Rede von Dipl.-Ing. Frank Schweizer, Netzwerk Kernerviertel, auf der 374. Montagsdemo am 26.6.2017
Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand!
Liebe Freunde,
wer am letzten Mittwoch, den 21. Juni, beim Landgericht der Verhandlung zwischen zwei betroffenen Eigentümerinnen und der DB Netz AG beigewohnt hat, lief Gefahr, vom Glauben abzufallen. Auf jeden Fall wurde mein Vertrauen in einen funktionierenden Rechtsstaat auf dem Hoheitsgebiet der Bundesregierung Deutschland nachhaltig beschädigt. Wie konnte das geschehen?
Im Planfeststellungsbeschluss 1.6 b für den Abschnitt in Untertürkheim steht in den Nebenbestimmungen (Ziff. A VII 3.2.3 und 2.3.11, 4. Spiegelstrich) geschrieben, dass Schutzvorkehrungen gegen Erschütterungsimmissionen zu zumutbaren Bedingungen zu ergreifen sind. Der Planfeststellungsbeschluss zitiert in diesem Zusammenhang die Werte für Menschen in DIN 4150 Teil 2 und für bauliche Anlagen in DIN 4150 Teil 3.
Wenige Tage zuvor hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg eine Klage der beiden Eigentümerinnen abgewiesen. In diesem Verfahren ging es um das grundsätzliche Verbot nächtlicher Sprengungen im Lindenschulviertel, das äußerst knapp unterfahren wird. Die Richter haben jedoch in ihrer Begründung ausgeführt, dass nach ihrer Einschätzung mit dem Planfeststellungsbescheid die dort genannten DIN-Anhaltswerte als Grenzwerte rechtsverbindlich sind. Im Verfahren vor dem Landgericht Stuttgart bestritt nun der Rechtsanwalt der Bahn, dass die DIN-Anhaltswerte eine allgemein gültige gesetzliche Norm seien. Die Bahn lehnt offenbar DIN Vorschriften ab, wie es ihr passt, auch wenn sie im Planfeststellungsbeschluss ausdrücklich genannt sind.
Wo ist die Instanz, die hier für Recht und Ordnung sorgt? In Karlsruhe! Wo ist der zuständige Minister, der das Eisenbahnbundesamt beaufsichtigen und auf die Durchsetzung solcher Normen drängen bzw. ihre konsequente Anwendung durchsetzen könnte? Er ist im Wahlkampf oder in Brüssel, um krampfhaft eine Ausländermaut durchzusetzen.
Der Lärmimmissionsbeauftragte der Bahn meinte im Gericht dazu, dass das Eisenbahnbundesamt 2007 wohl nicht gewusst habe, was es da schreibt, als es diese Werte zu Grenzwerten erhob. Ganz in diesem Sinn verlief der Prozess. Dieser Experte fungiert seit fast 20 Jahren als Gutachter im Auftrag der Bahn und hat bei der Planfeststellung mitgewirkt und soll für die Einhaltung des Immisionsschutzes bei Stuttgart 21 sorgen.
Zwei Hauseigentümerinnen wollten auf den Planfeststellungsbeschluss allein nicht vertrauen und unterschrieben daher die Gestattungserklärung, mit der sie der Unterfahrung ihres Grundstücks zustimmten, nur unter der Bedingung, dass der Planfeststellungsbeschluss gilt.
In den Verhandlungen mit der Bahn, die unter Mitwirkung des Anwalts stattfanden, war ausdrücklich von der Einhaltung der Erschütterungswerte beim Tunnelbau zum Schutz ihres Wohngebäudes die Rede. Die beim Bau tatsächlich von einem privat beauftragten Gutachter gemessenen Werte wiesen deutliche Überschreitungen der Anhaltswerte auf. Diese wurden von der Bahn bestritten mit dem unverschämten Vorwurf der Manipulation. In der gerichtlichen Auseinandersetzung vor dem Landgericht räumte der Anwalt der Bahn zu Beginn der Verhandlung jedoch überschrittene Werte ein, bestritt aber eine rechtliche Verbindlichkeit der maximalen Anhaltswerte. Dies sei, so der Anwalt, mit Blick auf die Unwägbarkeiten des Tunnelbaus auch nicht umsetzbar.
Nun stellte sich der Richter am Landgericht, Dr. Markus Haas, während der Verhandlung die Frage, ob die betroffenen Eigentümerinnen überhaupt auf die Einhaltung des Planfeststellungsbeschlusses aufgrund der Gestattungserklärung, die auch von einem Vertreter der Bahn unterschrieben wurde, klagen könnten. Er schwadronierte zirka eine Stunde lang über verschiedene zu beachtende Schritte der Vertragsauslegung. Er kam schließlich zu dem Ergebnis dass beide Vertragspartner bei der Erwähnung des Planfeststellungsbeschlusses insbesondere nicht die Grenzwerte für Lärmimmissionen im Blick gehabt hätten, sondern die Bezugnahme auf den Planfeststellungsbeschluss sei lediglich als eine Hilfe beim Verständnis des Umfelds der Inbesitznahme des Grundstücks zu verstehen. Kapiert? Das versteht wohl nur ein Jurist mit Prädikatsexamen!
Dieser umständliche und überlange Vortrag in einer für Laien kaum nachvollziehbaren Sprache war für Klägerinnen und Zuhörer eine echte Zumutung. Und dann sein Ergebnis: Also, wenn ich ausdrücklich in einem Vertrag unterschreibe, dass ich mit den Bauarbeiten auf meinem Grundstück unter Beachtung des Planfeststellungsbeschlusses durch die DB Netz AG einverstanden bin, so kann das doch nicht heißen, dass die darin genannten Grenzwerte für Lärmimmissionen gerade nicht gelten sollen. Das Ergebnis der Textanalyse kann nur sein, dass ich gerade darauf Wert lege und aus nahe liegenden Gründen einer verständlichen Vertragstechnik darauf verzichte, den Planfeststellungsbeschluss einschließlich der darin erwähnten Grenzwerte über zig Seiten abzuschreiben.
Nur nebenbei sei bemerkt, dass es fast peinlich zu beobachten war, wie sich der Richter bemühte, durch ständigen Blickkontakt während seiner ca. einstündigen Darlegung die Zustimmung der Vertreter DB Netz AG zu erhalten. Der Vertreter der Klägerinnen kam währenddessen kaum zu Wort. Da war nichts zu machen. Es gab einen Vergleich. Der Vertreter der Bahn gab die Erklärung ab, dass diese sich in Zukunft bemühen werde, Überschreitungen der Grenzwerte zu vermeiden. War da was?
Mein Fazit: Die Planfeststellungsbeschlüsse gelten nur, wenn sie der Bahn dienen. Privatrechtliche Vereinbarungen zwischen Eigentümern und DB Netz AG werden selbst vom Gericht nicht anerkannt.
Meine Damen und Herren, die Gerichtsverhandlung am Mittwoch war öffentlich. Daher darf ich auch weitergeben, dass der Richter selbst eingangs von sich sagte, dass er von der Materie wenig verstehe. So ist es nicht verwunderlich, dass es weniger um die schlaflosen Nächte der Bewohnerinnen oder um mögliche Schäden am Gebäude der Klägerinnen ging, sondern vielmehr um die juristische Frage, ob die Grenzwerte überhaupt in einem solchen Fall zwischen den Vertragspartnern vereinbart wurden. Der Tunnel unter dem besagten Gebäude ist inzwischen durchgemeißelt und gesprengt. Es besteht nach Auffassung des Gerichts sowieso keine Wiederholungsgefahr. Wahrscheinlich nicht im Lindenschulviertel, jedoch an vielen anderen Tunnelabschnitten. Noch sind erst 50 % der Tunnel vorgetrieben
Diese Erfahrung bei Gericht lässt einen Justizskandal mutmaßen. Doch, liebe Freunde des Kopfbahnhofes, ich werde dadurch nicht zum vielzitierten Wutbürger. Wut macht blind. Ich möchte mir meinen klaren Kopf bewahren für die Tage, an denen mal Züge unter unserem Haus fahren sollten und Erschütterungen erzeugen, die nicht zulässig sind. Spüren würden wir sie allemal „in zumutbarem Umfang“ so der Immissionschutzbeauftragte. Die Verursacher sind dann von der politischen Bühne verschwunden, aber ich werde dieses unsinnige Projekt von Oettinger, Mappus, Merkel, Pofalla und ihren Vasallen im Bahnvorstand nicht verzeihen und schon gar nicht vergessen…
Die Gefahr, dass weitere Eigentümer sich mit der DB Netz AG anlegen, um ihre Rechte zu wahren, ist gering. Die Tatsache, dass sehr hohe Kosten an den Klägern hängen bleiben, insbesondere, wenn sich ein solcher Prozess durch Berufung und Revision zieht, wird viele abschrecken, ihr Recht einzuklagen. Der Gesetzgeber sollte über einfachere und bezahlbare Wege zum Recht nachdenken.
In Stuttgart sind nicht nur Gebäude von Privateigentümern von den Tunneln betroffen. Die Stadt Stuttgart, das Land Baden-Württemberg, die Evangelische Kirche, Wohnungsbaugesellschaften, selbst der Interessenverband Haus und Grund und viele sogenannte Investoren sind von Stuttgart 21 betroffen. Dennoch ist von diesen noch kein klärender Prozess angestrengt worden, wie sie für ihre Vermögensverluste und andere Beeinträchtigungen durch das unsägliche und unsinnige Projekt angemessen entschädigt werden. Aber bei diesen Eigentümern trifft es ja nur die Gesellschaften. Von den geschäftsführenden Personen hat niemand einen persönlichen Verlust.
Wer jedoch als Privateigentümer sein Recht einfordert, aber nach einem für ihn negativen Urteil nicht das Geld hat, in die nächste Instanz zu gehen, der kann wohl oder übel sein Recht nicht geltend machen, sondern muss resignieren. Das Vertrauen in unser Rechtssystem wird dadurch nicht gestärkt.
Wenn ich heute und mit diesen Erfahrungen auf den Widerstand gegen S21 zurückblicke, sehe ich die vielen freiwilligen Experten, die ungezählte Stunden unbezahlt geleistet haben, um die unsinnigen Planungen zu korrigieren. Das Expertenwissen, das sich in den vielen Erörterungsverhandlungen gezeigt hat, ist unbezahlbar. Aber auch die Honorare für die Anwälte und Gutachter sind auf Dauer unbezahlbar. Deshalb sind viele Prozesse, die Klärung hätten bringen können und müssen, nicht geführt worden. Die Prozesskosten der Bahn sind Geschäftskosten, die den Gewinn der AG und damit ihre Steuerschuld mindern. Prozesskostenspenden an Privatpersonen sind jedoch steuerlich nicht absetzbar.
Man muss in unserem Land schon Ex-Minister sein, um Prozesshilfe zu bekommen. Wenn schon potente Eigentümer kneifen, fordere ich für die Privateigentümer, die ihr Recht einklagen wollen, wenigstens für einen Musterprozess die finanziell erforderliche Prozesshilfe, um den notwendigen Rechtsfrieden herzustellen.
Leserbrief zum Artikel „Bahn räumt Erschütterungen ein“ in der Stuttgarter Zeitung vom 22.6.2017
(Bis 26. Juni 2017 nicht abgedruckt)
Für uns als Zuschauer war es überraschend, wie Richter Dr. M. Haas bei der Einführung in die juristische Problematik den Gestattungsvertrag, den die Parteien abgeschlossen hatten, auslegte. Dabei ging es um den Sinn der folgenden Erklärung der Eigentümerinnen: „Mit der Inanspruchnahme der Teilfläche meines Grundstücks zur Durchführung der Bauarbeiten – unter Beachtung des Planfeststellungbeschusses durch die DB Netz AG – für die Errichtung des Bahnknotens S21 bin ich einverstanden.“ Der hier angesprochene Planfeststellungbeschluss 1.6a enthielt dann auch die Grenzwerte für die Lärmimmissionen, deren Einhaltung die Klägerinnen erreichen wollten. In einer vornehmlich an die Adresse der beklagten Bahn gerichteten ca. einstündigen Erläuterung kam Richter Dr. Haas nun zu dem Ergebnis, dass die vertragsschließenden Parteien bei dieser Bezugnahme wohl kaum die strittigen Immissionswerte im Sinn gehabt hätten, sondern nur den größeren Zusammenhang der Inbesitznahme des betroffenen Grundstücks ansprechen wollten. Folgt man dieser Argumentation, muss man sich fragen, was denn überhaupt der Sinn und Zweck konkreter Angaben in einem Planfeststellungsbeschluss ist. Dieser hat doch Allgemeingültigkeit, und zwar einschließlich der Grenzwerte, und zwar ohne dass diese auch unter Vertragspartnern, die sich in diesem Umfeld bewegen, noch einmal ausdrücklich genannt und vereinbart werden müssten. Das ist Sinn und Zweck von Grenzwerten in einem Planfeststellungsbeschluss. Einer der Zuhörer fragte spontan nach Schluss der Verhandlung. „Was war denn das?“
Dipl.-Ing. Prof. Dr. jur. Uwe Dreiss, Dipl.-Ing. Frank Schweizer