunmehr 22-jährigen Geschichte. Da gibt es nicht nur dieses viel zitierte erste S21-Buch, das ich 1995 schrieb („Stuttgart 21 – Hauptbahnhof im Untergrund“). Es gab da auch eine erste Veranstaltung in Stuttgart 1995, auf der ich zu dem Thema sprach – und in deren Gefolge dann Gangolf Stocker die Gruppe „Leben in Stuttgart – Kein Stuttgart 21“ gründete.
Ich fand jetzt – im Rahmen der Arbeiten für dieses neue S21-Buch – sogar noch Ort und Datum für dieses Treffen: in meinem 1995er Terminkalender steht mit Datum 30. November 1995: „Stutttgart 21 VA – Zentralkultur, Pfarrstr.“
Als dann 2009 diese Bewegung Fahrt aufnahm und ab 2010 eine massenhafte wurde, war ich dabei – eher im zweiten Glied, weil inzwischen bei Berlin wohnend. Aber doch immer wieder auch vor Ort. Auf Demos. Am Mikro. 2014 auch die Konferenz „20 Jahre Bahnreform – 20 Jahre Stuttgart 21“ mitorganisierend.
Und es ist halt eine Sache, wenn man über ein Sachthema – z.B. eine Weltwirtschaftskrise oder die globalisierten Transportorganisation – von außen schreibt. Beziehungsweise wenn man eine satte Niederlage zu beschreiben und zu verarbeiten hat – etwa im Fall Polen 1981ff oder im Fall Griechenland nach dem Juli 2015. Oder ob es eine lebendige Bewegung vor Ort gibt, die einen mit-trägt. Die einen beim Schreiben bewegt, begeistert und beflügelt.
Zweitens ist dieses Buch etwas Besonderes, weil damit viele persönliche Beziehungen und Freundschaften verbunden sind. Und viele neue dabei entstanden.
Das ist echt eine glückliche, fast könnte man sagen: eine göttliche Fügung, dass es bei diesem Thema und bei diesem Buch zu so vielen inspirierenden persönlichen Verbindungen kam. Da gab und gibt es Freunde aus den alten Zeiten meiner politischen Gruppe GIM [Gruppe Internationale Marxisten] bzw. VSP, dann aus der „alten PDS“, aus den Naturfreunden (wo ich jüngst, im Mai, wieder im Clara-Zetkin-Heim in Sillenbuch referierte und an die Tradition von mehr als acht Jahren monatlicher Matinees – in den Jahren 1996 bis 2004 – anknüpfen konnte). Hier nenne ich mal stellvertretend nur zwei Namen – Tom Adler und Werner Sauerborn – weil es sonst zu viele Proteste gibt wegen all derjenigen Namen, die ich vergessen hätte.
Es kamen neue Freunde und Freundinnen hinzu – wie Volker Lösch, Walter Sittler, Egon Hopfenzitz, Sabine Leidig, Sabine Schmidt. Es gab die befruchtende Zusammenarbeit mit den Leuten, die in der Bahnexpertengruppe „Bürgerbahn statt Börsenbahn“ zusammenarbeiten (wie Eberhard Happe, Karl-Dieter Bodack, Heiner Monheim). Pro Bahn-Leute wie Andi Kegreiß, die Robin-Wood-Aktivistin Monika Lege, und zumindest ein echter Lokführer, Thilo Böhmer, stießen hinzu. In diesem Zusammenhang gab es auch eine gute Zusammenarbeit mit Freunden in der GDL, vor allem in der Zeit, als diese 2014/15 mit ihren Streiks der Republik zeigten, dass eine kleine, kampfstarke Gewerkschaft erfolgreich sein kann.
Reichlich krass und typisch für unsere globalisierte Welt war es dann, dass ich eine alte Freundschaft, die mich mit Prof. Hermann Knoflacher aus Wien verbindet, in Peking auffrischte… Ja, wir sprachen dort im September 2014 gemeinsam auf einer Tagung, die die Rosa-Luxemburg-Stiftung mit organisiert hatte. Wir debattierten dort auch viel über Stadtzerstörung an den Beispielen Peking und… eben auch Stuttgart, was dann mit dazu beitrug, dass bald darauf Hermann Knoflacher in Stuttgart hier in diesem Saal anlässlich der Verabschiedung von Gangolf Stocker als Gemeinderat die Hauptrede hielt – was heute wohl „keynote“ heißt.
Und dann gab es da nicht zuletzt diese ganz ausgezeichneten Kontakte und Freundschaften mit Leuten jenseits der Landesgrenzen – so mit den aktiven Frauen im Val di Susa, Italien, die gegen die Hochgeschwindigkeitsstrecke Lyon – Turin kämpfen. Und mit Tiziano Cardosi in Florenz und Susanna Kuby in Venedig, die sich gegen zerstörerische Großprojekte in ihren Städten engagieren. Und alle diese Leute haben dann ja auch in Stuttgart auf Montagsdemos geredet und dazu beigetragen, dass diese Bürgerbewegung hier immer mehr auch eine Einbettung in diese internationalen Engagements erfuhr. Wobei es hier eine Klammer gab und gibt: Die vielfältigen, europaweiten Engagements gegen „Le grandi opere inutili“ – gegen die „großen unnützen und zerstörerischen Großprojekte“ – sind eingebunden in eine lockere Koordination, mit der die hier Engagierten sich vernetzt haben.
Drittens ist das Buch etwas Besonderes aufgrund der Verbindung von Bewegung und Kultur. Wie wir dies ja auch heute Abend praktizieren, mit den Intros von Ekkehard Rössle.
Die deutsche Linke gilt traditionell als kulturlos. Wobei das gute Gründe hat. Franz-Josef Degenhardt hat die Ursache benannt, ja besungen: „Wo sind unsere Lieder, unsere alten Lieder? […] Tot sind uns're Lieder, uns're alten Lieder / Lehrer haben sie zerbissen / Kurzbehoste sie verklampft / braune Horden totgeschrien / Stiefel in den Dreck gestampft.“
Immer wieder, wenn wir in Italien, in Frankreich, in Spanien, in Portugal oder in Griechenland große antikapitalistische Bewegungen erlebten, dann spielte dort so gut wie immer Kultur, echte volkstümliche Kultur, eine große Rolle. Songs, Trommeln, Feste, Gemälde, Wandmalerei, Rockmusik usw. Da singen dann auch wir gerne mit – „Avanti popolo…“; „Bella ciao…“ In Westdeutschland war dies höchst selten. Mit Walter Mossmann gab es da eine wunderbare Ausnahme – die nicht zufällig auf einer anderen echten Bürgerbewegung, derjenigen gegen das Atomkraftwerk in Wyhl, basierte. Auf den UZ-Pressefesten versuchte man auch oft – und gelegentlich erfolgreich – eine solche Verbindung von emanzipatorischem Kampf und kreativer linker Kultur herzustellen.
Die Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21 war von vornherein mit Kultur eng verbunden, ja ohne diese gar nicht vorstellbar. Es gab wohl keine Montagsdemo ohne einen kulturellen – meist musikalischen – Beitrag. Hier entstanden wunderbare Trommler- und Musikgruppen, die die Demos begleiteten und begleiten: Lokomotive Stuttgart, Parkblech, Compagnia Sackbahnhof, Capella Rebella… Und ebenso begeisternde Musikgruppen wie den Lenkungskreis Jazz, den wir heute auf der Montagsdemo, teilweise in Verbindung mit den Trommlerinnen und Trommlern, hörten.
Schließlich konnte ich in diesem Saal bei einer ganz besonderen Kulturaufführung mit dabei sein und Lyrik von Brecht und Auszüge aus dem Buch „Ein Zug aus Eis und Feuer“ von Manu Chao, dem französisch-portugiesischen Rockmusiker zitieren. Das war damals, als Bernd Köhler und seine Gruppe
ewo2 aus Mannheim das neu und speziell für den Kampf gegen Stuttgart 21 entwickelte Programm „Zug um Zug“ im April 2014 und dann nochmals 2015 vortrugen. Die Texte dazu wurden damals auch von Walter Sittler, Egon Hopfenzitz, Andreas Kleber und Christine Prayon mitgesprochen.
Diese drei Elemente – die zwei Jahrzehnte währende Kontinuität und Präsenz in einer Bewegung, die vielen alten und neuen Freundschaften, die sich damit verbinden, und die Einheit des politischen Engagements mit Kultur – waren es dann, die das ursprüngliche Projekt, das diesem Buch zugrunde lag, völlig über den Haufen warfen. Denn Ende 2016 wurde das Buch vom Verlag noch als ein 120-Seiten-Büchlein vorgestellt. Für mich galt dann: „Halb zog er ihn // halb sank er hin“. Will sagen: Es war der Verlag PapyRossa und sein Chef Jürgen Harrer, die mich beknieten, ein doch etwas umfangreicheres „Büchle“ zu schreiben. Ich dachte eigentlich nur an einen neuen Sammelband. An etwas für „Zwischendrin“. Vielleicht ein Bändchen mit ein paar aktualisierten, aufgemotzten Montags-Demo-Reden. Es wurde dann etwas ganz anderes. Eine mehr oder weniger runde Sache. Wie „rund“, das müsst schon ihr, die Leserinnen und Leser, mir am Ende signalisieren.
Wobei ich beim Schreiben dann ziemlich verdutzt feststellte, dass es zu Stuttgart 21 bislang kein einigermaßen rundes Buch gibt. Nur mehr oder weniger gelungene Publikationen, die einen Zwischenstand beschreiben, so eines von Wolfgang Schorlau und zwei, an denen ich maßgeblich beteiligt war. Und ein zutiefst ideologisches und in weiten Bereichen verlogenes Buch, dasjenige vom Ex-OB Wolfgang Schuster und Frank Brettschneider.
Wobei mein Buch nicht nur Bestandsaufnahme, nicht nur Beschreibung des Projektes als solches, nicht nur Kritik an S21 auf der Höhe der Zeit sein soll. In dem Buch wird zugleich der Versuch unternommen, Stuttgart 21 als Teil der aktuellen kapitalistischen Krise zu erklären. Deutlich zu machen, dass in diesem irrationalen, zerstörerischen Projekt eben auch die Ratio und die Logik des Kapitals steckt, dass da eine für das Kapital sinnvolle, weil profitable Zerstörungskraft wirkt. Und dass der Kampf hier in Stuttgart sich einordnet in das, was weltweit als „Recht auf Stadt“ Thema ist und was von dem Historiker und Geograph David Harvey – auf den ich auch erst im Rahmen meiner Arbeit für dieses Buch gestoßen wurde – sehr gut analysiert wird.
Auf Seite 155 im Buch habe ich das folgende Zitat aus einem früheren Schorlau-Krimi eingebaut: „Martin, ich bitte dich! Warum sollte ausgerechnet die Bahn den Stuttgarter Verkehrsknoten …. Wie sagtest du? „Chaotisieren?“ „Ja. Warum soll die Bahn das machen? Die wollen doch wohl, dass die Züge reibungslos laufen.“
Ich sage – und Schorlau lässt Dengler das sagen: Nein, das wollen sie nicht. Die Top-Leute der Deutschen Bahn AG wollen nicht primär „Züge reibungslos laufen“ lassen. Diese Bahn ist längst im Inneren und beim Top-Personal durchsetzt von Figuren aus der Autoindustrie und dem Bereich Flugverkehr und Flugzeugbau, denen ein reibungsloser Schienenverkehr hart am Arsch vorbei geht. Das sind Leute, die Schienenverkehre zerstören und für die Gegenseite arbeiten. Das belege ich in dem Buch im Detail – und nicht nur am Beispiel Stuttgart 21. Dafür gibt es das große negative Vorbild USA, wo seit den 1930er Jahren als Resultat einer Verschwörungspraxis die öffentlichen schienengebundenen Verkehrssysteme systematisch – Stadt für Stadt, generalstabsmäßig geplant – zerstört wurden, und zwar konkret geplant und durchgesetzt von einem konspirativ arbeitenden Kartell aus General Motors, Ford, Chrysler und Firestone.
Apropos Kartell. Es gibt ja nicht nur dieses neu aufgeflogene Diesel-Kartell, das jetzt Furore macht.… Es gab auch ein Schienenkartell – die interne Bezeichnung lautete „Schienenfreunde“. Dieses Kartell war bis vor fünf Jahren aktiv – und es wirkte ebenfalls, wie das Diesel-Kartell, über Jahrzehnte hinweg im Verborgenen. In diesem Schienenkartell waren alle wichtigen Stahlproduzenten Europas in abgrundtiefer, bodenloser Kumpanei verbunden. Diese verkauften an alle europäischen Eisenbahnen den Schienenstahl zu Preisen, die um mehr als 50 Prozent über dem normalen Marktpreis lagen. Das heißt: Da ging es um Steuergelder, für die man am Ende nur rund halb so viel Schiene bekam, wie man hätte bekommen müssen. Die Schienenkartell-Leute trafen sich ebenfalls regelmäßig und heimlich – in einem Duisburger Lokal mit Mafia-Hintergrund. Sie gaben sich Decknamen aus dem Sado-Maso-Bereich.
Und vor allem – haltet Euch fest: Die Deutsche Bahn AG war in diesem Kartell mit vertreten. Da saßen oft Bahnmanager mit bei den Geheimtreffen, die damit darüber informiert waren, dass sie deutlich zu viel für Schienenstahl zu bezahlen hatten. Dass hier viele Steuergelder für viel zu wenig Schiene ausgegeben wurden, das war Untreue in Serie, begangen gegen das eigene Unternehmen. Ich schrieb damals über diese Geschichte Artikel. Auch das „Handelsblatt“ berichtete. Doch es gab leider keinen Aufschrei – und das Ganze hatte wenig Konsequenzen. Es soll aber ein weiteres Mal illustrieren, wie zersetzt und im Inneren selbstzerstörerisch diese Deutsche Bahn AG zusammengesetzt ist.
Ich sprach eingangs von dem Cohen-Konzert am 1. Oktober 2010 in der Stuttgarter Schleyer-Halle. Dieses Konzert war nicht nur kulturell wichtig und eine Ode an die Solidarität und die Liebe zur Natur, zu den Jahrhunderte alten Bäumen. Ich finde auch den Text absolut zeitgemäß und spannend – für uns alle. Cohen macht in dem Text auf eine Sache aufmerksam, die wir immer wieder bei großen gesellschaftlichen Kämpfen erleben: Darauf, dass es oft einen überraschenden „Riss“ in der Maschine der Zerstörung, in den bürokratisierten Apparaten, bei den repressiv-zerstörerischen Kräften gibt. Wobei dieser „Riss“ nur ein anderes Bild für den Tropfen ist, der das Fass zum Überlaufen bringen kann, wie dies nicht zuletzt Peter Conradi immer wieder betonte.
Der kanadische Poet und Sänger Leonard Cohen fordert in diesem Song – und er forderte bei seinem Auftritt in Stuttgart am 1. Oktober 2010 dazu auf, die Augen offen zu halten und Ausschau zu halten – nach diesem Riss, durch den der Lichtstrahl dringt.
So vieles auf der Welt / Ist in Finsternis gehüllt und in Chaos geworfen […]
Mit diesen haltlosen Leuten / Will ich mich nicht länger abgeben /
Während die Mörder dort oben / Vollmundig beten /
Doch sie haben etwas heraufbeschworen, ja, heraufbeschworen /
Heftige Gewitterböen / Und sie werden von mir hören.
Läutet alle Glocken, die wir noch zum Klingen bringen /
Nehmt Abstand von all den profanen Dingen /
Immer gibt es einen Riss – einen Spalt – im Inneren /
Durch ihn wird ein Lichtstrahl dringen.
Soweit Leonard Cohen. Soweit meine hoffentlich nicht zu ausufernden Sätze zur Buchvorstellung. Soweit und so viel zu unserer gemeinsamen Sache.
Die objektiven Gründe, warum Stuttgart 21 scheitern wird, entnehmt bitte dem 320-Seiten-Büchle. Auf dieser Grundlage der objektiven Analyse können wir aus guten Gründen als kämpferische Subjekte nach dem Riss, durch den Licht einfallen wird, Ausschau halten. Zumal es ja auch so ist, dass Risse im S21-Gipskeuper, durch die Wasser eindringen und der Anhydrit quellen dürfte, so sicher wie das Amen in der Kirche sind.
Oben bleiben!
[1] Leonard Cohen, Anthem, beim Konzert in Stuttgart am 1. Oktober 2010 gewidmet den Bäumen im Schlossgarten; zu sehen und zu hören: https://www.youtube.com/watch?v=ZemZdP4HKYo. Übersetzung WW.
[2] Dieses Buch „Die griechische Tragödie erscheint im Herbst 2017 in einer 2., erweiterten und aktualisierten Auflage. Gelichzeitig erscheint das Buch Ende 2017 in Athen in einem Verlag in griechischer Sprache.
Rede von Winfried Wolf bei der Buchvorstellung im Rathaus als pdf-Datei
Tolle Vermarktung dieses Buches, dieses Manifestes, weiter so! Danke Herr Wolf.
Ob das ein Kompliment sein soll oder der Versuch, ironisch rüberzukommen? Egal, erst mal lesen – dann kann man über Inhalte diskutieren. Das Buch gibt es (noch) an der Mahnwache, ist aber fast schon aus.