Ein dreifach Hoch den Stuttgartern!
»Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß« beschwor einst Winston Churchill. Eine Rede, die man Stuttgartern nicht halten muss. Manch Bunker ziert heute noch das Stadtbild und zeugt vom unbeugsamen Durchhaltewillen in jeder Lage. Eisern trotzten die Stuttgarter auch den schlimmen Nachkriegsjahren: Sie ertrugen lieber die Kälte, als ihre Bäume im Schlossgarten zu fällen, immer willens, sich die Gestaltung ihrer Stadt nicht aus den Händen nehmen zu lassen.
Seither hat der Stuttgarter stets dem Fortschritt den Weg bereitet. Stuttgart ist heute ein bedeutender Verkehrsknotenpunkt, der nicht - wie viele andere Städte auf Ruhe beharrend - dem Autoverkehr Umwege aufzwingt, sondern ihm die direkte Passage durch das Zentrum gewährt. Feinstaub und Lärm ignorierend bietet der Stuttgarter seinen ureigensten Lebensraum dem Transit zum Wohle der Wirtschaft. Damit nicht genug: Die Stuttgarter Bürger widmen sich jetzt der nächsten Herkulesaufgabe, bescheiden »Stuttgart 21« genannt.
Das leuchtende Beispiel
Anderswo sucht man vergeblich Selbstlosigkeit und Einsatzbereitschaft - allein Stuttgart führt mit leuchtendem Beispiel! Ganze Stadtviertel verändern dank Planierungen, Bauflächen, Containerdörfern und Baustraßen ihr Gesicht. Zehntausende opfern private Zeit in Staus und verspäteten Zügen, nehmen Umwege in Kauf und stehen morgens früher auf, um trotz aller Widrigkeiten pünktlich zur Arbeit zu kommen, immer nur das hohe Ziel im Sinn.
Alle ziehen an einem Strang
Unternehmen verzichten auf Einkünfte durch ausbleibende Kunden, erdulden verkehrsbedingt unpünktliche Termine. Millionenwerte an Waren und Fahrzeugen stehen täglich, gesteuert von fleißigen Lenkern, im Stau. Geduldig, voller Vorfreude sehnt jeder hier den Tag entgegen, an dem der Verkehr dereinst endlich staufrei fließen wird, während die Massen auf Schienen unterirdisch unter der Stadt hindurchsausen.
Stuttgarter Hotels und Pensionen ertragen klaglos das Fernbleiben der Gäste, die Unterbringung der auswärtigen Arbeiter in Containern duldend, nur damit Projektkosten klein bleiben.
Nicht nur schön, ebenso vorbildlich die Betreiberin des Biergartens im Schlossgarten, Sonja Merz: »Nach dem Volksentscheid für den Weiterbau muss jetzt Ruhe sein!« Unermüdlich wird weiter eingeschenkt, das Fehlen des schattigen Grüns auf der Brache ignorierend. Der Blick des Gastes schweift vom gepflegten Bier auf die Ruine des betagten Bahnhofs, den als neuen Nordausgang fungierenden Steg, eine Vielzahl von Rohren, das Grundwassermanagement und die Verladestation für den Aushub der Unterhöhlung des Kernerviertels. Bald fahren hier die LKW im Minutentakt, während die Gäste den Staub von der Schaumkrone des Bieres wischen, sich, den Baulärm übertönend, ein fröhliches »Stuttgart Glück-auf« zuprostend.
Die Königstraße: Opferbereit
Die Geschäfte in der Königstraße klagen - aber nur über Einbußen durch die Demonstrationen. Ein berechtigter Vorwurf! Akzeptiert der Handel doch schon jetzt klaglos das Ausbleiben derer, die nicht mehr aus dem Umland in die Stadt kommen, Aufwand, Schmutz und Chaos scheuend. Sie sind nicht aus dem gleichen Holz wie die wackeren Stuttgarter geschnitzt, sondern wollen bequem ohne lange Staus, hohe Parkhausgebühren, volle und verspätete S-Bahnen und lange Wege durch unansehnliche Baustellen ihre niederen Wünsche erfüllen. Wenn sich das neue Stadtzentrum demnächst weiter nach Norden in das Milaneum verschiebt, wo 200 neue Geschäfte auf ihre Kunden warten, wird sich die Königstraße bescheiden in die zweite Reihe der Stuttgarter Lokalitäten stellen. Zukünftig haben Kunden die Wahl: Das Milaneum im Norden, das Gerber im Süden oder die ehemalige Prachtstraße in der Mitte. Nur dem schwäbischen Fleiß ist zuzutrauen, dass sich die Kaufkraft der Stuttgarer verdreifacht, und so alle Händler auch weiterhin auf ihre Kosten kommen.
Fleißige Helfer
Die zugereisten Arbeiter in hunderten Containern nehmen gerne über Jahre die Trennung von ihren Familien in Osteuropa in Kauf und begnügen sich oftmals mit weniger als dem Mindestlohn, um dieser Stadt zu neuem Glanz zu verhelfen. Örtliche Handwerksunternehmen und Arbeitslose schauen klaglos zu, wie Arbeit, die hier auch von Ortsansässigen in guter Qualität fachmännisch verrichtet werden könnte, an ausländische Wanderarbeiter vergeben wird.
Die Kirche unterstützt die zugereisten Arbeiter mit speziellen Seelsorgern. Es stört nicht, dass verschiedene Sprachen gesprochen werden, der Glaube an das Projekt und dem darauf liegenden Segen eint hier alle. Lidl und Aldi sorgen fürs leibliche Wohl, während sich osteuropäische Damen unter roten Laternen um den weltlichen Trost der Arbeiter bemühen.
Die wahren Helden
Größter Dank gebührt den Stuttgarter Bürgern. Sie akzeptieren Jahre voller Bau- lärm, Dreck und die Nachbarschaft von Containerdörfern. Sie lassen ihre Häuser abreißen oder untertunneln und nehmen die Risse und Senkungen in Kauf, augenzwinkernd die Dementis der Bahn akzeptierend. Sie verzichten auf Mieteinnahmen und dulden den Werteverfall. Bei jedem Rammstoß und später jeder Erschütterung spüren sie dafür ihren persönlichen Beitrag zum erstarkenden Pulsschlag des neuen Herzens Europas.
Stuttgarter Honoratioren gehen stets mit gutem Beispiel voran. Die Argumente der Zweifler können den Blick nicht vom Ziel ablenken. Die Väter der Stadt wissen, dass Stuttgarter Disziplin im Brandfall über jede Panik siegen wird, und dass die Stuttgarter Feuerwehr in Minutenschnelle kilometertief in jedem Tunnel auch ohne Löschwasser ihre rettende Arbeit aufnehmen wird. Die Überzeugung, über Mineralwasser und Quellgips siegen zu können, steht den Politikern bei jeder Tunneltaufe ins Gesicht gemeißelt. Schwäbische Logistik wird die Kapazität des Bahnhofs garantieren, der Welt zeigend, dass man hier auch im Bahnhof doppelt so leistungsfähig ist, wie die kühlen Hamburger, die auf acht Geisen mit hanseatischer Gelassenheit nicht einmal 30 Stundenzüge bewältigen können, oder die Kölner, die nur den Rosenmontagszug pünktlich abfahren lassen.
Schulter an Schulter stehen Regierung und Opposition, unterstützt von Interessenverbänden, jegliche Aktivitäten gegen das Projekt vermeidend, selbst, wenn ihre Mitglieder in einem schwachen Moment Kritik äußerten. Behörden und Institutionen drücken gerne ein Auge zu, stets Nachbesserungen gestattend. Lässt eine optische Täuschung auf einem Foto der kritischen Stuttgarter Presse das edle Mineralwasser aus einem Rohr braun erscheinen, gibt man natürlich die Chance, durch das Nachreichen einer Flasche sauberen Wassers das Missverständnis zu klären.
Schwaben sind sparsam! Doch natürlich wird niemand zulassen, dass dieses Projekt am Geld scheitert. Die Stuttgarter Straßenbahnen, der Verkehrsverbund, der Flughafen, das Verkehrsministerium: Alle sind stets bemüht, mit baulichen Vorleistungen und großzügigen Geldern dieses Projekt zu unterstützen.
Das größte Opfer von allen ist die Kehrwoche! Für mindestens zehn Jahre unterdrückt der traditionsbewusste Stuttgarter seine penible Reinlichkeit und erlaubt, dass es in seiner Stadt aussieht »wie d’ Sau«. Nur die sprichwörtliche schwäbische Hausfrau gibt nicht auf: Die Fenster bleiben sauber, selbst wenn man sie jetzt täglich putzen muss. Schließlich ist auch der Mann kompromissbereit: Trotz Steinschlägen durch Schmutz auf der Autobahn am Wochenende wird das »heilig Blechle« immer wieder auf Hochglanz poliert.
Der Mühe Lohn
Laien könnten meinen, dass die ganzen Flächen, die derzeit Baustellen, Logistikflächen und Baustraßen beanspruchen, viel Platz für die Stadtentwicklung bieten. Nein, weitaus größere Flächen, deutlich zentraler haben die Stadtplaner im Sinn. Das neue Zentrum Stuttgarts entsteht um den Pragfriedhof herum. Dadurch sind spätere Erweiterungen möglich, da Stuttgarter selbst im Jenseits noch ihren Beitrag leisten werden.
Endlich können sich Unternehmen ansiedeln, die Handel und Dienstleistungen anbieten, die die Stuttgarter so lange entbehrten. Viel wichtiger ist der Beitrag für den Rest Europas: Stuttgart wird endlich zum Haltepunkt einer europäischen Magistrale werden. Hektisch gen Bratislava oder Paris strebend werden die Reisenden unter der Stadt hindurchsausen, nicht ahnend, welche Entbehrungen und Opfer die bescheidenen Stuttgarter für diese Wunderleistung auf sich genommen haben. Oben wird sich ein besonderer Menschenschlag dann in einer völlig neuen Stadt von den Strapazen dieser Mammutaufgabe erholen, schon sinnierend über die nächste Aufgabe zum Wohle der Menschheit.
Beeindruckt von dem, was die Stuttgarter für das Wohl des europäischen Verkehrs auf sich nehmen, hat ein Parkschützer eine Laudatio auf die selbstlosen Stuttgarter verfasst. Bitte im Rathaus als Imagebroschüre vorschlagen - oder als Flyer am Kirchentag verteilen. Zum Download gibt es den Flyer im PDF-Format HIER
Nicht unerwähnt sollte der Schwarze Donnerstag bleiben.
Die Polizei
Was hätte die tapfere Polizei tun sollen angesichts tausender friedlicher Demonstranten im Schlossgarten, die sich einfach nicht provozieren ließen? Da mussten die Wasserwerfer mit voller Pulle eingesetzt werden. Auch die vielen Kinder, die penetrant skandierten: „Wir sind friedlich! Was seid ihr?“ u. sich unter Planen zu schützen suchten, konnten nur wie Ungeziefer per Pfefferspray u. Knüppel zur Räson gebracht werden. So etwas darf in Stgt. nicht Schule machen. Das ein oder andere kaputte Auge, Rippenbrüche u. Prellungen: eine Lehre fürs Laben. Die Polizei hatte schließlich ihre wichtige Aufgabe – von höchster Stelle gefordert – zu erfüllen. Stuttgarter haben zu gehorchen.