Am 5. November dieses Jahres gab das Verwaltungsgericht Stuttgart eine Mitteilung heraus unter der Überschrift: „S21: Wegtragegebühr – Einstellung des Verfahrens“, die an den Anfang dieses Artikels gestellt werden soll, da sie den Sachverhalt erläutert:
"Das Verwaltungsgericht Stuttgart muss die Frage, ob die Wegtragegebühr zu Recht erhoben wurde, nicht mehr entscheiden. Das Verfahren wurde durch Beschluss der 5. Kammer vom 24.10.2014 eingestellt, nachdem das Polizeipräsidium Stuttgart den angefochtenen Bescheid über die „Wegtragegebühr“ aufgehoben hat und die Beteiligten daraufhin den Rechtstreit für erledigt erklärt haben. Damit ist das Verfahren beendet (Az.: 5 K 1344/12). Mit der am 20.04.2012 eingegangenen Klage gegen das Land Baden-Württemberg hatte ein Stuttgarter Bürger die Aufhebung eines Bescheids des Polizeipräsidiums Stuttgart vom 19.01.2011 begehrt, mit dem er zu einer sog. „Wegtragegebühr“ in Höhe von 80€ herangezogen wurde, nachdem er am 10.09.2010 als Teilnehmer einer Sitzblockade gegen das Bahnprojekt „Stuttgart 21“in der Einfahrt zur Baustelle am Nordflügel des Hauptbahnhofs Stuttgart von zwei Polizeibeamten weggetragen worden war, um wartenden Baufahrzeugen die Einfahrt zu ermöglichen."
Dazu auch die beiden Stuttgarter Zeitungen:
Stuttgart 21 Polizei verzichtet auf 80 Euro.
Stuttgart 21 Polizei erlässt Gebühr fürs Wegtragen.
Was hat es nun mit der Wegtragegebühr auf sich, warum und wogegen konkret hatte der Stuttgarter Bürger geklagt, wie ist dieser Beschluss der VG-Kammer einzuordnen und welche Auswirkung hat er auf andere Demonstranten?
Tragen lassen oder nicht?
„Müssen wir Sie tragen oder kommen Sie so mit?“, werden „Blockierer“ von Polizisten gefragt, wenn eine Blockade aufgelöst wird. Mit „ … kommen Sie so mit“ ist gemeint, ob der Demonstrant auf eigenen Beinen zum Polizeifahrzeug geht, wo seine Personalien aufgenommen werden. Tragen lassen ist eine noch bestimmtere Form des zivilen Ungehorsams. "Wenn ich mich wegtragen lasse, bedeutet das ein stärkeres Symbol meines Protestes, " erklärte ein Demonstrant kürzlich. Und ein anderer: "... ich lasse mich tragen, weil ich nicht freiwillig den Platz räume." Wobei „freiwillig“ auch im Falle des Selbst-Gehens nur unter psychischem Zwang geschieht – der Androhung von Zwangsmitteln -, während das Tragen-Lassen der sogenannte „unmittelbare Zwang“ ist.
Das tragekonforme Päckchen
Damit das Wegtragen nicht in – gegenseitiger - Körperverletzung ausartet (weder Polizist noch Demonstrant haben Interesse an einem körperlichen Schaden), versuchen Polizist und Demonstrant zu „kooperieren“. Zwei Polizisten bemühen sich mit gelernten Handgriffen, den Demonstranten „rückenschonend“ die 50 m zum Polizeiauto zu tragen. Der Demonstrant seinerseits wird sich nicht bewusst schwer machen (dies würde als „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ ausgelegt werden und hätte eine Anzeige zur Folge), sondern sich als ein gut zu handhabendes „Päckchen“ hinsetzen, mit angewinkelten Armen oder die Hände in den Kniekehlen verschränkt. So können die Beamten den angeblichen „Störenfried“ – einer rechts, einer links – mit sicheren und geübten Griffen wegtragen.
Der „Schlabberfuß“
Dass sich der Demonstrant dabei bewegungslos verhalten sollte, aber nicht unbedingt saft- und kraftlos, also mit schlackernden Gliedmaßen, zeigte ein Prozess am Amtsgericht im Jahr 2012, wo ein bei der Südflügelräumung im Januar desselben Jahres weggetragener Demonstrant unter Anklage stand, beim Wegtragen seinen Fuß nicht unter Kontrolle gehabt zu haben, so dass dieser den Polizisten berührte. Im Übrigen war sein Körper völlig „wegtragekonform“, wie der Polizist bestätigte, nur „... dieser Fuß“. Der Angeklagte, ein Physiker über 70 Jahre, war sich keiner Schuld bewusst, aber die polizeilichen Zeugen bestätigten den „Schlabberfuß“ und auch der Richter sah das so und verhängte eine hohe Geldstrafe wegen „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte" (§ 113 StGB).
Dieses Beispiel soll nur noch einmal vor Augen führen, dass Wegtragen mit dem Risiko verbunden ist, an sensible und/oder rigide Polizisten zu geraten. Pech ist, wenn dem Strafurteil dann noch eine Zivilklage auf „Körperverletzung“ folgt.
Fotogenes Wegtragen
Für Reporter ist es ein gern fotografierter Moment, wenn Demonstranten weggetragen werden. Dem Schriftsteller Heinrich Böll, der im September 1983 mit vielen anderen Persönlichkeiten bei der sogenannten Promiblockade die Einfahrtstore zum US-Airfield in Mutlangen blockiert hatte, kam um ein Wegtragen herum, da das Lager bereits vorher von allen Pershing IA-Raketen geräumt worden war. So griff die Polizei nicht ein. Der damalige Innenminister von Baden-Württemberg, Roman Herzog, soll gesagt haben: "Ich werde der Weltpresse doch nicht das Schauspiel bieten, den Nobelpreisträger Böll von deutschen Polizisten von der Straße tragen zu lassen."
Auch Stuttgart hat so eine Berühmtheit: Gerald R., 83 Jahre. Sein Foto vom Wegtragen am GWM in der Bild-Zeitung - weggetragener emeritierter Philosophieprofessor mit herausgestreckter Zunge à la Einstein - ging zwar nicht um die Welt, aber doch in die Republik. „Hier streckt G.R. dem Staat die Zunge raus“, hieß es dazu.
Keine bundeseinheitliche Regelung
Die sogenannte „Wegtragegebühr“ wird nur von wenigen Bundesländern eingefordert, in Baden-Württemberg gilt sie seit Anfang der 1980-Jahre. In der Anti-Atom- und Friedensbewegung gab es damals kraftvolle Sitzblockaden. Der damalige Baden-Württembergische Innenminister und spätere Bundespräsident (von 1994 - 1999) Roman Herzog (CDU) hatte diese „Polizeikostenverordnung“ eingeführt. Die Rechtsgrundlage für die Gebühren sind die jeweiligen Landespolizeigesetze in Verbindung mit dem Verwaltungsvollstreckungsgesetz. Rüstungsgegner, die ihre Wegtragegebühr nicht zahlten, nahmen auch Haft in Kauf. Andere Bundesländer zogen nach, ihr Motto: Sondereinnahmen darf man sich nicht entgehen lassen.
Verwaltungsgebühr
Diese „Wegtragegebühr“ ist nun aber kein Bußgeld wie bei einer Ordnungswidrigkeit, sondern mit einer Bearbeitungs- oder Verwaltungsgebühr zu vergleichen. Sie wird aufgrund von § 52 Abs. 4 PolG BW in Verbindung mit § 31 Landesverwaltungsvollstreckungsgesetz (LVwVG) und den §§ 7 ff. der Verordnung des Innenministeriums über die Erhebung von Kosten der Vollstreckung nach dem Verwaltungsvollstreckungsgesetz für Baden-Württemberg (LVwVGKO) in den jeweils geltenden Fassungen erhoben.
Berechnet wird die Gebühr nach § 7 LVwVGKO in Fällen des § 52 Abs. 4 PolG BW für jeden eingesetzten Bediensteten je angefangene Stunde mit 40 Euro. Wenn z.B. bei einer Blockade 17 Polizeibeamte zum Wegtragen eingesetzt waren, so sind das 17 mal 40 Euro = 680 Euro. Gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 2 LVwVGKO sind die Gesamtkosten angemessen, gleichmäßig auf die (Gebühren)Pflichtigen zu verteilen. Wenn die Anzahl der Pflichtigen 14 beträgt, so ergibt sich anteilig eine Gebühr in Höhe von insgesamt 48,57 Euro.
Falls die Last des Demonstranten den Beamten zu groß erscheint und sich vier Polizisten bemühen müssen, kann das dann die doppelte Gebührenhöhe ergeben. Kürzlich legte ein Demonstrant Widerspruch gegen eine Wegtragegebühr für vier Polizisten ein; er meinte, zwei hätten auch genügt. Das Urteil beim Verwaltungsgericht steht noch aus.
Umstrittene Gebühr
Dennoch ist das Erheben der Gebühr nicht unumstritten, denn warum sollte der Einsatz beim Freiräumen eines Baustellentores zum Zwecke des reibungslosen Ablaufs einer Baustelle nicht vergleichbar sein mit dem Einsatz bei einem Fußballspiel oder beim Löschen eines Brandes? Gehört so ein Einsatz nicht zu den Aufgaben einer Polizei? Doch ein Staat, der auch von Menschen, die keinen Fernseher besitzen, TV-Gebühren erhebt, findet leicht noch eine Quelle, wo eine Gebühr zu erheben ist. Der sicher auch gewünschte Nebeneffekt ist die Abschreckung, denn mit der Geldkeule lässt sich recht gut das Protestverhalten von Menschen beeinflussen und ihr politisches Engagement durch Kostenbescheide eindämmen. Eine Klage gegen die Wegtragegebühr ist zwar seit Jahren beim Bundesverfassungsgericht anhängig, aber solange dieses kein Urteil gesprochen hat, werden weiter Bescheide zur Wegtragegebühr ausgestellt.
Kein Urteil, sondern eine Rücknahme des Bescheids
Wie aus dem Bescheid des Polizeipräsidiums Stuttgart (Abt. Recht und Datenschutz) vom 17.10.2014 hervorgeht, hat dieses in der Verwaltungsrechtssache des Klägers gegen das Land Baden-Württemberg den Gebührenbescheid zurückgenommen. BeschRücknWegtrGeb
In der Begründung ist zu lesen, dass an dem besagten Tag die Polizei die Versammlung als Verhinderungsblockade gewertet hatte und die Versammlung – denn um eine solche handelte es sich bei dem Dienstagsfrühstück am GWM, lt. Urteil des VG vom 12.6.20124 Juni – nicht ordnungsgemäß aufgelöst wurde, d. h. der Platzverweis nicht rechtens war. Deshalb hätte der Kläger nicht aus der Versammlung entfernt werden dürfen und somit dürfte auch der Gebührenbescheid nicht ausgestellt werden.
Wen betrifft es noch?
Der Pressesprecher des Polizeipräsidiums, Keilbach, beziffert die im Zusammenhang mit S21-Protestaktionen ausgestellten Gebührenbescheide wegen Wegtragens mit ca. 570. In Anwaltskreisen spricht man von 100 bis 200 vergleichbaren Fällen. Konkret auf die Blockade am Dienstag, 10.9.2010, bezogen sind es sieben weitere Fälle, die gute Chancen haben, eingestellt zu werden. Es lohnt sich also, in den Akten nachzusehen, ob man davon betroffen ist. Das Aktenzeichen, auf das man sich beziehen kann, ist dem Rücknahmebescheid des Polizeipräsidiums (siehe oben, verlinkte PDF-Datei) zu entnehmen.
Kein Urteil, weil kein Interesse mehr
Wie der Pressemitteilung des Verwaltungsgerichts Stuttgart zu entnehmen ist, musste das VG keine Entscheidung treffen und konnte das Verfahren einstellen, da zuvor das Polizeipräsidium den Bescheid über die Wegtragegebühr zurückgezogen hatte. Über (heiße) Luft kann schließlich nicht geurteilt werden. So ist zum „Prinzip der Wegtragegebühr“ noch nichts entschieden; das ist eines Tages Sache des Bundesverfassungsgerichts. Und darauf warten nicht nur Demonstranten und Anwälte, sondern sicher auch Polizeipräsidium und Verwaltungsgerichte. Höchst interessant ist die generelle Klärung über die Rechtmäßigkeit von Wegtragegebühren sicher. Gespannt darf man sein, ob sich der Staat diese Einnahmequelle nehmen lässt. Bis so ein Urteil gesprochen ist, heißt es in Stuttgart: Die Wegtragegebühr ist nicht nur ein heißes Eisen, sondern auch heiße Luft.
(Petra Brixel)
Wer eine Gebühr bezahlt oder eine Rechnung erkennt diese damit an. Außer mit dem Vermerk ..unter Vorbehalt..Denjenigen welche lieber nicht prozessieren wollten das nicht geraten zuhaben halte ich für ein schweres Versäumnis. Das betrifft die Räumungen und die Blockaden.
Wer aus einer nicht ordnungsgemäß aufgelösten Versammlung wegetragen wurde und die Wegtragebühr bezahlt hatte, aber innerhalb der 2-Wochen-Frist Einspruch eingelegt hatte, kann sich jetzt wohl an das Regierungspräsidium Stuttgart wenden (dorthin hat das Polizeipräsidium Stuttgart mangels Abhilfevermögen die Einsprüche weitergeleitet) und die Rückzahlung verlangen. Solche Einsprüche liegen dort seit Jahren unbeantwortet herum. 2011 war der Zinssatz nicht so niedrig wie heute …