Vom 30. auf 31. Juli 2010 wurde der Baustellenzaun am Nordflügel des Stuttgarter Hauptbahnhofs errichtet; am 25. August 2010 trat erstmals der Abrissbagger in Aktion, das war der sogenannte „Baggerbiss“. Zwischen beiden Daten lag die erste Sitzblockade am Nordflügel. Es war der 4. August 2010, also vor fünf Jahren. Und es war der Auftakt zu einer bis zum heutigen Tag anhaltenden Serie von Blockaden am Nordflügel, später am Grundwassermanagement, dann am Südflügel. Fünf Jahre physischer Widerstand gegen Stuttgart 21.
Es gab in dieser Zeit große Blockaden mit weit über hundert Teilnehmer(inne)n, bei denen Baustellenfahrzeuge, Einfahrtstore, Straßen und Plätze blockiert wurden. Und wenn man die Besetzung des Parks am 30.9.2010 und 14.2.2012 und des GWM am 20.6.2011 dazu nimmt, waren es auch schon bis zu eintausend Blockierer. Die Blockierer/-innen wollten sich nicht mit der angeblichen Tatsache abfinden, dass Stuttgart 21 das bestgeplante und ein in allen Planungsabschnitten genehmigtes Projekt sei, dessen Finanzierung zudem mit einem nicht zu sprengenden Kostendeckel versehen sei.
Im Gegenteil – sie durchschauten von Anfang an, dass die Bevölkerung mit Lügen zum Inhalt und Umfang des Projekts abgespeist werden sollte und dass die Stuttgarter Bürger ihrer Lebensqualität, sogar der Lebensgrundlage beraubt werden sollten. Sie erkannten im August 2010 – andere bereits viele Jahre zuvor - trotz der Vertuschungs- und Schönfärberei-Strategie der städtischen Politiker und der Bahn, deren Politik die Medien untertänigst unterstützten -, dass Stuttgart 21 mit Unwahrheiten und Intransparenz erschlichen war und nach der Aufstellung des Bauzauns mit Macht - im wahrsten Sinne des Wortes „Macht“ - rücksichtslos durchgezogen werden sollte. Aus dieser Erkenntnis heraus erwachte der physische Widerstand gegen S21 nach der Brecht´schen Formel: „Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht“.
So saßen und standen ab dem 4. August 2010 zunächst täglich, später wöchentlich S21-Gegner am Bauzaun. Bis heute gibt es jeden Dienstagmorgen das „Frühstück am Bauzaun“, vom Verwaltungsgericht in einem Urteil im Jahr 2014 als Versammlung anerkannt. In Artikel 20 (4) des Grundgesetzes ist ausdrücklich das Widerstandsrecht postuliert: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Die Ordnung – das ist die Lebensgrundlage, die jedem Bürger staatlicherseits zugesichert ist, was sich in Artikel 20a des Grundgesetzes so liest: „(Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der Tiere) Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsgemäßen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“
Was aber, wenn der Staat diesem Verfassungsauftrag nicht nachkommt, nämlich die Lebensgrundlagen der Bürger zu schützen? Und was, wenn auch die Baden-Württembergische Landesverfassung von eben diesem Staat nicht respektiert wird? Dort heißt es in Artikel 3c (2) „Die Landschaft sowie die Denkmale der Kunst, der Geschichte und der Natur genießen öffentlichen Schutz und die Pflege des Staates und der Gemeinden.“ Schon dieser Artikel in unserer Landesverfassung erlaubt weder einen Abriss der denkmalgeschützten Bahnhofsflügel noch die Rodung des Parks noch ein Baurecht auf den besagten Geländen.
Der 4. August 2010 war der Beginn einer langen Reihe von Blockaden, die zeitweise viele Hundert TeilnehmerInnen umfassten. Der Friedensforscher und langjährige Aktivist in zahlreichen Widerstandsbewegungen in der BRD, Wolfgang Sternstein, gehörte zu der ersten, noch kleinen Gruppe von Sitzblockierern an jenem 4. August 2010. „Es hatte keine Absprache gegeben, wir waren nicht mehr als ein Dutzend, wir kannten uns nicht“, erzählt er. „Wir kamen an dem Morgen einfach ans Tor und setzten uns hin. Ich ließ mich von der Polizei wegführen, andere ließen sich wegtragen. Eine Anzeige gab es nicht, die Polizei sah das als friedlichen Protest an, was es ja auch war.“
Dass eine Blockade verwerflich und somit eine Straftat sei, dagegen hat sich Sternstein seit Jahren vehement mit vielfältigen, eindrucksvollen Argumenten verwahrt. Die jahrelang auch in Stuttgart praktizierte Rechtsprechung der Gerichte dazu hält er für verfassungswidrig. Jahrelang wurden Blockierer aufgrund des "Laepple-Urteils" aus dem Jahr 1969, das die Strafbarkeit von Sitzblockaden als Nötigung festklopfte, verurteilt, bis am 22. Juni dieses Jahres ein Richter des Landgericht Stuttgart den Angeklagten Wolfgang Sternstein vom Vorwurf der Verwerflichkeit bei sieben Blockaden freisprach und somit die Blockaden nicht für strafbar hielt. Sternstein dazu: „Die Staatsanwaltschaft hat gegen den Freispruch nicht Revision eingelegt, somit ist das Urteil rechtskräftig. Selbst wenn der Richter in seiner Begründung betont hat, dass sein Urteil auf meinen Fall zugeschnitten sei, so meine ich doch, dass es eine Rehabilitierung für die gesamte Blockadebewegung ist. Es ist ja auch unverständlich, warum das Eintreten für den Frieden und für die Lebensgrundlage der Menschen verwerflich und somit strafbar sein soll.“
Tatsächlich ist es schwer nachzuvollziehen, dass bislang gewaltfreie, friedliche Blockaden mit dem Ziel des Erhalts der Lebensqualität der Bürger dann von der Justiz als Gewalt und verwerflich eingestuft wurden. Musste nicht jeder, der sich mit der verwundbaren Stadtarchitektur, den lebensnotwendigen Parks und den ganz besonderen Bedingungen dieser Stadt in Kessellage befasste, voll Hochachtung vor den Blockierern sein? Sie sahen es als ihre Bürgerpflicht an, durch ihre körperliche Präsenz am Bauzaun und vor den LKWs dem unheilvollen Gebaren der Tunnelbetreiber Einhalt zu gebieten.
Klaus Gebhard hatte im Sommer 2010 als erster Parkschützer die Plattform „Parkschützer“ gegründet und schnell hatten sich Tausende dort als Schützer von Park und Bahnhof geoutet und in die Kategorien grün bis rot eingetragen. In der roten Kategorie waren 423 Parkschützer, die „… sich äußerstenfalls auch den Baufahrzeugen in den Weg stellen oder an die Bäume ketten wollten.“ Insgesamt trugen sich ca. 33 000 Parkschützer ein, so dass ein großes Unterstützerpotenzial vorhanden war. Auch die mediale Plattform „Bei Abriss Aufstand“ signalisierte schon in ihrem Titel den Willen zu aktivem Einsatz. Somit konnte man sich auf einen Stamm von Menschen verlassen, die an Blockaden teilnehmen wollten. Blockadetrainings und der Parkschützerkonsens, der die gewaltfreien Blockaden begleitete, zeigten die Ernsthaftigkeit, mit der Park und Bahnhof verteidigt werden sollten.
In der Stadt jedoch gingen die Meinungen auseinander, ob Blockaden und Ziviler Ungehorsam ein probates Mittel seien, sich gegen Unrecht aufzulehnen. Auch durch das Aktionsbündnis wurden Blockaden nicht vorbehaltlos unterstützt. Wer gegen Blockaden war, setzte voll auf die Justiz, auf die technischen Mängel des Projekts, die Unfinanzierbarkeit und andere Schwächen, die S21 „logischerweise“ früher oder später zum Erliegen bringen müssten. Da brauche man Blockaden nicht, hieß es.
Aber wir wissen inzwischen, dass Logik und „gesunder Menschenverstand“ eben keinen Einfluss auf S21 genommen haben. Und der Volksbetrug beim Baden-Württembergischen Bürgerentscheid im November 2011 wurde weder von Medien noch Politikern thematisiert, sondern wurde willfährig als Argumentationshilfe für den nun offen eingeschlagenen Weg des “Augen-zu-und-durch“ genommen.
Die Blockierer allerdings glaubten daran, mit der im Jahr 2010 anschwellenden Zahl der Blockade-Teilnehmer, die Bevölkerung durch die ständige physische Präsenz am Bautor zum Nach- und Umdenken bringen zu können. Sie glaubten, mit ihrem Vorbild immer mehr Menschen von der Wirksamkeit von Blockaden überzeugen zu können. War nicht das Bauvorhaben eines Atomkraftwerks in Whyl durch Baustellenblockaden gestoppt worden? Auch in Wackersdorf hatten Blockaden einen maßgeblichen Einfluss auf den Stopp der atomaren Wiederaufbereitungsanlage gehabt. Die Stuttgarter Blockierer glaubten somit an sich. Und mit großen Blockaden – am 30.9., am 14.2., am Südflügel, die Promi-, Frauen-, Gewerkschafter-, Christen-, Senioren- und andere Themenblockaden, die viel Zuspruch fanden – wurde tatsächlich immer wieder eine weit über Stuttgart hinaus gehende Aufmerksamkeit für das Unrechtsprojekt bewirkt.
Wolfgang Sternstein bestätigt auf die Frage nach der Wirksamkeit von Blockaden gegen S21: „Ja, ich habe fest daran geglaubt, dass es möglich ist, auch mit Hilfe von Blockaden das Projekt zu stoppen. Blockadeaktionen sind allerdings nie allein zu betrachten, sie sind nur im Kontext mit anderen Maßnahmen und Aktionen wirksam. Im gewaltfreien Widerstand zählen unsere guten Argumente und um diesen Argumenten Nachdruck zu verleihen, gibt es die Möglichkeit von Blockaden. Weitere Mittel sind zum Beispiel Streik und Boykott. Alles zusammen muss einen massiven Druck auf die Projektbetreiber ausüben. Wenn die Öffentlichkeit sich mit den Argumenten gegen das Projekt auseinandersetzt und wenn sie sieht, wie konsequent sich Menschen gegen das Projekt hinsetzen, müsste dies eigentlich überzeugen und wir hätten immer mehr werden müssen. Es hätte eine Bewegung des Hinsetzens geben müssen. Bei Massendemonstrationen 2010 und 2011 waren wir doch oftmals Zig-Tausende. Wenn es uns gelungen wäre, eine wirklich große Menge an Menschen zu überzeugen, dass massenhafter Widerstand sinnvoll und wirksam ist, hätten wir es geschafft, das Projekt zu stoppen. Aber es sind eben sehr viele Menschen nötig. Dann ist es für die Polizei schwierig, täglich und über einen gewissen Zeitraum hinweg Hunderte von Menschen abzuräumen. Doch wurde leider nie der Level erreicht, hier einen nachhaltigen Druck aufzubauen.“
Ein weiterer Verfechter des Zivilen Ungehorsams, Ernest Petek, der sich viele Male an Blockaden beteiligt hat, sagt im Rückblick über die ersten Blockaden: „Ja, ich habe daran geglaubt, dass das Volk die Kraft hat, die Katastrophe zu verhindern und die Zerstörung der Lebensgrundlagen in Stuttgart abzuwenden. Noch immer glauben die meisten, dass es bei S21 darum geht, einen neuen Bahnhof zu bauen. Doch niemand will einen Bahnhof bauen. Stuttgart 21 ist das Krebsgeschwür eines Systems, dem es um Gewinn geht. Ob dieser Profit aus Aktien oder Mieten oder eben einem Bahnhofsprojekt stammt – das ist den Projektbetreibern unwichtig.“
Und um seine anfängliche Hoffnung zu verdeutlichen, fügt Petek hinzu: „Zweimal in diesen Jahren hatte ich Zuversicht, dass wir es schaffen könnten mit unserer Kraft der Blockade. Einmal war es im August 2010, als eine riesige Menge an Demonstranten in der großen Schalterhalle im Bahnhof gesessen ist, so dass der Infopoint in der Halle schließen musste, weil wir so viele waren und so laut. Das war eine große gemeinsame Kraft, die wir hätten beibehalten sollen. Und dann am 1. Oktober 2010, bei der Großdemo nach dem Schwarzen Donnerstag. Da waren wir über 100 000 auf der Straße. Da habe ich gedacht, das könnte klappen, wir könnten das Projekt als solidarisches Volk verhindern. Wenn wir nur durchhalten. Wenn wir uns nicht mit falschen Versprechungen ablenken lassen.“
Könnten Blockaden allein das Baugeschehen zum Erliegen bringen, hätten sie es je gekonnt? „Nein, nicht Blockaden allein lassen das Projekt kippen, es geht nur im Zusammenwirken mit Demonstrationen und Information“, sagt Ursel Beck, die lange Zeit unentwegt am Bautor stand. „Der Eingriff in das Baugeschehen ist meines Erachtens immer noch das wirksamste Mittel im Widerstand, nur müsste dieser massenhaft sein. Wenn wir durchgehalten hätten, noch häufigere und noch größere Blockaden geschafft hätten, hätten wir das Projekt stoppen können. Zuerst sind wir Sand im Getriebe, dann werden größere Blockaden zu Steinen.“ Und sie fügt hinzu: „Alle Formen des Widerstands haben ihre Berechtigung, wir sollten gleichberechtigt miteinander gegen das Projekt kämpfen. Im Zusammenspiel und in der gegenseitigen Wertschätzung könnten sie Wirkung zeigen. So wird nach außen hin deutlich, dass es den Widerstand gibt und das Vertrauen wird gestärkt, dass das Projekt zu stoppen ist. Mit Blockaden soll auch Öffentlichkeit hergestellt und Aufsehen erregt werden. Wenn dann die Menschen merken, dass sie mit ihrem physischen Einsatz etwas bewirken können, wenn die Maschinen und LKWs mal einen halben Tag still stehen, werden die Menschen Vertrauen in ihre eigene Kraft gewinnen.“
Ja, die Blockierer glaubten an sich und wenn man in den Medien der ersten Monate nachliest, so hatte die Polizei Mühe, die täglichen Blockaden abzufertigen. Aus ganz Baden-Württemberg wurden Polizeieinheiten angefahren, um bei der Auflösung von Blockaden zu helfen. Die Überstundenzahl der Polizeikräfte schnellte hoch, war kaum noch abzubauen. „Die Polizei kommt an ihre Grenzen“, war in der StZ zu lesen.
Wie die Justiz auf die Blockaden reagiert hat, wie sie jahrelang Strafverfahren gegen S21-Gegner angestrengt hat und dass sie damit die Befürworter des Zivilen Ungehorsams auch abgeschreckt hat, ist bekannt. Ernest P. sagt dazu: „Ich hatte immer daran geglaubt, dass die Justiz unabhängig ist, dass sie nicht nur uns Gegner im Visier hat, sondern dass sie aus Gründen der Objektivität und des auf der Hand liegenden Anfangsverdachts auch gegen die Projektbetreiber ermittelt. Doch es ist nichts geschehen. Diese Erkenntnis der Einseitigkeit der Justiz hat mich schockiert. Im April 2011 bekam ich für die ersten vier Blockaden Strafbefehle wegen Nötigung über 1200 Euro. Da ist mir klar geworden: Hier ist eine Gewalt, die wir mit Oben-Bleiben-Rufen und dem Schwabenstreich nicht wegkriegen.“
Wir wissen inzwischen - mit Blockaden, Demonstrationen und Argumenten ließ sich das Projekt S21 nicht stoppen. Zu sehr waren und sind Politik, Polizei und Justiz auf Seiten der Projektbetreiber. Auch wenn Polizei und Justiz dies stets abstritten und ihre angebliche Neutralität betonten, so wurde schnell klar, dass in Person der Oberstaatsanwalts Häussler der erbittertste Gegner der Blockierer sein Handwerk unerbittlich ausübte. Der Versuch, mit Bußgeld- und Strafverfahren das Genick einer Bewegung zu brechen, ist nicht nur in Diktaturen ein gängiges Mittel. Nicht jeder gutmütige und des Zivilen Widerstands ungeübte Blockierer war auf diese Situation vorbereitet. Viele Projektgegner wurden angesichts der staatlichen und juristischen Repressionen sehr plötzlich ins kalte Wasser geworfen; mit Bußgeld- und Strafverfahren hatten bislang nur die wenigsten Parkschützer Erfahrung gehabt. Es waren die „älteren Herrschaften“, die – Stichworte wie Whyl, Mutlangen, Brokdorf, Gorleben oder Wackersdorf sollen genügen - in den 1970er- und 1980er-Jahren intensiv an Blockaden beteiligt gewesen waren und Erfahrungen mit dem Zivilen Ungehorsam hatten. Diese Erfahrungen setzten sie dann auch bei S21 ein und unterstützten damit viele Protestierende.
Wer physischen Widerstand leistet, muss an sich und die gute Sache glauben. Zudem braucht Widerstand einen langen Atem, d.h. sehr viel Ausdauer und psychische Kraft. Unterstützt werden sollte der Widerstand durch andere Menschen, die mit ihnen solidarisch sind bzw. die zum Erfolg beitragen könnten. Leider setzte die Widerstandsbewegung in den Jahren 2010 und 2011 auf Menschen, die die an sie gerichteten Erwartungen bewusst missbrauchten:
- Es wurde geglaubt, dass CDU-Heiner Geißler mit der Schlichtung die Infamie des Projektes aufdecken und das Projekt zum Erliegen bringen würde.
- Es wurde an die Logik der Wahrheit geglaubt, an die Konsequenz aus der Aufdeckung von Lügen.
- Es wurde geglaubt, dass der Stresstest die Wahrheit an den Tag bringen würde. Aber auch dort wurde getäuscht.
- Weiterhin glaubte man, dass „die Grünen“ mit ihrem edlen Anspruch „mit uns kein S21“ das Projekt kippen würden. Wer hätte im Jahr 2011 bei der Wahl geglaubt, dass MP Kretschmann eines Tages so eine fulminante Kehrtwende machen würde?
- Dann glaubte man an die Volksabstimmung. Auch wenn diese ein Volksbetrug war und sich die Zahlen, über die abgestimmt wurden, schon am Tag nach der Abstimmung als gelogen erwiesen, so glauben heute noch die meisten Menschen in Baden-Württemberg, dass über S21 abgestimmt wurde.
All diese erwiesenen Lügen, Manipulationen und die Akkumulation der fortwährenden Dreistigkeiten haben nicht dazu geführt, dass die Stuttgarter Bevölkerung sich massenhaft und nachhaltig physisch gegen das Projekt wehrt. Es ist das mangelnde Selbstvertrauen in die ur-eigene Kraft, gepaart mit dem Glauben, dass andere Menschen und „die Tatsachen“ das Projekt zum Erliegen bringen werden. So ist inzwischen Ernüchterung eingetreten. Wohl ist die Montagsdemo notwendig für die Solidarität der widerständigen Bevölkerung, sie ist eine lebendige und mit fast eintausend TeilnehmerInnen auch nach fünf Jahren noch eine beachtliche Veranstaltung. Doch ist sie nur als ein Teil des gesamten Widerstandsspektrums zu sehen. Sie allein wird – genau wie die darin jede Woche erneut meisterhaft vorgebrachten Argumente gegen S21 – nicht das Projekt stoppen. Sie dürfte nicht der Bevölkerung suggerieren, dass es nur noch „wenige Augenblicke“ sind, bis das Projekt kippt. Nur noch dieses unlösbare technische Problem, nur noch jene juristische Klage, nur noch eine Kostensteigerung, … dann wird die Bahn mitsamt der Politik das Projekt aufgeben. Aber weder wird das Projekt an der Technik noch an der Finanzierung noch an der Justiz scheitern. Es würde allein am massenhaften Widerstand einer solidarischen Bevölkerung scheitern. Doch davon ist weit und breit nichts zu sehen.
Fünf Jahre nach der ersten Blockade. Der gestrige Tag darf nicht „Jubiläum“ genannt werden, denn zum Jubeln gibt es nichts. Deshalb gab es gestern Morgen auch keine Jubiläumsblockade, als ab 7 Uhr wieder Blockierer am Bautor am ehemaligen Südflügel standen. Es war ein Dienstag wie viele zuvor: Ein LKW kommt zum Bautor, die Demonstranten stellen sich davor, der LKW kehrt um, nimmt die hintere Einfahrt zum Baugelände.
Eine kleine Anekdote ist dennoch zu berichten:
Gestern war ein neues DB-Security-Mitglied am Bautor. Sieht die Demonstranten und fragt: „Was soll das?“ Muss telefonieren. Was die Auskunft der Dienststelle ist, lässt sich denken: „Ach, die sind wieder da, ist ja Dienstag, die kommen da immer, die gehen wieder, die Lastwagen können ja hinten reinfahren.“
Einer der Demonstranten betont: „Wir stehen dienstags hier um zu zeigen, dass wir nicht aufgeben mit unserem Protest. Wir stehen aber nicht nur vor dem Tor. Wir verteilen auch Infopapiere an Passanten und Bauarbeiter. Ein Flyer mit dem Titel „Der wahre Fortschritt fährt oben“ informiert über die Nachteile des Projekts. Der andere Flyer ist über unnütze Großprojekte und welche Auswirkungen sie auf die Bevölkerung haben. Wir Leute vom Dienstagsfrühstück sind davon überzeugt, dass es noch immer sinnvoll ist, aus S21 auszusteigen. Die Gerichte müssten sich nur mit den Unrechtmäßigkeiten des Projekts befassen und einen Baustopp erwirken. Solange das nicht passiert, stehen wir hier vor dem Tor, jeden Dienstag.“ Der Bogen ist geschlagen – vom 4. August 2010 zum 4. August 2015.
Dieser Artikel ist allen Blockierern gewidmet, die sich in den letzten fünf Jahren gegen S21 und für den Erhalt der Lebensqualität hingesetzt haben; die Nord- und Südflügel und den Park mit ihrem Körper geschützt haben; die bei großen und kleinen Blockaden und Platzbesetzungen dabei waren; die sich mit Zivilem Ungehorsam auseinandergesetzt und darüber diskutiert haben; die sich angekettet haben; die an ihre ganz eigene, persönliche Kraft geglaubt haben und immer noch glauben; die in Prozessen an Stuttgarter Gerichten mit wunderbaren Einlassungen ihr Recht auf Widerstand gegen S21 begründet haben; die Strafen für ihr nicht strafwürdiges Tun gezahlt haben. Und die daran glaubten – und immer noch fest glauben -, dass friedlicher, gewaltfreier Widerstand zum Erfolg führt.
(Text und Foto: Petra Brixel)
„…erlaubt weder einen Abriss der denkmalgeschützten Bahnhofsflügel noch die Rodung des Parks noch…“.
Bitte den entsprechenden Link und damit verbundenen Beweis hier posten, dass die Bahnhofsflügel GENKMALGESCHÜTZT waren.
Danke vorab.
Ernest Petek:
„Eine Richtigstellung, die mir sehr wichtig ist, vorab. Ich bin nicht Gegner von S21. NEIN! Ich engagiere mich für den Erhalt des Kopfbahnhofs mit kultureller und geschichtlicher Bedeutung von besonderem Rang für Stuttgart Art.8, 3c Landesverfassung…“
Wir bitten um Klarstellung. Ernest Petek ist gegen S 21.
Hallo, Ernest, danke für die Richtigstellung, nämlich dass du kein Gegner von S21 bist, sondern gegen S21. Das ist nicht einmal eine unwichtige Wortspielerei, sondern politisch ein Unterschied. Wenn man Gegner von jemandem oder etwas ist, so ist es ein „Kampf Person gegen Person oder Person gegen Institution“ und meistens kennen sich die Kontrahenden. Wenn man aber gegen etwas ist, so ist das zwar auch sehr konsequent, aber nicht persönlich und eher mit Distanz. Die Mittel sind vielleicht die gleichen, doch die Personen dahinter sind unwichtig. Dir ist es unerheblich, ob die Projektbetreiber Merkel, Grube, Profalla, Kretschmann oder XY heißen, du bist gegen das System 21. Selbst wenn die mit S21 verbandelten Personen nicht mehr da wären, so wäre S21 noch da. Ich hoffe, ich habe das so richtig erfasst.
Die Blockaden bezwecken,den Bau des Bahnhofsprojekts S 21 zu verhindern, wenigstens symbolisch… Ja, wenn es um ein Bahnhofsprojekt ginge. Dann müssten unsere Argumente der Vernunft Erfolg haben.
Dabei geht es um etwas ganz anderes: mit diesem Riesenprojekt unsere Wirtschaft in Gang zu halten. Mit Aufträgen zu versorgen. Umsatz und Profit zu garantieren.
Unsere Gegner, das sind die Wirtschaft und ihre Angestellten, die Regierenden. Die lachen sich ins Fäustchen, wenn wir unentwegt mit unseren Bahnhofs-Argumenten herumfuchteln, die ja so richtig und vernünftig sind.
Durchsetzen können wir uns erst, wenn unsere Blockaden den Verkehr stilllegen. Damit treffen wir die Wirtschaft ins Herz.
Unmöglich? Vielleicht. Aber wir sollten mit dieser Zielvorstellung in den Kampf ziehen!
Der Witz ist ja, dass sich der Verkehr längst selbst lahmlegt. Den Menschen wird inzwischen eine individuelle Mobilität abverlangt, die mit der der anderen kollidiert und Stress produziert.
Die Wirtschaft lähmen, das bedeutet auch das bald die Lebensmittelläden leer sind.
Was ein dann beginnendes Chaos zu einer „besseren Welt“ beiträgt, sehe ich erstmal nicht.
Im Jahr 2010 waren die effektiv wirksamsten Blockaden die Verkehrsstillstände durch die Massendemos. Das normale Leben war kurzzeitig gelähmt.
Aber war es nicht so, dass gerade diese Massen eigentlich keine substantiellen Aenderungen ihrer Normen wollten und schon bald wieder der Strasse fernblieben ?
Die Baustellenblockaden waren einfach zu kriminalisieren und leider blieben Nachahmungs- und Solidarisierungseffekte weitgehend aus. Nachdem sie immer weniger eine Bedrohung für den Baufortschritt waren, konnte auch die Kriminalisierung wieder heruntergefahren werden. Denn die kostet dem Staat auch Geld…
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Ein prima Beitrag, finde ich! Zunächst las sich das eher deprimiert wegen der geringen Beteiligung an den Blockaden. Aber dann schlägt doch der Optimismus wieder durch – dieses Wechselbad kennen wir wohl alle.
Danach las ich mir die Anzeige von Dr. E. von Löper gegen Pofalla usw. in voller Länge durch. (auf www. kopfbahnhof-21.de) Die ganzen Vorgänge, über die geschwärzten Zeilen, die Hinterhältigkeiten, die Beweise dazu usw. Erst wenn diese schier endlose Aufzählung vor Gericht auch nicht überzeugt u. abgeschmettert werden sollte können wir alle Hoffnung auf Recht u. Gesetz fahren lassen. Nicht nachlassen u. OBEN BLEIBEN!
Es steht bereits auf der ersten Seite dieser offiziellen Seite, dass der Stuttgarter Hbf denkmalgeschützt ist.
http://www.bahnhof-stuttgart.de/
Zitat:
Der unter Denkmalschutz stehende Hauptbahnhof Stuttgart liegt mitten im Stadtzentrum. Der Reisende findet in unmittelbarer
Nähe die Stuttgarter-Einkaufsmeile, die Königstraße sowie der Schlossgarten, ein Teil des sog. „Grünen U“ Stuttgarts.
Es ist gut, nach fünf Jahren Widerstandspraxis in Stuttgart ein Resumee zu ziehen.
Ziviler Ungehorsam muss, wie das Sternstein oft sagte, auch mit dem Hinnehmenkönnen von Strafen ergänzt sein. Die Bestrafung von symbolischen also politischen Blockaden muss in der Öffentlichkeit als große Ungerechtigkeit wahrgenommen werden. Dafür brauchen die Blockierer eine effektive politische Plattform. Diese Plattforme war nie das Aktionsbündnis und sie war es umso weniger als das Aktionsbündnis sich lange Zeit auch als Widerpart der Parkschützer sah. Diese politische Plattform hätte dafür sorgen müssen, dass in der Öffentlichkeit deutlich wird, dass mit S21 stärkste Rechtsverletzungen einhergehen, die den zivilen Ungehorsam geradezu herausfordern. Diese Rechtsverletzungen, die teilweise den Rechtsstaat in Frage stellen, sind das Gegenstück für den Zivilen Ungehorsam, der daraus seine Legitimität ableitet. Der zivile Ungehorsam hätte in der Hinnahme von Strafen (gegen die natürlich zu protestieren ist) eine Selbstverständlichkeit sein müssen. Stattdessen wurde das Risiko von Strafen von seiten der Parkschützerregie oft verharmlost. Und schließlich funktioniert ziviler Ungehorsam nur dann, wenn alle, die im Widerstand etwas zu sagen haben, da auch mitmachen. Und genau da waren wir am schlechtesten aufgestellt, auch wenn es hin und wieder funktioniert hat.
Sich auf den GG 20/4 zu berufen, war immer ein schwerer Fehler, weil zum einen immer der Rechtsweg beschritten werden konnte und auch noch beschritten wird. Nur dieser Rechtsweg ist durch das zwischenzeitliche Faktenschaffen teilweise unwirksam. Hier kann man dann allerdings nicht mehr mit zivilem Ungehorsam ansetzen, sondern muss sich darauf einigen, den juristischen Weg des „rechtfertigenden Notstandes“ zu beschreiten.
Mein Resumee: Ich persönlich denke, dass der zivile Ungehorsam insgesamt schlecht in der Bewegung verankert war und die Meinungsvielfalt dazu eine größere Einigkeit kaum aufkommen ließ. Bei der Selbsteinschätzung der Parkschützer im Forum fehlte ein einfacher Satz: „ich selbst leiste keinen zivilen Ungehorsam, aber ich unterstütze aktiv diejenigen, die das Risiko auf sich nehmen, weil ich zutiefst von der Unrechtssituation bei und durch S21 überzeugt bin.