Rede von Dr. Winfried Wolf, Chefredakteur Lunapark21, auf der 290. Montagsdemo am 28.9.2015
Provokation gegen die Bürgerbewegung
Der blutige Donnerstag in Stuttgart vom 30. September 2010 als gezielter Akt nach dem Handbuch über politisch-polizeiliche Provokationen, ergänzend dokumentiert mit den Beispielen 2. Juni 1967 Westberlin (Polizei tötet Benno Ohnesorg), 28. September 1985 Frankfurt am Main (Polizei tötet Günter Sare) und 19. bis 21. Juli 2001 Genua (Polizei tötet Carlo Giuliano).
Liebe Freundinnen, liebe Freunde,
heute bei Fahrtantritt kaufte ich mir im Berliner Hauptbahnhof die aktuelle Ausgabe der „Stuttgarter Zeitung“. Eigentlich lese ich die in Berlin eher selten. Andererseits steckt ja tagtäglich in meinem Briefkasten die „Süddeutsche Zeitung“. Und ich vergesse dann immer wieder, das das ja ein und dasselbe Medienhaus ist, in dem „Süddeutsche“, „Stuttgarter Zeitung“, „Stuttgarter Nachrichten“ und „Schwarzwälder Bote“ erscheinen. Was ja oft durchaus Auswirkungen auf die Tendenz der Beiträge hat.
Ich finde, man müsste auf die Titelseiten der Zeitungen – und gelegentlich auf die Stirn von Menschen – raufschreiben, wer sie finanziert. Dass beispielsweise die Umweltorganisation Nabu jährlich von VW gut 500.000 Euro erhält, war mir neu, erklärt aber auch, wie handzahm die Nabu-Oberen in diesen Tagen „Transparenz“ von VW fordern. Und dass der aktuelle deutsche Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel in der Zeit, als er nicht mehr niedersächsischer Ministerpräsident und noch nicht Umweltminister war, für VW in Brüssel als Lobbyist werkelte, ist auch eine interessante Erkenntnis, die ich früher mal hatte, dann vergaß und in diesen Tagen neu gewann. Wobei es Gabriel am Ende seiner VW-Lobby-Tätigkeit gelang, dass die niedrigen Abgasgrenzwerte, die VW und der Europäische Autoverband forderten, fast wortwörtlich in die neue Koalitionsvereinbarung vom Herbst 2005 einflossen, in die Grundlage derjenigen Regierung also, für die dann Gabriel als Umweltminister aktiv wurde bzw. gegebenenfalls auch mal inaktiv blieb.
Also heute früh Kauf der „Stuttgarter Zeitung“. In dieser Ausgabe sprangen mir drei bemerkenswerte Meldungen ins Auge, bei denen mir sofort derjenige Spruch in den Kopf kam, der auf diesen Montagsdemonstrationen seit sechs Jahren den meisten Widerhall findet, derjenige über die Menschen „mit den kurzen Beinen“. Lügenpack eben.
Erste Meldung, Stuttgarter Zeitung vom 28.September, Seite 16: „Die Stuttgarter Zeitung erhält [von der Konrad Adenauer-Stiftung] den Preis für ausgezeichneten Lokaljournalismus“. Kommentar siehe oben; Lügenpack eben.
Zweite Meldung, ebenda Seite 17: Ein ausführlicher Bericht über die Künstlerin Theresia K. Moosherr, die in der Nähe von Bad Schussenried, Kreis Ravensburg, den Stamm einer riesigen, gefällten Robinie bearbeitet und aus diesem „die Leiber von drei Frauen herausschält“, die „Hüterinnen der Demokratie“ darstellen werden. Text „Stuttgarter Zeitung“: „Die Robinie stand bis Februar 2012 im [Stuttgarter] Schlossgarten und wurde dann für das Bahnprojekt [welches wohl?] mit rund 100 anderen Bäumen gefällt. Viel Geld hat die Bahn damals bereitgestellt, um einen Ausgleich zu schaffen für den Kahlschlag – manche Eichen und Platanen sind umgesiedelt worden ...“
Weiter wird hier berichtet, dass die Künstlerin mit den Skulpturen eigentlich „eine Versöhnungsskulptur schaffen“ wollte, dass sie jetzt jedoch sagt „Es gibt keine Versöhnung mehr“, vielmehr sollten die „Hüterinnen nun den Mächtigen auf die Finger schauen“. Weiter „Stuttgarter Zeitung“: „Dass die Skulptur wieder [?] einen Platz im Schlossgarten bekommt und die Robinie dort zurückkehrt, wo sie hundert Jahre lang wuchs, darum will Theresia K. Moosherr kämpfen. Man habe dies der Künstlerin versprochen, was [die Bürgerbeauftragte der Stadt Stuttgart] Alice Kaiser aber dementiert. Moosherr bleibt unbeirrt: ‚Sonst stelle ich die Skulptur einfach vor dem Haupteingang des Landtags ab‘, sagt sie.“ Lügenpack, eben.
Dritte Meldung, Stuttgarter Zeitung vom heutigen Montag, dem 28. September. Jetzt endlich zum Thema Nr. 1 dieser Tage, zu Dieselgate und VW. Nein nicht primär zur pfiffigen Spezialsoftware, bei deren Lieferung der pfiffige Bosch-Konzern gewarnt haben will, die dürfe man nach Lieferung an VW und andere „nicht scharf stellen“. Vielmehr zum VW-Haupteigentümer Ferdinand Piech.
Dazu vorab: Ich habe mich in den letzten Tagen immer wieder gefragt, warum in dieser Affäre niemand den Piech Ferdinand erwähnt. Immerhin gab es da diesen Machtkampf im April. Und dann war Piech plötzlich weg vom Hochhaus-Fenster in Wolfsburg. Aber war er weg bei VW? Geht das – ein VW-Hauptaktionär, der plötzlich in Salzburg Däumchen dreht und seine 12 Autos, die in der Tiefgarage des Hauses parken, ins Grüne fährt?
Und da hatte ich dann zwei Gedanken: Erstens – könnte es nicht sein, dass der Ferdinand Piech bei der Dieselgate-Affäre die entscheidenden Infos durchgestochen hat? Zweitens – dass er dies getan haben sollte, ist ja wieder eher unwahrscheinlich, da dies sein Eigentum als Großaktionär schädigen würde. Es sei denn, er wäre da gleichzeitig börsentechnisch begleitend unterwegs gewesen.
Und heute also steht in der „Stuttgarter“ und in anderen Zeitungen: Ferdinand Piech hat „in den vergangenen Tagen“ – also als nach Dieselgate die VW-Aktien massiv an Wert verloren hatten – seinen „Anteil an Europa größtem Autobauer Volkswagen weiter aufgestockt“ und „vom japanischen Suzuki-Konzern“ die 1,5 Prozent „Stammaktien der Volkswagen AG außerbörslich [also direkt von Suzuki & friends] erworben“. Damit, so die Stuttgarter Zeitung, „stieg die Beteiligung der Porsche SE [der Holding, die weitgehend Ferdinand Piech und seinem Vetter Wolfgang Porsche gehört] auf 52,5 Prozent der Stammaktien“, was die entscheidenden, stimmberechtigten Aktien sind. Nach Dieselgate kontrollieren also Piech-Porsche deutlich mehrheitlich den VW-Konzern. Und sie konnten ihre Mehrheit so deutlich ausbauen dank Dieselgate.
Und prompt steht jetzt anderswo am gleichen Tag, hier in „Bild“ – ab und an halt Pflichtlektüre: „Nach dem Rücktritt seines Rivalen [Winterkorn] ließ sich Ferdinand Piech direkt nach Wolfsburg fahren. Am Donnerstag führte der Patriarch in der VW-Zentrale zahlreiche Gespräche über die Zukunft des Konzerns“. Wohlgemerkt: Er tat dies, ohne dass er bei VW noch irgendeine formale Funktion hätte. Aber er hat eben doch die alles entscheidende, die materielle und finanzielle Funktion – die übrigens auch die Bundesregierung bei der Deutschen Bahn AG hat und dann aber immer so tut, als hätte sie sie nicht: Piech ist VW-Großaktionär – und die Bundesregierung vertritt bei der DB AG den ALLEINaktionär Bund. Weiter O-Ton „Bild“: „Piechs Biograf Wolfgang Fürweger erklärte während des Machtkampfs mit Winterkorn im Frühjahr: ‚Es wird einer auf der Strecke bleiben – und das wird nicht Ferdinand Piech sein‘“.
Und wen forderte damals Piech als Winterkorn-Nachfolger? Richtig, den Porsche-Chef Müller. Der jetzt plötzlich Winterkorn ablöste und neuer VW-Chef wurde. Aber alle Medien tun weiterhin so, als gebe es Ferdinand Piech nicht oder nur als Randfigur. Als sei Porsche-Müller ein neuer Saubermann.
Lügenpack, eben.
Liebe Freundinnen, liebe Freunde,
in zwei Tagen jährt sich zum fünften Mal der blutige Polizeiangriff auf friedliche Jugendliche, die gegen Stuttgart 21 demonstrierten. Heute ist den meisten hier klar: Die Aktion war von langer Hand geplant, es handelte sich um eine bewusste Provokation, teilweise von Provokateuren mit herbeigeführt. Die Aktion wurde mit äußerster Brutalität durchgeführt, wie Herr Reicherter, der vor mir sprach, in einer anderen Rede nochmals überzeugend dokumentiert hat.
Bei all dem war oder wurde klar: Das war nicht – bloß – purer Spaß an der Freud´, nicht allein Brutalität um der Brutalität willen. Da steckte ein politischer Masterplan dahinter. Es ging um die Produktion der gewünschten Bilder für die Medien. Um die Kriminalisierung der Bewegung. Um ein Durchstarten zu einem law-and-order-Wahlkampf mit dem Ziel eines neuerlichen Mappus-Triumphs. Und all dies erfolgte auch im gesamtstaatlichen, großbürgerlichen Interesse: Es ging auch damals bereits darum, einer demokratischen Massenbewegung das Genick zu brechen.
Jetzt sieht das manchmal so aus, als sei da das an sich ja eher einfältige Mappus & Co.-Team besonders phantasievoll vorgegangen – Copyright by Spätzle-Connection gewissermaßen. Doch das ist nicht der Fall. Diese Herren – die Dame Gönner nicht zu vergessen – gingen eher nach einem Lehrbuch vor, nach dem Handbuch „Die Kunst politisch-polizeilicher Provokation gegenüber staatsfeindlichen Massenbewegungen“.
Dazu drei Beispiele zu den drei Daten 2. Juni 1967, 28. September 1985 und 22. Juli 2001. Und zu den Orten Westberlin, Frankfurt am Main und Genua, drei Beispiele, die dieses lehrbuchartige Vorgehen dokumentieren.
Beispiel 1 einer politisch-polizeilichen Provokation gegen eine werdende demokratische Massenbewegung: der 2. Juni 1967 in Westberlin
Damals erlebte man in Westdeutschland den Beginn der demokratischen und sozialistischen Studentenbewegung. In Bonn, München und Westberlin gab es Anfang Juni 1967 den Staatsbesuch von Schah Reza Pahlewi, dem Herrscher über Persien, heute der Iran. Die damals junge Studentenbewegung hatte sich vor allem in Westberlin gut auf den Staatsbesuch vorbereitet. Es gab mehrere teach-ins und Veranstaltungen zum CIA-gesteuerten Putsch 1953 in Persien, mittels dessen der damals demokratisch gewählte Präsident Mossadegh, der das persische Öl verstaatlichen ließ, gestürzt und der Schah faktisch zum Alleinherrscher, gestützt von den Regierungen und Geheimdiensten in USA und Großbritannien, geworden war; zur Herrschaft des persischen Geheimdienstes SAVAK und den von dieser Terrorbande angewandten Foltermethoden, die in den persischen Gefängnissen zur Anwendung kamen. Und nicht zuletzt zur Rolle des Öls für die westliche Welt.
Der Schah landete nachmittags auf dem Flugplatz Tempelhof. Kurz darauf beim ersten öffentlichen Empfang vor dem Schöneberger Rathaus gab es erste üble Szenen: Eine eher kleine Schar von einigen hundert Demonstranten wurde von „Jubelpersern“, die sich später als SAVAK-Leute entpuppten, massiv mit Holzlatten und Totschlägern (Stahlspiralen mit Bleikugeln) angegriffen – die SAVAK-Agenten waren mit anderen Flugzeugen eingereist, offensichtlich in Absprache mit deutschen Behörden. Die deutsche Polizei sah vor dem Schöneberger Rathaus tatenlos zu, wie die SAVAK-Agenten wüteten. Es gab Dutzende Verletzte.
Am Abend wurde in der Oper Mozarts „Zauberflöte“ aufgeführt – mit dem Bundespräsidenten und dem Schah nebst Gattin als Ehrengästen. Vor der Oper gab es eine größere Demonstration mit einigen Tausend Teilnehmenden. Die Demonstranten wurden eingekesselt und am Weggehen gehindert – Schah und Bundespräsident waren längst ins Operngebäude entschwunden. Die Polizei agierte mit Greiftrupps und veranstaltete „Fuchsjagden“ auf Demonstrierende. Spät am Abend wurden dann im Rahmen eines solchen Polizeiüberfalls auf die Protestierenden ein offensichtlich gezielter Schuss auf den Studenten Benno Ohnsorg abgegeben. Der Name des Schützen und Polizeibeamten: Karl-Heinz Kurras.
Die damals bereits rechte, großbürgerliche und konservative „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schrieb in der Ausgabe vom 12. Juni 1967: „Die vor einer Woche am Opernplatz eingesetzte Polizei hat […] ohne gravierende Notwendigkeit, mit Planung einer Brutalität den Lauf gelassen, wie er bisher nur aus Zeitungsartikeln über faschistische und halbfaschistische Länder bekannt wurde.“
Kurras stand später vor Gericht. Er wurde freigesprochen. Er habe „in Notwehr“ gehandelt. Es gibt umfangreiche Belege dafür, dass die Polizei die Konfrontation geradezu generalstabsmäßig geplant und Tote in Kauf genommen hatte.
Für Kurras ist dokumentiert, dass er Waffennarr war und rechtsextreme Positionen einnahm. Übrigens wurde erst vor wenigen Jahren bekannt, dass Kurras in dieser Zeit und bis zu diesem Ereignis gleichzeitig für die DDR-Staatssicherheit gearbeitet hatte.
Beispiel 2 einer politisch-polizeilichen Provokation gegen eine demokratische Massenbewegung: der 28. September 1985 in Frankfurt am Main
Die Jahre 1982 bis 1987 waren in der Region Frankfurt am Mai Jahre, die vom Protest gegen die Startbahn West geprägt waren. In Frankfurt und Region entwickelte sich eine starke, demokratische und in der Bevölkerung verankerte Massenbewegung, die sich teilweise mit anderen Engagements, wie antifaschistischen Aktivitäten vermischte. An dem besagten Tag, dem 28. September 1985 gab es im Frankfurter Gallusviertel einen Nazi-Aufmarsch und als Gegenaktion ein deutsch-ausländisches Freundschaftsfest. Die Polizei gab den Nazis Geleitschutz, sodass sie in das Bürgerhaus Galluswarte zu ihrer Veranstaltung gelangen konnten. Dagegen entwickelten sich spontane Proteste von rund 1000 Menschen.
Um 21 Uhr kam es an der Kreuzung Hufnagelstraße – Frankenallee zu mehreren Wasserwerfereinsätzen. In einem Bericht der „Frankfurter Rundschau“ wird der Gang der Dinge wie folgt beschrieben: „Einer der Wasserwerfer gerät, so scheint es den Beamten, durch die Menge [der Demonstranten] in Bedrängnis. Da fährt ein Wasserwerfer des größten Typs in die Kreuzung Frankenallee/Hufnagelstraße vor. Der Wasserwerfer, Typenbezeichnung Wawe 9 IV/ 1, Kennzeichen WI- 3026, spitzt mit 15 Atü und ist 26 Tonnen schwer. Er steuert auf mehrere Personen zu, die auseinander stieben. Nur ein Demonstrant bleibt auf der Straße zurück. Der Strahl des Wasserwerfers erfasst ihn. Um 20.52 Uhr überrollt das Gefährt Günter Sare, aufgewachsen im Gallus, 36 Jahre alt, von Beruf Schlosser, im Vorstand des Jugendzentrums Bockenheim, seit 15 Jahren aktiv in der links-autonomen Szene, bei Häuserbesetzungen im Westend und bei Demos gegen den Bau der Startbahn West. Günter Sare liegt auf dem Asphalt der Straßenkreuzung. Aus seinem Kopf rinnt Blut. Sein Brustkorb ist eingedrückt. Er atmet noch. Der Medizinstudent Michael Wilk, dazu ein Arzt und ein Sanitäter versuchen, an Ort und Stelle Erste Hilfe zu leisten. Wilk beschwert sich unmittelbar danach, umstehende Polizisten hätten keine Scheinwerfer angemacht, obwohl er sie darum gebeten habe. Auch sei der Notarztwagen zu spät eingetroffen. Der Notarztwagen ist um 21.14 Uhr an der Kreuzung [...] Günter Sare stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus.“
Nach Sares Tod wurde in Frankfurt wochenlang ein Demoverbot verhängt. Es gab dennoch massenhafte, auch gewalttätige Proteste und bürgerkriegsähnliche Szenen.
Der Kommandant des Wasserwerfer-Wagens war Polizeiausbilder der Bereitschaftspolizei in Hanau; er trainierte dort Wasserwerferbesatzungen. Aus dem bereits zitierten Flugblatt: „Reichert [der Wasserwerferwagen-Kommandant] war bereits mehrfach aufgefallen. In einem Startbahnprozess musste er eingestehen, einen Demonstranten brutal zusammengeschlagen zu haben. An der Startbahn West fiel er mehrfach durch äußerste Aggression auf, sei es, dass er im Winter ältere Leute mit seinem Wasserwerfer vom Fahrrad ‚schoss‘, sei es, dass er sich mit bloßen Fäusten zu einem bestimmten Demonstranten durchprügelte, den er unbedingt selbst verhaften wollte.“
In einem späteren Prozess am Landgericht wurde der Wasserwerferwagen-Kommandant und ein zweiter Beamter freigesprochen. Es habe sich um „einen Unfall“ gehandelt.
Die damalige Polizeiprovokation muss im Zusammenhand mit den zitierten Massenprotesten gegen die Startbahn West – eine erste neue große Landebahn für den Rhein-Main-Flughafen – gesehen werden. 1982 hatte diese Bewegung mehr als 200.000 Menschen mobilisieren können. Zum Zeitpunkt von Sares Tod waren es immer noch regelmäßig viele Tausende und ab und an auch einige Zehntausende. Die Bewegung war also vergleichbar stark wie die aktuelle in Stuttgart – und sie hatte durchaus auch ähnlich lange, mehr als sechs Jahre, Bestand als Massenbewegung bzw. sie wurde später neu belebt und ist bis heute präsent – und gelegentlich auch in Stuttgart mit Rednern vertreten.
Beispiel 3 einer politisch-polizeilichen Provokation gegenüber einer demokratischen Massenbewegung: 19. bis 21. Juli 2001 in Genua
In diesen Tagen hatte es in der norditalienischen Hafenstadt einen G-8-Gipfel gegeben. Und es gab Massenproteste gegen dieses Treffen der Herrschenden. Diese Proteste standen in einer Reihe mit vorausgegangenen, vergleichbaren Protesten der damals noch jungen Anti-Globalisierungs-bewe-gung. 1999 fand in Köln ein Weltwirtschaftsgipfel statt, gegen den 40.000 Menschen auf die Straße gegangen waren. Im gleichen Jahr war Seattle in den USA Austragungsort eines Gipfels der Weltfreihandelsabkommen-Organisation WTO, gegen den viele Zehntausende – teilweise erfolgreich – protestiert hatten.
Vor diesem Hintergrund wollte die italienische Regierung – die dabei sicher von internationalen Kräften in Wort und Tat unterstützt wurde – zeigen, wie man derartige Massenveranstaltungen in „(erzwungener) Ruhe und (gewalttätiger) Ordnung“ durchführt. Wobei die damalige Regierung in Rom für eine derartige Vorstellung die Richtige war: Sie wurde von dem Milliardär und Medienmogul Silvio Berlusconi geführt; Berlusconis Koalitionspartner war die faschistische italienische Partei, die ehemalige MSI, nunmehr als Alleanza Nazionale benannt.
Das G-8-Treffen in Genua war von mehreren Großdemos begleitet. Bereits auf einer ersten dieser demokratischen Protestveranstaltungen erschoss ein italienischer Polizist den 23 Jahre jungen Carlo Giuliano. Er habe, so die Verteidigung der italienischen Regierung und der Polizei, mit einem Feuerlöscher die Carabinieri bedroht. Am 22. Juli gab es dann – trotz dieser unsäglichen Polizeiprovokation – eine riesige Demo mit mehr als 200.000 Teilnehmenden. In der darauffolgenden Nacht, gewissermaßen als Reaktion und Rache, stürmten italienische Sondereinheiten das Pressezentrum der demokratischen Bewegung, das Genua Social Forum, und überfielen 100 Demonstrierende, die in der benachbarten Diaz-Schule campten und schliefen. Die Polizeikräfte schlugen alles kurz und klein, verprügelten die Demonstranten mit äußerster Brutalität. Es gab Dutzende Schwerverletzte, über die Hälfte der in der Schule Anwesenden mussten auf Bahren in Krankenhäuser gebracht werden. Die Medien schrieben über „chilenische Verhältnisse in Genua“.
Soweit die drei Beispiele politisch-polizeilicher Provokationen, die einem Lehrbuch mit vergleichbarem Titel entnommen sein könnten. Und ich beschränkte mich bewusst auf diese wenigen, die drei Beispiele – es ließen sich mehrere Dutzend vergleichbare politisch-polizeiliche Provokationen ähnlicher Größenordnung in den vergangenen 15 Jahren finden und darstellen. Die Parallelen zum „Blutigen Donnerstag“ in Stuttgart sind eindeutig und nicht zufällig. Unabhängig von den unterschiedlichen Zeiten und den viele Hunderte Kilometer auseinander liegenden Orten gibt es wichtige Gemeinsamkeiten zwischen diesen drei historischen Beispielen politisch-polizeilicher Provokationen und demjenigen in Stuttgart vom 30. September 2010:
- Diese politisch-polizeilichen Aktionen richteten sich immer gegen eine demokratische Massenbewegung: gegen die Studentenbewegung, gegen die Startbahn-West-Bewegung und die starke Frankfurter linke, radikale Szene, gegen die globalisierungskritische Bewegung und hier in Stuttgart gegen die Bewegung gegen das zerstörerische Großprojekt Stuttgart 21.
- Das entscheidende Ziel der politisch-polizeilichen Aktionen ist immer, diese Bewegungen zu kriminalisieren, „Bilder“ zu schaffen, die von den bereitgestellten – und oft weitgehend gleichgeschalteten! – Medien aufgegriffen und damit in die Massen und die Köpfe von Millionen hinein getragen werden. In unserem Fall: besagte Foto-Bilder, die über BILD zu Kopf-Bildern werden.
- Es geht um die Zerschlagung der jeweiligen Bewegung und dabei vor allem um das Abschneiden dieser Bewegungen von ihren bürgerlichen Bestandteilen – also um die Isolierung eines linken, angeblich „radikalen, gewaltbereiten Kerns“.
Diese Zielsetzungen sind teilweise durchaus umgesetzt worden. So hatte die politisch-polizeiliche Provokation in Westberlin zumindest mittelfristig Erfolg. Es gab bald eine Zersetzung der Studentenbewegung in einen überwiegend maoistisch-stalinistischen Teil, der „klassisch-bürgerliche“ Kräfte eher verstörte. Bald darauf wurde die Rote Armee Fraktion (RAF) gegründet, deren führendes Mitglied, die „Konkret“-Journalistin Ulrike Meinhof, sich mit dem 2. Juni 1967 radikalisiert hatte. Die erste Bombe wurde der RAF übrigens von einem gewissen Peter Urbach zugeliefert; der Mann arbeitete seit Jahren verdeckt in der Studentenbewegung als Polizeiagent und agent provocateur. Spätestens seit Gründung der RAF gab es diese demokratische, lebendige Massenbewegung nicht mehr.
Im Fall der Startbahn West-Bewegung hatte die politisch-polizeiliche Provokation ebenfalls einen Teilerfolg zu verzeichnen. Ein Teil der Startbahn-West-Bewegung zog sich als Folge des Polizei-Terrors zurück und resignierte. Ein Teil radikalisierte und isolierte sich. Die Polizei unterwanderte gezielt Startbahn-West-Demos mit Provokateuren, getarnt als radikale Linke. 1987 wurden aus einer Startbahn-West-Demo heraus Schüsse auf Polizisten abgegeben; zwei Polizeibeamte wurden getötet. Die Hintergründe dieser Schüsse wurden nie vollkommen aufgeklärt. Sares Tod und die Kriminalisierung von Teilen der Startbahn-West-Bewegung trugen dazu bei, dass diese Massenbewegung erheblich an Einfluss verlor.
Im Fall Genua gab es auch mittelfristig einen wichtigen Erfolg der Kräfte der Reaktion. Die große Demo in Genua gegen den G-8-Gipfel war eine der letzten Massenaktionen der italienischen radikal-demokratischen Linken. Heute gibt es ausgerechnet in Italien kaum mehr einen solchen massenhaften demokratischen Widerstand, obgleich dieses Land für uns doch Jahrzehnte lang beispielgebend für demokratische und phantasievolle Massenproteste war. Heute gibt es in Italien auf regionaler Ebene noch solche wunderbaren Proteste – so im Val di Susa. Und es ist ausgesprochen wichtig und nicht ganz zufällig, dass die Stuttgarter Bewegung gegen S21 zu den Freundinnen und Freunden, die die Val-di-Susa-Proteste tragen, einen engen Kontakt aufgebaut hat.
Was, liebe Freundinnen und Freunde, können wir jetzt mit Blick auf den Jahrestag am 30. September aus all dem lernen? Hierzu fünf abschließende Lehren:
Erstens. Der Blutige Donnerstag vom 30. September 2010 steht in diesem geschilderten größeren Zusammenhang: Eine jede demokratische Massenbewegung, die den Herrschenden bedrohlich erscheint – ob real oder eingebildet – muss damit rechnen, auf diese brutale Weise angegriffen und kriminalisiert zu werden.
Zweitens. Es ist wichtig, dass eine solche demokratische Bewegung den friedlichen, den demokratischen, den offenen und den kulturvollen Charakter der Gesamtbewegung erhält, ausbaut und stärkt – das ist das entscheidende Gegengift gegen die geschilderten politisch-polizeilichen Provokationen.
Drittens. Wichtig ist auch, dass wir immer neu dazu lernen, uns nicht isolieren lassen, uns nicht nach innen verhärten und uns immer neu nach außen vernetzen, um uns selbst und die gesamte demokratische Bewegung in diesem Land und möglichst in Europa zu stärken.
Viertens. Im Fall der demokratischen Massenbewegung gegen Stuttgart 21 zeigt sich: Hier hatten die Kräfte, die am 30. September 2010 diese politisch-polizeiliche Provokation durchführten, keinen Erfolg. Das zeigt allein die Tatsache, dass wir auch heute da sind – dass es diese 290. Montagsdemo und die Aktionen der nächsten Tage zur Erinnerung an den 30. September 2010 gibt.
Fünftens. Notwendig ist und bleibt der aufrechte Gang. Eben: OBEN BLEIBEN!
Redetext mit zahlreichen zusätzlichen Fußnoten als PDF-Datei
Winfried Wolf ist Verfasser bzw. Mitherausgeber von vier Publikationen zu Stuttgart 21, die 1996, 2010, 2011 und 2013 erschienen. Er veröffentlichte 2014 zusammen mit Bernhard Knierim Bitte umsteigen! 20 Jahre Bahnreform (Schmetterling-Verlag, Stuttgart). Er ist Chefredakteur von Lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie. Seit April ist er verantwortlicher Redakteur der Massenzeitung FaktenCheck:HELLAS, die bislang mit fünf Ausgaben und einer gedruckten Gesamtauflage von mehr als 220.000 Exemplaren erschien. FaktenCheck:HELLAS und andere Initiativen wie LabourNet Germany veranstalten am 17. und 18. Oktober eine Konferenz zu Griechenland der der Massenfluchtbewegung nach Europa (Ort: Berlin, Haus der Demokratie; siehe: www.faktencheckhellas.com)