Aufschub zum Umstieg?
Von der Sondersitzung des Bahn-Aufsichtsrats am 13. Oktober zur nächsten
„ordentlichen“ Sitzung am 14. Dezember 2016
Liebe Freunde,
Bei der letzten Montagsdemo fragte mich der ZDF-Reporter: woher nehmen diese Menschen – also Ihr alle – ihre Motivation zum Widerstand gegen das Projekt Stuttgart 21? Da klingt für mich staunendes Anerkennen in der Frage. Würden auch die Entscheidungsträger berührt sein und staunen, welcher Verantwortung wir uns stellen, bei der wir politisches Handeln vermissen, dann müsste der von uns geforderte Dialog über den Umstieg aus S21 selbstverständlich sein.
Das Ergebnis der Sondersitzung des Bahn-Aufsichtsrats am 13. Oktober ist ein Aufschub – ein Innehalten und sorgfältiges Prüfen der Lage beim Großprojekt S21, bevor in der nächsten „ordentlichen“ Sitzung am 14. Dezember 2016 die Weichen gestellt werden. Das ist ein Teilerfolg mit noch offenem Ergebnis.
Vor den Sachfragen zuerst zur Berlinreise. Ja, Berlin war wieder mit 50 Bürgerbewegten eine Reise wert. Danke an Andy Kegreiß und seine Helfer für das hervorragende, sehr preisgünstige Organisieren der Reise. Genau genommen waren es drei Termintage in Berlin, hauptsächlich mit riesigem Einsatz in Händen von Werner Sauerborn – eingeleitet mit unserer Pressekonferenz in der Landesvertretung Baden-Württemberg vor einer Woche mit SWR und ZDF und mit Prof. Christian Böttger, Prof. Heiner Monheim, Werner Sauerborn und mir, das könnt Ihr weitgehend durch einen Mitschnitt nacherleben. Unsere Präsenz in der Landesvertretung hatte Henning Zierock für uns erreicht, der auch am Mittwoch und Donnerstag dankenswert moderierte.
Am Mittwoch begeisterten vor dem Schwabenstreich am Bahntower die Ansprachen von Winfried Wolf und Volker Lösch, zusammen mit dem tontechnisch übertragenen „Empört Euch, liebt Euch“ von Konstantin Wecker.
Am Morgen des Donnerstags dann vor der Aufsichtsratssitzung wehte ein typischer eisiger Wind am Bahntower, Potsdamer Platz, aber Bernhard Knierim ermunterte für Die LINKE, und uns Bürgerbewegten gelang einiges, was in ganzen Fotoserien z.B. von Wolfgang Rueter dokumentiert ist: ARD- Hauptstadtstudio, Deutsche Presseagentur, Deutschlandfunk, n-tv waren da, und der Pressesprecher des Bahnkonzerns nahm über 20.000 Petitionen entgegen, bevor Werner und ich interviewt wurden. Mittags dann „5 vor 12 Uhr“ folgten die Übergabe des Gutachtens Vieregg III zu Umstiegskosten vor dem Verkehrsministerium und ein spannendes Gespräch mit dem Grünen-Parteichef Cem Özdemir vor dessen Parteizentrale.
Nun zum eigentlichen Thema: Wo stehen wir jetzt in der Auseinandersetzung um Stuttgart 21? Die unterschiedlichen Positionen des Bundesrechnungshofs (BRH) und des Wirtschaftsprüferunternehmens KPMG sollen verglichen und ausgewertet werden. Auch die Gutachten Dr. Vieregg sind heranzuziehen:
Der BRH stellt insgesamt fest, im Gesamtwertumfang (GWU) des Projekts habe die Bahn nahezu 1,4 Mrd. Euro Projektrisiken nicht abgebildet, knapp 200 Mio. Euro Einsparungen zu optimistisch angenommen und nahezu 1,5 Mrd. Euro Herstellungskosten fälschlich Stuttgart 21 nicht angerechnet. Das ergeben nicht – wie die Bahn behauptet – 6,5, sondern rund 9,6 Mrd. Euro Projektkosten.
In nachfolgend genannten Positionen greift der BRH auf die Faktenbasis der Bahn zurück, kommt aber zu anderen Bewertungen. So orientiert der BRH seine Kostenprognose an konzernweiten Erfahrungswerten der DB AG für Infrastrukturprojekte: Sie zeigen ein Nachtragsvolumen für Vergabeaufträge von mindestens 24 %. Bei S21 nimmt die Bahn aber nur ein Nachtragsvolumen von 17 % an. Damit sind 600 Mio. Euro Risiken nicht abgebildet. KPMG kann dem nichts entgegenzusetzen haben, da die Tatsachen unstreitig sind.
Selbst KPMG hat beim Tunnelbau in Cannstatt im sogenannten unausgelaugten Gipskeuper entgegen der Bahnbehauptung eindringendes Wasser feststellen müssen. Ursache: Die Bahn hatte 130 Mio. Euro Einsparungen durch dünnere Tunnelwände und kleineren Tunnelquerschnitt erreichen wollen. Die Kosten der jetzt notwendigen Sicherungsmaßnahmen allein in einem Planfeststellungsabschnitt liegen aber bei 144 Mio. Euro, so dass die Mehrkosten die Einsparungen übertreffen. Zudem lassen Reparatur- und Schadensfälle innerhalb der 60 km Tunnel erwarten, dass sehr aufwändige Notlagen entstehen und der Kopfbahnhof zwingend erhalten werden muss (vgl. Vieregg-Gutachten I S. 23).
Der BRH bestätigt eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die ungeklärten Sicherheitskonzepte für den Tiefbahnhof mit Talquerung – Brandschutz, Rettung, Entrauchung – sowie der Filderbereich mit Flughafenanbindung die Inbetriebnahme um zwei Jahre verzögern und 300 Mio. Euro Mehrkosten verursachen werden. Auch KPMG sieht entsprechende Risiken. Warum sie diese dennoch nicht kritisch einbezogen hat, kann am clever begrenzten Parteiauftrag liegen. Dieses angeblich unabhängige Gutachten muss endlich veröffentlicht werden.
Aus weiteren Risiken für die zentrale Baulogistik, Kosten von Schlichtung und Filder-Dialog und zu niedrig angesetzten Preissteigerungen resultieren laut BRH je weitere mehr als 100 Mio. Euro, das sind in der Summe 1,4 Mrd. Euro. Hinzu kommen 200 Mio. zu optimistisch berechnete Einsparungen von 200 Mio. Euro auf den Neubau des Abstellbahnhofs Untertürkheim, zusammen 1,6 Mrd. Euro. Dabei kann die von der Bahn verheißene Gegensteuerung von mehr als 500 Mio. Euro nicht abgezogen werden, weil sie – wie der BRH treffend feststellt – viel zu vage, nicht genehmigt, nicht realisierbar ist. Dies umso weniger, als die Bahn schon 2009 mit 891 Mio. fiktive Einsparpotentiale schön gerechnet hatte und drei Jahre später eine schuldhaft verursachte „Kalkulationsdifferenz“ von 1,1 Mrd. Euro zugeben musste.
Der Gutachter Dr. Vieregg sieht die hohen Komplikationen im Tiefbahnhof nicht allein als Zeitverzögerung, sondern ermittelt dafür Mehrkosten von 913 Mio. Euro und für den Zeitaufschub von drei Jahren weitere 826 Mio. Euro – 526 Mio. Euro mehr als der BRH. Deshalb kommt Dr. Vieregg auf anderem Wege zu 9,8 Mrd. Euro Kosten.
Der BRH rechnet dagegen zu den Projektkosten hinzu, was weder KPMG noch Dr. Vieregg einbeziehen: Insbesondere der Einnahmeverzicht bei Überlassung bahneigener Grundstücke, Rückbaukosten für das Gleisvorfeld, Verzugszinsen für die spätere Freigabe von Grundstücken an die Stadt Stuttgart – all das und einiges mehr beziffert der BRH – leider ohne es aufzuschlüsseln – mit nahezu 500 Mio. Euro Mehrkosten plus knapp 1 Mrd. Euro Bauzeitzinsen.
Würde man die Kostensteigerungen addieren, die vom BRH und von Dr. Vieregg ermittelt werden, käme die Kostenprognose für Stuttgart 21 auf 11 bis 12 Mrd. Euro. Selbst das erfasst nicht alle Risiken. Sicher ist aber, dass
a) die vom BRH berechneten knapp 1,5 Mrd. Euro Mehrkosten den Bundeshaushalt und den Steuerzahler belasten, wogegen sich der BRH nachdrücklich zur Wehr setzt. Das muss der Aufsichtsrat als staatseigener Konzern beachten. Erst recht muss er sich den Kosten stellen, die mit etwa 8,1 Mrd. Euro (6,5 plus 1,6 Mrd.) auf einvernehmlicher Faktenbasis und den Erfahrungswerten der Bahn beruhen, aber nicht finanziert sind; da auch keiner der Projektpartner dafür einsteht, zählt das vom BRH zitierte haushaltsrechtliche Verbot, dass ein nicht finanziertes Projekt auf keinen Fall gefördert werden darf.
b) Ferner wird der Tiefbahnhof laut BRH bei einer Kapazitätsverkleinerung „kostenintensiv“ aufgerüstet werden müssen. Daraus folgt: Der Kopfbahnhof muss erhalten werden, was den Bund im Falle des Weiterbaus von S21 zusätzlich belastet würde.
c) Auch haftet die Bahn für alle Schadensfälle des gefährlich sechsfach überhöhten Schiefbahnhofs. Dies alles unterstreicht die Sackgasse von S21 für den ohnehin mit 18 Milliarden Euro enorm verschuldeten Bahnkonzern. S21 – das Fass ohne Boden – würde eine solche untragbare Schieflage des DB-Konzerns noch drastisch verschärfen.
Der am 13. Oktober geschaffene Aufschub der weichenstellenden Entscheidung über Stuttgart 21 darf kein Alibi sein, als ob man „sorgfältig ermitteln“ würde, sondern muss dazu dienen, die intelligente Lösung des Umstiegs einzuleiten. Was kann uns dem näher bringen?
a) Wie ich erfahren habe, hat das Bundesfinanzierungsgremium des Bundestages Bahnchef Grube anhand des BRH-Berichts vorgeladen. Außerdem führt der BRH selbst Gespräche mit Amtspersonen, welche die Entscheidung vom Dezember vorbereiten. Das kann die richtige Weichenstellung erleichtern.
b) Und was können wir zur Debatte in Stadt, Land und bundesweit beitragen, damit der Dialog für den Umstieg Fahrt aufnimmt? Der Gemeinderat will ab dem 26. Oktober erörtern, wie mit den Bürgerbegehren zu S21 – Kosten und Kapazität – umzugehen ist. Dafür bietet der BRH-Bericht eine Steilvorlage. Gleiches gilt für die Debatte im Lenkungskreis am 7. November: Ein nicht finanziertes Großprojekt darf laut BRH nicht gefördert werden, was auch das Land und die Stadt zu beachten haben. Alle beteiligten Entscheidungsträger, auch Herr Kretschmann und Herr Kuhn, sollten signalisieren, dass sie an der Umsetzung der Maßstäbe des Bundesrechnungshofs mitwirken werden und daher über Alternativen zu S21 gesprächsbereit sind.
c) Lasst uns die einzigartige Ausgangslage für den Umstieg so gut wie möglich nutzen: Da ist der nicht-öffentliche Termin mit der IHK und der öffentliche Termin im Theaterhaus Stuttgart am 23.11.2016 über das Umstiegskonzept. Morgen werden wir im Aktionsbündnis auch den Vorschlag erwägen, aufklärende Aufrufe per Handzettel in Haushalte zu bringen, um auf jede sinnvolle Weise unsere Kräfte zu bündeln und für den Umstieg zu mobilisieren. Bitte helft mit und spendet für entstehende Kosten!
Dran bleiben, OBEN bleiben!
Meine Hochachtung und höchsten Respekt zum Engagement
Vielen Dank an Dr. Eisenhart von Loeper. Sein unermüdlicher Einsatz für ein gutes Bahnprojekt, in Stuttgart, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Die verantwortlichen Politiker in Land und Stadt, sollten die Alarmglocken läuten hören.
Herr Kretschmann und Herr Kuhn wachen Sie auf!
Herr Bopp vom Regionalparlament Stuttgart, sollte mit seiner Verkehrspolitik, den Bankrott anmelden!