Rede von Dr. Eisenhart v. Loeper, Aktionsbündnis gegen S21, auf der 302. Montagsdemo am 21.12.2015
Stuttgart 21, das Fass ohne Boden – neues Gutachten Dr. Vieregg und seine Auswertung
Liebe Anwesende, Freundinnen und Freunde,
gerade rechtzeitig zur Aufsichtsratssitzung der Deutschen Bahn AG am 16. Dezember ist unserer Bürgerbewegung mit dem Aktionsbündnis ein bundesweit beachteter großer Sprung nach vorn gelungen: Das Kostengutachten des hoch angesehenen Sachverständigen Dr. Vieregg stellt fest, dass Stuttgart 21 fast zehn Milliarden Euro kosten wird. Das bedeutet mehr als das Doppelte der Kostenobergrenze von 4,5 Milliarden Euro, die der Finanzierungsvertrag von 2009 festgelegt hatte. Stuttgart 21 ist nach 2012 zum zweiten Mal ein Fass ohne Boden. Die breite Öffentlichkeit weiß es nun, einige sind noch fassungslos, wir dagegen freuen uns, dass diese Realität jetzt ans Licht kam.
Im Vorspiel dazu lehnte es der Bahn-Vorstand und deren Aufsichtsrat tagelang ab, das Gutachten förmlich entgegenzunehmen. Erst als wir mit Dutzenden Mitstreitern im Blitzlicht der Medien auf den Bahntower in Berlin zuschritten, zeigte sich plötzlich doch noch ein Vertreter des Bahnkonzerns, um die Blamage des öffentlichen Kneifens zu vermeiden. So gelang uns die öffentlich stark beachtete Übergabe des Gutachtens Dr. Viereggs an den Bahn-Vertreter und anschließend die öffentliche Pressekonferenz, siehe fluegel.tv.
Warum ist es die Wahrheit, die jetzt ans Licht kommt? Und was folgt daraus?
- Die Verkehrsberatung Vieregg-Rössler hatte schon 2008 richtig gelegen, als sie unter den damaligen Vorzeichen die Kosten mit 6,9 Milliarden Euro einschätzte, was erst heftig angefeindet, 2012 aber eingestanden wurde.
- Der Bahnvorstand dagegen hat gefälscht und gelogen, dass sich die Balken bogen. Schon vor Jahresende 2009 hat er die Projektkosten mit 891 Millionen Euro manipulativ schöngerechnet, dann 1,2 Milliarden Euro aus 121 Projektrisiken von Hany Azer verschwiegen, die Volksabstimmung zu S21 massiv verfälscht und ein Jahr danach sein Verschulden an der Kostenfälschung anerkannt. Wenn die Bahn jetzt in Unschuldsmiene daherkommt, ja sogar Viereggs Gutachten als spekulativ angreift, ist solches Verhaltensmuster nur allzu bekannt und töricht, denn sie müsste das Gutachten erst einmal sorgfältig prüfen.
- In der Sache leistet Dr. Vieregg eine ehrliche Bestandsaufnahme von zu erwartenden drei Milliarden Euro Kostenanstieg, am auffälligsten sind:
a) 913 Millionen Mehrkosten, weil das Bahnhofsbauwerk geologisch und hydrogeologisch extrem problematisch und alles andere als ein Standardbauwerk ist, so etwa die Pfahlgründungen jetzt nicht mehr 7m, sondern 15m tief und 4200 Bohrpfähle umfassend und das Dach des Tunnelbaus mit Lichtaugen und geschwungenen Kelchstützen aus Stahlbeton als äußerst kompliziert einzustufen sind.
b) Realistische Mehrkosten von 358 Millionen Euro bringt auch die Neuplanung auf den Fildern einschließlich dem sogenannten 3. Gleis.
c) Höhere Planungskosten von 383 Mio. Euro ergeben sich aus einer Anpassung für tatsächlich vom Bund der DB erstattete Kosten.
d) Und nominale Preissteigerungen durch Bauzeitverzögerungen um vier Jahre bis Ende 2025 schlagen mit 826 Millionen Euro zu Buche. - Unsere Aufgabe ist es jetzt, nachhaltig und effektiv auf Konsequenzen aus diesem Gutachten hinzuarbeiten.
Doch zuerst muss die ehrliche Inventur der Kosten selbstverständlich sein. Denn dazu sind der Bahn-Vorstand und der Aufsichtsrat im Sinne „sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen“ rechtlich verpflichtet (BGHZ 135, 144, 253 f.). Speziell die Staatssekretäre, die im Aufsichtsrat der DB sitzen und denen aus ihren Ministerien zugearbeitet wird, dürften den Ernst der Lage sehen und sich der fachlichen Qualität des Gutachtens nicht entziehen können. - Die Bahn-Vorstände und Aufsichtsräte wissen auch, dass sie das Projekt nur betreiben dürfen, wenn es sich rechnet. Schon mit 4,8 Milliarden Euro ist S21 laut Berechnung der Bahn jedoch unwirtschaftlich. Diese Grenze ist jetzt um 5 Milliarden Euro überschritten und das macht den Ausstieg unaufschiebbar. Im März 2013 hatte man den Weiterbau mit Ausstiegskosten begründet, die – aus Sicht der Bahn ziemlich knapp – um 77 Millionen Euro höher seien als Fortführungskosten von zwei Milliarden Euro (StZ vom 26.02.2013, S. 20). Heute sieht es anders aus.
- Jetzt liegt es an uns, das aufgebrochene Kostendilemma kalkulatorisch aus der Warte von Dr. Vieregg und in Abwägung mit dem Ansatz der Entscheider zu Ende zu rechnen – bei Beachtung gesetzlicher Wirtschaftlichkeit und zur Vermeidung strafbarer Untreue:
a) Wenn die Bahn einwendet, sie habe 70 % der Aufträge für S21 schon vergeben, halten wir dem entgegen: Bei Auftragskündigung kann sie nicht, wie bisher, 30 % entgangenen Gewinn aus dem Restobligo der Aufträge berechnen, das waren 2013 maßlose 548 Millionen Euro. Beachtlich ist die gesetzliche Vermutung des § 649 BGB mit nur 5 %. Auch sind schon vergebene Aufträge kein Beleg dafür, dass die Kosten jetzt eingehalten würden, dafür gibt es ja den sogenannten Nachtragsmanager, der am Kostensumpf sein Brot verdient.
b) Zu klären ist, wie hoch die für das Projekt verbauten Kosten liegen. Gesprochen wird von 3 bis 3,5 Milliarden Euro. Von den verbauten Kosten sind aber die beim Ausstieg nutzbaren Baumaßnahmen als nicht verlorene Kosten abzuziehen, wie etwa beim Technikgebäude oder Teilen des erneuerten Gleisvorfelds für den Tiefbahnhof. Möglicherweise sind hier die hälftigen Ausgaben sinnvoll bahnspezifisch zu nutzen.
c) Unzulässig ist es auch, die Rückzahlung von rund 800 Millionen Euro an die Stadt für den Fortbestand des Gleisvorfeldes als Ausstiegskosten zu berechnen. Diese Kosten fallen überwiegend sowieso an, denn die drastisch verkleinerte, nicht ausbaufähige Durchgangshaltestelle würde mit nur 32 Zügen in der Spitzenstunde weder heute noch künftig den Verkehrsbedarf des Bahnknotens Stuttgart decken können.
d) Die realen Ausstiegskosten dürften also um viele Milliarden Euro niedriger sein als die Kosten eines Weiterbaus von S21. Die zweite Kostenexplosion versperrt damit den bisherigen Notausgang der vermeintlich höheren Ausstiegskosten. - Die Bahn ist mit 18 Milliarden Euro tief verschuldet und ist dabei, ihr Milliardenloch mit S21 beschleunigt zu vergrößern. Es klingt nach Komik, wenn die Bahnchefs jetzt die Devise verkünden „konsequent für unsere Kunden – wir räumen auf und greifen an“. Wir wüssten da ein Anwendungsfeld, um den enormen Kostenanstieg und all die bei Vieregg nicht berechneten, aber aufgelisteten großen S21-Risiken aufzuräumen. Das alles fordert unseren Einsatz. Zumal im Aufsichtsrat die Arbeitnehmervertreter auf Distanz gehen zur ruinösen Bahnpolitik. Der Tanz beginnt und wir tanzen mit! Mitte März 2016 tagt erneut der Aufsichtsrat. Die Sache wird spannend. Wir bleiben dran – und oben!
Punkt 6. a) in obiger Rede:
70 % der Aufträge sind laut Bahn bereits vergeben.
Genau so wenig wie diese Aussage dazu dient zu behaupten das die Ausstiegskosten zu hoch seien, kann sie ebenfalls seitens der Bahn nicht dazu dienen zu behaupten, dass damit Kostensicherheit hinsichtlich der derzeitigen 6,8 Milliarden Gesamtkosten bestehe. Denn Kosten vergebener Aufträge spiegeln nicht zwingend die Abrechnung der ausgeführten Leistung wieder.
Zudem können in einem Leistungsverzeichnis (LV)/einer Leistungsbeschreibung – welche einer Vergabe von Aufträgen zugrunde liegt – bewußt oder unbewußt Kosten selbstverständlich verschleiert werden (fehlerhaftes LV).