Rede von Dr. Norbert Bongartz, Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21, auf der 276. Montagsdemo am 22.6.2015
Durst ist schlimmer als Heimweh
Liebe Freunde und Freundinnen – in jugendlicher und in alternder Frische!
Geht es Ihnen so wie mir? Nach dem Beginn der Bauarbeiten am unsäglich unnützen Tiefbahnhof im Schlossgarten beschlich mich ein wachsender Widerwillen, je näher ich der Baustelle kam. Ich konnte – nach all dem, was wir über die nicht vorhandenen Vorzüge von S21 wissen – den Anblick auf das große Loch kaum ertragen.
Vor ein paar Tagen hab ich mich überwunden, aufs Fahrrad geschwungen und die Stätte meines Grausens aufgesucht.
Die zum Kirchentag abgeladenen Bagger, deren Ballett-Inszenierung die Kirchentagsgäste beeindrucken sollte, waren immer noch da und schaufelten ein wenig vor sich hin, vielleicht damit sich die wüste Baustelle nicht wieder frisch begrüne... Die vielen, uns Reinlichkeit suggerierenden blauen Rohre gaben dem Chaos zwar einen optischen Halt und versuchten, einen vertrauenswürdigen und beruhigenden Eindruck auf mich zu machen. Es gelang ihnen aber nicht; dieses eher künstliche als künstlerische blaue Geröhre konnte mich nicht aufheitern.
Ich musste sogar feststellen, dass ich nach 5 Minuten Hingucken eine trockene Kehle bekam und soo einen dicken Hals. Die Trauer über den zerrissenen Schlossgarten und meine fehlende Vorfreude auf die feierliche, jubelnde Eröffnung des Tiefbahnhofs im Jahre 2030 weckten in mir plötzlich nicht nur den Drang, weiter zu fahren, sondern weckten auch ein starkes Durstgefühl.
Kaum hatte ich die Baustelle hinter mir und tauchte wieder in die unzerstörte, harmonische Parklandschaft ein, da ging es mir schon wieder besser. Die Durststrecke entlang der Baustelle hatte ich hinter mir. Doch – ein Durstgefühl blieb und ließ sich auch (zu meiner Überraschung) im Café Nil nicht löschen.
Offenbar war dieser Durst von einer anderen Art: ein Durst nach einer Kultur von Verantwortlichkeit, Ernsthaftigkeit und Redlichkeit, die in einer Welt der Schamlosigkeit wohl immer mehr abhandenkommt. Ein Durst, gewachsen angesichts der unerträglichen Erfahrung, dass sich dreiste und hartnäckig vertretene Falschaussagen von politischen und wirtschaftlichen Profiteuren offenbar lohnen und diesen Menschen das Eingeständnis eines Irrtums, oder wenigstens eines Bedauerns über ihr Handeln überhaupt nicht in den Sinn kommt.
Das bekannte Sprichwort: „Durst ist schlimmer als Heimweh“, entsprach annäherungsweise meiner derzeitigen Verfassung.
Aus dem schönen Schlossgarten bin ich wieder heimgefahren mit einer Vision, meinem Traum: Wenn das Kartenhaus S21 in sich selbst kollabiert, dann wird der Moment gekommen sein, an dem auf der Seite der heute immer noch getreuen S21-Befürworter viele Krokodilstränen fließen werden.
Dann wird es zu einem denkwürdigen, geradezu historischen Auftritt kommen, an dem eine neue Ministerpräsidentin und an ihrer Seite der frisch ins Amt gekommene Bahnchef und die junge Oberbürgermeisterin dieser Stadt ein öffentliches Bekenntnis der Schuld ihrer jeweiligen Vorgänger able-gen werden. Und sie könnten gemeinsam auf einen roten Knopf drücken und mit diesem den Sturz eines Denkmals, des Denkmals vom Herzens Europas, herbeiführen und dieses als Be-Trugbild beerdigen, als Grundstein für die Wiederherstellung des erneuerten Kopfbahnhofs.
Den Bischöfen der beiden Amtskirchen stünde es gut an, sich dem Schuldbekenntnis anzuschließen, weil sie aus Feigheit beharrlich zu den unredlichen Methoden der Bahnprojekt-Betreiber geschwiegen hatten.
Bei ihrem öffentlichen Auftritt könnten sie alle einen Ulmer Brauch nach Stuttgart importieren: den Schwörmontag, an dem seit 1397 das Ulmer Stadtoberhaupt alle Jahre wieder seinen Amtseid erneuert: „den Reichen und Armen ein gemeiner Mann zu sein in allen gleichen, gemeinsamen und redlichen Dingen ohne allen Vorbehalt“.
In der Landeshauptstadt Stuttgart wäre es sicher eine Sensation, wenn der oder die OB zusammen mit der MinisterpräsidentIn freiwillig der allgemein verbreiteten Amtseid-Vergesslichkeit entgegen träten. Für diese ergreifende Zeremonie würden wir sicher gerne, großzügig wie wir sind, unsere Montags-Demo-Bühne anbieten.
Dann könnten sie, die hier Angesprochenen nämlich, mit uns zusammen: Oben bleiben!