Rede von Dr. Norbert Bongartz, Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21, auf der 325. Montagsdemo am 13.6.2016
Auferstehung aus der Grube und der Zukunft zugewandt...
Was kommt nach S21? In jedem Fall: Vorfahrt für Bahnfahrer und Reisende
Liebe renitente Mit-Demonstranten und Mit-Demonstrantinnen, die Sie S21, das angebliche große Geschenk an unsere Stadt, immer noch nicht als ein solches erkennen können, geschweige denn zu schätzen bereit sind. Wie oft schon haben wir hören müssen: Was wollt Ihr eigentlich jetzt noch? Seitdem die Bahn drauf los baut, sei die Situation doch unumkehrbar. Jetzt müsse man – notgedrungen – das Beste draus machen...
Ich frage mich, wir fragen uns, wie soll man aus einem verkorksten Projekt noch das Beste machen können? Die kleinen Korrekturen an der Rohrer Kurve und am Vaihinger Bahnhof und die im Tiefbahnhof zusätzlich geplanten Fluchttreppenhäuser an den Bahnsteig-Enden machen das Abenteuer-Projekt doch nicht besser!
Immer mehr erweist sich dieses Großprojekt als Fehlkonstruktion und gigantische Fehl-Investition der Bahn. So langsam dämmert es allen für S21 Verantwortlichen, dass sie auf die Verliererstraße geraten sind. Der anfängliche Jubel bei der Landes-FDP und -SPD ist verstummt, die Landes-CDU hat sich bei den Koalitionsverhandlungen einen Knebel zu S21 in den Mund schieben lassen. OB Kuhn setzt sich erkennbar von der Bahn als Partner ab. Die Zeichen mehren sich, das Flaggschiff der Bahn hat nur noch eine handbreit Wasser unterm Kiel – Tendenz sinkend... doch nein, dieses Schiff kann nicht mehr sinken, nein, es läuft bald auf Grund und kommt nicht mehr weiter. In dieser Situation wirken die Beteuerungen von Volker Kefer und dem Projektleiter Leger nur noch wie das Pfeifen im dunklen Wald...
Angesichts der immer offensichtlicheren Bahn-Dämmerung ist es wohl nur noch eine Frage weniger Wochen oder Monate bis zum bitteren Eingeständnis aller Befürworter und Macher, das uns als alternativlos verkaufte Großprojekt S21 könne – aufgrund unvorhersehbarer Schwierigkeiten – leider nicht mehr fortgesetzt werden.
In unserer Stadt wird es also bald einen riesigen Scherbenhaufen geben, neben dem der Kopfbahnhof weiter läuft und läuft und läuft, wenngleich als hässlicher Torso, dessen Instandsetzung auf einen Schlag unumgänglich, also alternativlos sein wird.
Ausgehend von diesem Szenario hat sich in den letzten Monaten aus dem Aktionsbündnis heraus eine Arbeitsgruppe gebildet, an der etwa ein Dutzend engagierte Menschen mitwirken, hauptsächlich Architekten – voran Peter Dübbers, der Enkel von Paul Bonatz – Bahnfachleute wie Klaus Gebhard, und mehrere Computer-Fachleute. Uns trieb die Frage um: Was kommt nach dem Kollaps? Hat die Bahn einen Plan B? Wir sind davon überzeugt, den hat sie sicher nicht! Wollen wir warten, bis die Bahn irgendwann mal ein eigenes Verlegenheits-Projekt vorstellt? Nein, so lange warten wollten wir nicht.
Unsere Gruppe hat erst einmal an einem Konzept für einen wiederhergestellten und optimierten Bahnhof geknobelt. Dabei haben wir festgestellt, dass man einen guten Teil der für den Tiefbahnhof ausgebuddelten Bereiche auch sinnvoll für einen optimierten Kopfbahnhof nutzen könnte. Wir kümmern uns aber auch um das ganze bahnbetriebliche Umfeld – bis ins Neckartal, bis Wendlingen und Zuffenhausen. Auch um das nach dem Scheitern von S21 bald bebaubare C-Areal haben wir uns Gedanken gemacht und Visionen für ein neues Stadtquartier dort entwickelt. Uns geht es also nicht um ein einfaches: „Ziehen Sie zurück auf Los“, nicht um einen nostalgischen Rückbau des Bonatzbahnhofs und seines Umfeldes, sondern darum, wie ein optimaler Umstieg vom heutigen Bauzustand auf einen optimierbaren Kopfbahnhof und Mittleren Schlossgarten aussehen könnte.
Einen ersten Zwischenstand unserer Überlegungen hatten wir vor 3 Wochen im Forum3 vorgestellt. Der Saal war mit 110 Besuchern brechend voll... Den zweiten Zwischenstand zu den verkehrlichen Fragen wird Klaus Gebhard am nächsten Montag ab 19:30 vorstellen, wieder im Forum3. Hören und sehen Sie sich auch seine Visionen für eine bessere verkehrliche Zukunft rund um Stuttgart an!
Nach diesen eher theoretischen Vorbemerkungen lassen Sie mich konkreter werden: Ein erneuerter Kopfbahnhof kann und soll – noch mehr als je zuvor – zu einem verdichteten Verkehrsknoten werden, der 8 Verkehrsmittel auf engstem Raum miteinander verknüpfen kann: das U-Bahn-Netz und die Linienbusse im ÖPNV, den Bahnverkehr, einen Fernbus-Bahnhof (ZOB), daneben Fahrrad-Garagen, dazu noch ein neues Parkhaus für private PKWs plus für Leihfahrzeuge und für Taxi-Vorfahrten.
Direkt unter den Bahnsteigen kann ein vom Schlossgarten und aus der Großen Schalterhalle ebenerdig erreichbarer Fernbusbahnhof plus Fahrrad-Abstellfläche für Pendler sein. Ein Stockwerk darunter – das gibt der Aushub zwischen den ehemaligen Flügelbauten her(!) – kann ein Parkhaus plus Autoverleih-Bereich angeordnet werden.
Natürlich müssen die abgebrochenen aber unverzichtbaren Flügelbauten wieder aufgebaut werden. Über deren Gestaltung wird man trefflich streiten können. Wir sind der Meinung, dass beim Südflügel mindestens die drei vorspringenden Risalite im alten Erscheinungsbild wiederhergestellt werden müssen.
Beim Mittleren Schlossgarten denken wir daran, dass wir dem ersten Reflex widerstehen sollten, die dort ausgehobene 10 m tiefe Grube mit der dünnen Magerbetonschicht einfach wieder von unten bis oben zu verfüllen. Entscheidend ist dort die Wiederherstellung der großen Liegewiese und die Möglichkeit, Schatten spendende Baumgruppen darauf zu setzen, die kaum mehr als eine einen Meter dicke Erdschicht benötigen.
In den wiederauferstehenden Park könnte ein vom Verkehrslärm abgeschirmtes Amphitheater als besserer Ersatz für den abgerissenen Landespavillon entstehen, sowie von dort aus zugänglich, weitere unterirdische Räume für öffentlichkeitsnahe, den Park bereichernde Nutzungen. Konkret ist unsere Anregung, dort eine für die Öffentlichkeit bisher nicht zugängliche riesige Modellbahnanlage unterzubringen, die die Stadt mitsamt allen Bahnanlagen vom Westbahnhof bis zum Neckar hinunter perfekt maßstabsgetreu im Zustand der Zeit um 1960 nachgebildet hat. Das spektakuläre Riesending fristet derzeit ein Schattendasein in einem schwer zugänglichen Gelass am S-Bahnhof Schwabstraße. Es wäre aus unserer Sicht großartig, wenn dieses Dokument des Zustands vor dem S21-Sündenfall an die Stelle des gescheiterten Tiefbahnhofs treten würde und von begeisterten Eisenbahnfreunden ähnlich wie die große Modellbahnanlage in Hamburg frequentiert werden könnte.
Als einen Köder für immer noch zaudernde S21-Befürworter sehen wir die Chancen, die sich nach einem baldigen Ausstieg aus dem Großprojekt im sogenannten C-Areal – das liegt zwischen den Wagenhallen und der Nordbahnhofstraße – bietet. Hier könnten dann bald ca. 1000 neue Wohneinheiten entstehen, an einer Stelle, die aus stadtklimatischer Sicht weniger problematisch ist als das von der Stadt gerade mit großem und wahrscheinlich verfrühtem Bürgerbeteiligungs-Tamtam diskutierte Rosenstein-Areal. Wir sehen darin einen Aktionismus, der den Bürgern nur Sand in die Augen streut, wenn noch unklar ist, ob dieses Gelände jemals von Schienen freigeräumt werden kann.
Liebe Leute, diese Wochen sind für die Bahn, für alle die ihr nahe und für jene, die ihr wie wir ständig auf den Hacken stehen, eine wahnsinnig spannende Zeit. Denn die Karten der Bahn werden immer schlechter, die Bahnhofs-Uhren laufen immer mehr für uns. In aller Unbescheidenheit gesagt: Mit unseren Planspielen für „die Zeit danach“ und mit der Botschaft: Ein Ausstieg wird ein Umstieg sein, wollen wir einen öffentlichen Sog für ein ebenso vernünftiges wie ansehnliches Umstiegs-Projekt herstellen, damit auch die verbohrten Fortschritts-Fanatiker endlich: Oben bleiben!