„Wir vergessen nicht“, hieß es auf einem Banner, das in den letzten Jahren bei Schweigemärschen am 30. 9., dem „Schwarzen Donnerstag“, mitgeführt wurde. Für S21-Kritiker war der 30.9.2010 ein einschneidendes Ereignis; das Datum steht fest markiert im Kalender. So wie 9/11 im kollektiven Gedächtnis der Welt einen bedeutenden Platz hat, ist der 30.9. für Stuttgart ein Tag mit herausragender Bedeutung. Auch wenn die politischen und gesellschaftlichen Dimensionen beider Daten nicht zu vergleichen sind, so waren doch beide Tage von Gewalt bestimmt, deren Auswirkungen nachhaltig sind und – hier taugt die Floskel - „Die Welt“ (9/11) bzw. „die Stadt“ (30.9.) verändert haben. Zwei grüne Oberhäupter im Südwesten wären ohne den 30.9. nicht denkbar gewesen.
Fünf Jahre lang hatte es am 30.9. jeweils eine große Gedenkveranstaltung gegeben, mit „Trauermarsch“ und Reden, in denen die vollständige juristische Aufarbeitung der Vorgänge am 30.9.2010 und Konsequenzen bis in höchste politische und polizeiliche Ebenen gefordert wurde. Seit dem letzten Gedenktag ist nun eine Kernforderung der S21-Gegner erfüllt, nämlich dass sich das Verwaltungsgericht mit dem 30.9.2010 befasst und die Klage von Geschädigten annimmt. Nach zwei Verhandlungstagen hat das Stuttgarter Verwaltungsgericht am 18.11.2015 die polizeilichen Maßnahmen im Schlossgarten am 30.9.2010 als rechtswidrig erkannt. Urteil hier
Dieses Urteil – unermüdlich hatte das „Tribunal 30.9.“ dafür gekämpft und sehnlichst erwartet – bestätigte, was alle, die den 30.9.2010 miterlebt hatten, im tiefsten Inneren wussten, aber als juristische Laien nicht konkretisierten konnten: Der Polizeieinsatz war illegal, die Demonstration legal. So einfach hört sich das an und so schwer war es für die Justiz, zu diesem Urteil zu kommen. Die Aufklärung des 30.9. konnte nur juristisch erfolgen, falls man an die politische Unabhängigkeit von Gerichten glaubt.
Mehr als fünf Jahre hatte es gedauert, bis sich die Justiz „bequemte“, sich mit dem Polizeieinsatz am „Schwarzen Donnerstag“ öffentlich zu befassen. Wohl hatten einzelne Polizeiverantwortliche für einzelne Aktionen zuvor schon vor Gericht gestanden und Strafen oder aber mutlose Einstellungen ihrer Verfahren bekommen, aber das Landgericht hatte die Taten der angeklagten polizeilichen Verantwortlichen eher als Ausrutscher „im Eifer des Gefechts“ und als bedauerliche Kollateralschäden gewertet.
Hier wurde sehr deutlich vor Augen geführt, dass Justiz sich in der Regel mit Einzelfällen beschäftigt, ohne sie in einen Kontext zu stellen, ohne die großen – wirklich großen! – Zusammenhänge zu analysieren. Im Falle vom 30.9. wäre es zu allererst einmal die Aufgabe des Verwaltungsgerichts gewesen, zu klären „Waren die polizeilichen Maßnahmen am 30.9.2010 legal?“ Ohne diese Grundsatzfrage ist doch eine juristische Bewertung und eine Urteilsfindung gar nicht möglich .,.. Denkt sich der juristische Laie.
Die Frage nach dem Grundsätzlichen ist übrigens kein Phänomen vom 30.9., sondern liegt wie ein Schatten auf dem gesamten Projekt Stuttgart 21. Es gibt zig Fälle, wo Stuttgarter Gerichte aus vorauseilendem Gehorsam und Angst vor der „heißen Kartoffel“ - nämlich der Rechtmäßigkeit von S21 - Urteile sprechen, deren Rechtsbasis fehlt. In 30 Jahren – hoffentlich schon früher - wird man sich ungläubig fragen, wie es sein konnte, dass S21 gebaut wurde, ohne die anstehenden juristischen Fragen der Rechtmäßigkeit zu klären. Klagen zu diversen Bereichen von S21 liegen beim Verwaltungsgericht vor, aber sie werden wohl erst abgearbeitet, wenn der unterirdische neue Haltepunkt eröffnet ist – also nie.
An den Stuttgarter Gerichten scheint es jedenfalls so zu sein, dass man sich eher mit Nicht-Aufarbeitung profilieren kann. Hier wird zuerst Klein-Klein verhandelt, nach Jahren stellt man sich die Frage, ob die Grundlage überhaupt legal war. Merkwürdig? Wir sollten nicht der Versuchung erliegen, das als „Einzelfälle“ zu erklären. Es ist erschreckende Methode. Dass die juristische Antwort auf den 30.9. eine Bewährungsprobe für den Verfassungsstaat ist, wurde bis zum 18.11.2015 nicht erkannt. Mehr als fünf Jahre hatte es gedauert.
Der aus dem Ruder gelaufene Polizeieinsatz war illegal. Wäre dieses Urteil gleich im ersten Jahr nach dem „Schwarzen Donnerstag“ ergangen, hätten die TeilnehmerInnen der Demonstration (Versammlung) und Großblockade im Schlossgarten die Bestätigung gehabt, dass ihr Einsatz rechtens war und die Geschädigten hätten schon viel früher eine Kompensation für ihr Leiden erhalten.
Und die Verantwortlichen der polizeilichen Maßnahmen, die nicht gefragt haben, ob das, was sie sehen und tun, legal ist? Tausende von Polizisten, die als Schützer des Grundgesetzes nicht erkannt haben, dass es sich hier um eine Versammlung nach Artikel 8 des Grundgesetzes handelt? Am 30.9. hat sich gezeigt, dass der klare Verstand – bei vollem Bewusstsein – dort aussetzen kann, wo das Grundgesetz einsetzt. Es hat sich gezeigt, dass der Befehl der Maßstab des Handelns ist. (Bislang ist nur ein einziger Polizist bekannt, der sich am 30.9.2010 auf das Remonstrationsrecht bezogen hat und seine Einheit verlassen hat.)
Was sagt uns das für den 30. September 2016? Auch dieses Jahr ist „Wir vergessen nicht“ wieder eine zentrale Botschaft. Aber weder Hass noch Rache bestimmen den Tag, sondern neben dem Gedenken ist da die Mahnung an Politik, Justiz und Polizei, dass sie niemals mehr den Maßstab ihres Handelns und ihrer Befehle vergessen mögen, nämlich die Menschenrechte und das Grundgesetz.
Bei einem Schweigemarsch, der am Freitag, 30.9.2016, um 12:00 Uhr am Stuttgarter Rathaus (angemeldet) beginnt, wird es über den Schillerplatz gehen (kurzer Stopp am Justizministerium), dann über die Königstraße und zur Mahnwache am Bahnhof. Hier können am offenen Mikrofon (Megafon) Erlebnisse des 30.9.2010, Ansprachen, Gedanken, Gedichte, Lieder und alles, was es zum 30.9. zu sagen gibt, gesagt werden. Ende der Kundgebung wird gegen 13:30 sein.
(Petra Brixel)
Den schwarzen Donnerstag mit 9/11 zu vergleichen, ist doch wirklich eine Schande, so schlimm der Tag im Park auch war!