Appell zum Mutmachen: Rede von Vera am 30.9.2016

Auf dem Banner am 30.9.2016: Wera am 30.9.2016

Vera  - eine 14-jährige Schülerin - war das Gesicht des jungen Widerstands am Schwarzen Donnerstag vor sechs Jahren. Ihr Foto - wie sie einen Polizisten anschaut, als sie versucht, mit ihm über das brutale Vorgehen im Park zu reden -,  ging durch viele Medien, ihr Bild ist auf Postern und Bannern zu sehen, auch auf dem Frontbanner des diesjährigen Gedenktages 30.9.

Sechs Jahre nach dem Schwarzen Donnerstag, am 30.9.2016, stand Wera – nun als 20-jährige Studentin – auf den Stufen des Stuttgarter Rathauses und schilderte ihre Eindrücke von damals. 300 Menschen, die an diesem Mittag zur Versammlung „Gedenktag 30.9.“ auf den Marktplatz gekommen waren, hörten sichtlich bewegt zu, wie die junge Frau eindringlich ihre Erlebnisse schilderte und am Schluss ihre persönlichen Worte über den Marktplatz rief. Jeder Satz war so eindringlich, dass ihre Worte mit ihrer ganzen Prägnanz auch „die da oben“ erreichen müss(t)en. Diese Rede war ein Geschenk!

(Veras Rede ist hier als Text und in einem darauf folgenden Video zu lesen bzw. hören.)

Hallo,
mein Name ist Vera und ich war vor sechs Jahren im Schlossgarten mit dabei. Damals war ich gerade 14 Jahre alt, aber dennoch kommt es mir vor, als wäre es erst gestern gewesen. Heute noch finde ich es schrecklich, was damals passierte und werde es auch nicht vergessen.
Ich war dort mit zwei Freundinnen unterwegs. Von Freunden hatte ich gehört, dass bald die große Baumfällung bevorstand. Über hundert Jahre alte Bäume für einen Tiefbahnhof fällen, den wir alle – oder jedenfalls viele – nicht wollten.

Das durfte meiner Meinung nach nicht passieren, und dagegen wollte ich auch etwas tun. Deshalb war ich an diesem Tag bei der Schülerdemo mit dabei. Wir hatten keinen Plan. Wir wollten einfach nur verhindern, dass die Bäume sterben sollten. Als wir dann im Park ankamen, konnte ich es kaum fassen: Hunderte von Polizisten finden schon an alles abzusperren, teils standen sie schon in Reihe in kompletter Kampfausrüstung. Manche von ihnen sahen aber auch hilflos aus. Planlos. Ohne Erfolg versuchte ich auch mit einem der Polizisten zu sprechen.

Kinder, Jugendliche und Erwachsene liefen aufgeregt hin und her. Teilweise wurden Sitzblockaden gebildet und versucht, Wege und Polizeiautos zu blockieren. Als diese gewaltsam geräumt wurden, versuchten meine Freundinnen und ich uns zu den Seiten zurückzuziehen. Ich wurde in der Menschenmenge nach vorne gedrängt und bekam von einem wahllos in die Menge zielenden Polizisten Pfefferspray in die Augen. Ich konnte kaum noch etwas sehen und meine Freundinnen hatte ich auch verloren. Eine Frau half mir schließlich und brachte mich zu den anderen freiwilligen Helfern, damit ich mir die Augen auswaschen konnte.

Ich kam mir fast vor wie im Krieg. Wasserwerfer kamen dazu und zielten wild in die Menge, zielten auf flüchtende Menschen, zielten auf die Kinder, die in den Bäumen saßen und auch in den Rücken weglaufender Menschen. Irgendwann konnten wir nicht mehr dabei sein und gingen weg. Wir hielten es einfach nicht mehr aus.

Auch konnte ich nicht verstehen, dass hinterher unser Engagement von der Polizei, der Bahn und der Regierung schlecht geredet wurde oderkriminalisiert. Wir wären selbst schuld gewesen, dass wir dort waren, hieß es dann. Vor allem aber unsere Eltern und unsere Lehrer, die uns das womöglich erlaubt hätten, wären schuld daran.

Uns sagt man aber auch: Wir sollen denken lernen, nicht für die Schule – nicht nur -, sondern für uns selbst. Und Denken heißt für mich, über mein Leben, mein Handeln, meinen Lebensraum, in dem ich lebe, nachzudenken und dann auch so zu handeln. Ich möchte nicht in einer Stadt leben, in der wir alle ohnmächtig zusehen müssen, wie die Natur nicht geachtet wird, die Umwelt immer weiter zerstört wird und die Luft verpestet ist. Ich will all das nicht! Darum war ich vor sechs Jahren am 30.9. im Park. Und darum stehe ich heute hier.

Manchmal glaube ist, dass wir hier zu sehr fremdbestimmt leben, dass wir ohnmächtig sind. Und das macht mich mutlos. Aber dann denke ich wieder: Falsch, nicht traurig sein! Das nützt niemandem! Ändern muss es sich! Aber wie, das muss jeder für sich selbst entscheiden – und dann auch danach handeln!

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2 Antworten zu Appell zum Mutmachen: Rede von Vera am 30.9.2016

  1. Pingback: Gedenken 30.9. – 6. Jahrestag des Schwarzen Donnerstags: Medienberichte und Fotos | Bei Abriss Aufstand

  2. edelseele sagt:

    Das war richtig schön, dass Vera bei der Veranstaltung eine so persönliche Rede gehalten hat. Gut, dass es ein Video davon gibt, ich konnte leider nicht dabei sein. Danke Vera!

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