Gemeinden: Von der Selbst- zur Fremdverwaltung
Sehr geehrte und geschätzte S21-Streiterinnen und Streiter,
aus dem weit entfernten und eigentlich ziemlich nahen Köln bewundere ich seit Jahren Ihre nachhaltigen Aktivitäten und freue mich, dass ich heute bei Ihnen sein kann. Leider ist das meiste, das ich Ihnen darstellen soll, nicht so schön.
Die Kommunen, die Gemeinden haben nach dem Grundgesetz Artikel 28 die Garantie für gemeindliche Selbstverwaltung. Da gilt das Universalitätsprinzip, das heißt Allzuständigkeit. Es geht um die Sicherheit des alltäglichen Lebens, um günstige Wohnungen, ordentliche Schulen, sauberes Trinkwasser und funktionierende Abwasserentsorgung, um Nahverkehr, bezahlbare Energieversorgung, sichere Straßen, offene Freizeit- und Sportanlagen, auch um eine freundliche und schnelle Verwaltung und nicht zuletzt um Stadt- und Gemeinderäte, die Bürgerinteressen vertreten und nicht mit Beratern und Investoren herummauscheln. Die Gemeinden haben sogar das Aufgabenfindungsrecht, das heißt, sie können im Interesse der Bürger auch neue Aufgaben übernehmen.
Das klingt gut. Aber wie ist die Realität? Aus der Selbstverwaltung ist in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland weithin eine Fremdverwaltung geworden. Und diese Entwicklung wäre noch immer nicht zu Ende, wenn wir sie nicht aufhalten.
In den 1990er Jahren begann es mit der Privatisierung öffentlichen Eigentums. Dies wurde durch die Regierungsparteien CDU, CSU und FDP eingeleitet und nicht nur auf der Bundesebene praktiziert, etwa bei der Post, sondern auch auf der Landesebene und in den Gemeinden. Die Müllentsorgung wurde den großen Strom- und Energiekonzernen zugeschustert. Dafür wurden bekanntlich, so nebenbei, so manche Kommunalpolitiker bestochen. Die meisten blieben straflos.
Die Energie-Konzerne stiegen aber auch auf andere Weise ein. In ihren regionalen Herrschaftsterritorien kauften sie Anteile an hunderten von Stadtwerken, vor allem der großen Städte wie Berlin, Köln und Stuttgart. RWE kaufte in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Energie Baden-Württemberg EnBW kaufte in Baden-Württemberg. Das Versprechen war: Damit werden kommunale Haushalte saniert. Aber als Miteigentümer der städtischen Unternehmen für Strom, Fernwärme und Gas können die Konzerne seitdem über die Preise der von ihnen gelieferten Energie mitbestimmen. Und gleichzeitig geben die Gemeinden einen Teil ihrer Stadtwerksgewinne an diese Konzerne ab, und zwar dauerhaft. Auch deshalb stiegen die Energiepreise für die Bürger und auch deshalb wuchsen die kommunalen Schulden.
Vielleicht erinnern sich einige von Ihnen an das sogenannte Cross Border Leasing Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre. Da haben Städte ihre Kanalisationen, Straßenbahnen, Kraftwerke, Trinkwasseranlagen und Messehallen an Investoren in den USA verkauft – und wieder zurückgemietet. Das ließen sich die Gemeinden von der Deutschen Bank, der United Bank of Switzerland und auch von Landesbanken aufschwatzen. Ihre Landesbank Baden-Württemberg LBBW zum Beispiel mischte am Verkauf der Kanalisation meiner Stadt Köln mit. Die sogenannten Investoren hatten schon damals ihren juristischen Sitz zwar nicht in Panama, aber in der größten Finanzoase der Welt, im US-Bundesstaat Delaware – kein schwäbischer und auch kein Stuttgarter Bürgermeister – Wolfgang Schuster hieß er – haben sich daran gestört.
Wes Geistes Kind diese Finanzoasen-Freunde waren, zeigte sich auch daran, dass Ihr Stuttgarter Schuster damals gleichzeitig den New Yorker Immobilienspekulanten Donald Trump bewunderte. Schuster wollte bekanntlich Stuttgart durch einen Trump Tower verschönern. Gott beziehungsweise dem Gemeinderat sei es gedankt, dass dies nicht zustande kam. Sonst würde womöglich heute die Fahne der US-Republikaner hier über uns wehen.
In Baden-Württemberg war beim Cross Border Leasing ein Unternehmen besonders aktiv, nämlich Daimler Financial Services, die Finanztochter Ihres geliebten Autokonzerns Daimler. Den Versprechungen auf die sofort cash ausgezahlten „Barwertvorteile“ von ein paar Millionen fielen so manche Bürgermeister und Gemeinderäte herein. Die Handlungsfähigkeit der Gemeinden und Landeswasserverbände war eingeschränkt, etwa bei der Bewilligung von Bauland. Die Auflösung dieser gesetzeswidrigen Verträge hat in manchen Städten ebenfalls zu zusätzlicher Verschuldung beigetragen.
Ein noch wesentlich schädlicheres Finanzinstrument hat die Bundesregierung aus SPD und Grünen Anfang der 2000er Jahre nach Deutschland gebracht: Public Private Partnership, PPP, öffentlich-private Partnerschaft. Aber das ist keine Partnerschaft, sondern Unterwerfung und Erpressung der öffentlichen Hand.
Diese Mietverträge für Schulen, Rathäuser und auch für Landratsämter, Justizzentren und Gefängnisse laufen meist 30 Jahre. Das soll die überschuldeten Haushalte der Gemeinden, aber auch der Bundesländer und des Zentralstaates entlasten. Der juristischen Form nach nimmt die öffentliche Hand keinen Kredit auf, sie soll ja die schwarze Null einhalten. Stattdessen nehmen die Baukonzerne den Kredit auf, spielen Generalunternehmer, errichten die Gebäude und übernehmen 30 Jahre lang den Betrieb mit allen Gewerken, Hausmeistern, Energiemanagement, Grünflächenpflege, Sicherheit, Reparaturen.
Aber die Erfahrungen zeigen, dass diese Verträge zulasten der öffentlichen Hand gehen. Nachforderungen der Generalunternehmer führen zu Mehrkosten ebenso wie die häufigen Pleiten der ausgepressten Subunternehmen. Bei der soeben nach 10 Jahren Bauzeit eröffneten Elbphilharmonie in Hamburg hat der Baukonzern Hochtief durch Nachträge die Kosten von 70 auf 700 Millionen Euro verzehnfacht.
Diese Methode ist sowieso ein finanzieller Irrsinn, gerade heute, wo die öffentliche Hand so günstig wie nie Kredite bekommt, während auch der cleverste Investor wesentlich mehr Zinsen für seine PPP-Kredite bezahlen muss und dazu noch einen möglichst hohen Gewinn herausholen will. Die drei Jahrzehnte lang überhöhten Zinsen und die Gewinne gehen in die Mieten ein. Statt Entlastung der Haushalte steigen auch die öffentlichen Schulden zusätzlich.
Mit dem Personen-Beförderungsgesetz von 2013 hat die jetzige Bundesregierung auch den Nahverkehr in den Gemeinden für private Investoren aufgesprengt. Die baden-württembergische Stadt Pforzheim spielt hier den Vorreiter und hat in diesem Jahr als erste deutsche Stadt ihre Verkehrsgesellschaft verkauft. Geringere Fahrleistungen und niedrigere Gehälter für die Busfahrer hat der Investor schon angekündigt. Investor ist übrigens eine Tochtergesellschaft der Deutschen Bahn, mit dem unscheinbaren Namen Südwestbus RVS.
Der sozialdemokratisch lackierte Wirtschaftsminister Gabriel hat namens der Bundesregierung das Projekt „Stärkung von Investitionen in Deutschland“ angestoßen. Damit lädt er die maroden Großbanken und Versicherungskonzerne wie Allianz und Ergo ein, ihr Geld nach dem Muster von Public Private Partnership in der öffentlichen Infrastruktur anzulegen, mit staatlicher Gewinngarantie. Was für ein Irrsinn, der auch vom finanziellen Oberdemagogen in Deutschland, dem christlich lackierten schwäbischen Finanzminister Wolfgang Schäuble gestützt wird: Die öffentliche Hand in Deutschland bekommt, wie schon erwähnt, Kredite zum Nullzins, aber nein, stattdessen sollen die Bürger zahlen, damit die Deutsche Bank und Allianz und Ergo Gewinne von 7 Prozent einstreichen, und zwar jahrzehntelang.
Dafür soll auch die Beratungsagentur „Partnerschaft Deutschland“ eingesetzt werden. Sie wurde von der Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD, damals 2008 mit Finanzminister Peer Steinbrück, als Aktiengesellschaft gegründet. Banken, Baukonzerne und Berater wie Freshfields, Price Waterhouse Coopers und KPMG sind Miteigentümer dieser Agentur. Gefördert wurden bisher Public Private Partnership-Projekte. Dabei kamen für die öffentliche Hand nur die genannten Flops heraus. Aber das sind im heute regierten Deutschland die erforderlichen Qualifikationsnachweise, um weitere Aufgaben zu übernehmen. Deshalb soll diese Agentur jetzt die Gemeinden auch bei allen anderen Investitionen beraten.
In den Gemeinden und Bundesländern ist inzwischen wegen der schlechten Erfahrungen die Skepsis gewachsen: Kaum jemand will das Muster Public Private Partnership noch anfassen. Aber die unbelehrbaren Fundis sitzen ganz oben, in der Bundesregierung. Es gehört zum jetzt ausgemauschelten Bund-Länder-Finanzausgleich, dass die Bundesregierung mithilfe der Agentur „Partnerschaft Deutschland“ den direkten Zugriff auch in die Gemeinden bekommt.
Es fing an mit dem Public Private Partnership-Projekt Toll Collect, also der Mauterhebung für LkWs auf den Autobahnen. Die SPD-Grüne Bundesregierung unter Schröder/Fischer beauftragte 2003 Daimler und die Deutsche Telekom. Sie kamen aber ihren vertraglichen Pflichten nicht nach. Zwei Jahre lang funktionierte das System nicht. Dem Bundeshaushalt gingen Milliarden an Mauteinnahmen verloren. Die Bundesregierung klagte vor einem privaten Schiedsgericht auf Schadenersatz. Das Schiedsgericht kam in seinen Geheimverhandlungen zu keinem Urteil. Alle Bundesregierungen seitdem ließen sich erpressen. Daimler und Telekom lehnten namens ihrer Aktionäre einen Vergleich ab. Und der Vertrag hätte spätestens 2014 neu ausgeschrieben werden müssen. Aber das geschah nicht, Daimler und Telekom dürfen in einer rechtlichen Grauzone weitermachen. Bis heute haben Daimler und Deutsche Telekom acht Milliarden Schulden beim Staat.
Auch hier sagt der Kürzungskommissar und Schwarze-Null-Fundamentalist Schäuble kein Wort. Wie viele Schulen und Kindergärten und ordentliche Flüchtlingsunterkünfte könnte man allein mit diesen acht Milliarden bauen? Übrigens: Die Verkehrsminister seit Stolpe von der SPD bis Dobrindt von der CSU ließen sich für die Geheimverhandlungen mit Daimler und Telekom von Freshfields und Konsorten beraten und haben für diese erfolglose Dauerberatung bisher 124 Millionen Euro bezahlt.
Da sitzt übrigens Ihr Ex-Oberbürgermeister Schuster in seinen neuen Funktionen unscheinbar irgendwo auch mit herum: Er sitzt im Konzernbeirat der Deutschen Bahn und er agiert als Vorsitzender der Telekom-Stiftung.
Das Bundesverkehrsministerium ist auch sonst der fundamentalistische Vorantreiber des Public Private Partnership-Verfahrens. Die Minister Ramsauer und Dobrindt von der CSU haben für Bau, Reparatur und Betrieb eines knappen Dutzends Autobahnabschnitte den Baukonzernen Hochtief, Bilfinger, Vinci und anderen die 30-Jahres-Verträge zugeschustert. Der Bundesrechnungshof und Landesrechnungshöfe haben immer wieder sehr zurückhaltend, aber bestimmt festgestellt, dass dieses Verfahren für die öffentliche Hand zu teuer ist. Aber die ideologisch verrannte beziehungsweise von den Investoren erpresste Bundesregierung mit ihren Ministern Schäuble, Dobrindt und Gabriel wischen die Kritik der staatlichen Rechnungshöfe vom Tisch. Sie hier in Stuttgart kennen das bei S21.
Weil das so schön ist, wollen diese Geisterfahrer ihre tödliche Spur beibehalten. Das nächste Projekt ist die privatrechtliche Verkehrs-Infrastruktur-Gesellschaft. Dabei geht es aber gar nicht um Verkehr allgemein, nicht um Schienenverkehr, nicht um öffentlichen Nahverkehr und nicht um Radverkehr. Vielmehr sollen ausschließlich Autobahnen und Fernstraßen ausgebaut werden.
In diese private Gesellschaft soll das Straßenvermögen von etwa 250 Milliarden Euro und der künftige Kreditbedarf von etwa 200 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt und aus den Landeshaushalten ausgegliedert werden. Die nächsten 30jährigen Public Private Partnership-Projekte sollen ohne jegliche parlamentarische Kontrolle vergeben werden können. Die Schwarze-Null-Fundis wollen mithilfe dieses riesigen Schattenhaushalts mit ihren Investoren im Geheimen mauscheln können.
Dazu soll jetzt schnell das Grundgesetz geändert werden. Denn den Bundesländern sollen die Landes-Straßen-Verwaltungen mit 30.000 Beschäftigten abgenommen werden. Und damit noch mehr Geld reinkommt, liegen die Pläne für die allgemeine Pkw-Maut in der Schublade. Die Maut für Ausländer wäre nur der erste Schritt. Die Ministerpräsidenten der Bundesländer haben beim jetzigen Finanzausgleich dem Deal zugestimmt: Sie haben ihre bisherige Opposition gegen die private Verkehrsgesellschaft zurückgenommen. Da war auch Ihr grünlackierter Landesvater dabei.
Ich weiß, dass Sie alle schon folgendes wissen: Dieser Ausbau der Fernstraßen und der Maut hängt auch mit den sogenannten „Freihandels“verträgen zusammen. Die Wirtschaft soll ja auch dadurch wachsen, dass noch mehr Güter noch schneller transnational und transkontinental von übermüdeten Busfahrern hin- und her transportiert werden können. Freihandel ist auch Luftverschmutzung und gefährliches Lohndumping.
Beim jetzt unterzeichneten Abkommen CETA mit seinen einseitigen Rechten für private Investoren erwähne ich nur einen Punkt: CETA fällt hinter die Europäische Wasser-Richtlinie zurück. Privatisierung auch in den Kommunen soll möglich sein, jedenfalls in bestimmten Teilbereichen. Und eine Re-Kommunalisierung wäre nicht möglich. Die ausländischen Investoren könnten in die kommunalen Rechte des Anschluss- und Benutzungszwangs, der Gebührenfestsetzung, der Festlegung von Wasserschutzgebieten, der Wegenutzung, der Wasserentnahme und Wassereinleitung eingreifen. Investoren könnten der interkommunalen Zusammenarbeit Grenzen setzen. Und mit den nächsten dieser „Freihandels“verträge TTIP und TISA wollen Bundesregierung, Europäische Kommission und die Investoren- und Beraterlobby die Entwicklung noch weiter treiben.
Ich brauche vor Ihnen hier in Stuttgart, diesen vorbildlichen nachhaltigen Streiterinnen und Streitern für Demokratie und transparente Betriebswirtschaft, nicht die einzelnen Forderungen aufzuzählen, die aus der von mir dargestellten korrupten Misswirtschaft resultieren.
Nur eine Frage: Anfang diesen Jahres haben sich Bürgermeisterinnen und Bürgermeister und gewählte Vertreter und Initiativen aus 40 Städten und Landkreisen Europas in Barcelona getroffen. Aus Spanien, Frankreich, Österreich, Großbritannien, den Niederlanden und Belgien und auch aus Deutschland war man dabei. Vertreten waren auch die Großstädte Barcelona, Madrid, Birmingham, Wien, Grenoble und Köln. Es gibt übrigens schon 1.600 Gemeinden in der Europäischen Union, die sich per Gemeinde- und Stadtratsbeschluss für TTIP-frei erklärt haben. Die in Barcelona anwesenden Vertreter aus Brüssel und Grenoble haben sich bereit erklärt, die nächste Versammlung der europäischen Gemeinden auszurichten.
Und wie sieht es in Stuttgart aus – wird der grüne Oberbürgermeister dabei sein? Oder wer sonst aus dieser unserer Versammlung?
Ich freue mich sehr, hier bei Ihnen zu sein. Ich wünsche Ihnen weiteres Durchhaltevermögen und Erfolg. Köln und das demokratische Deutschland blicken auf Sie!