Fotos: Jens Volle und Petra B.
Proteste, Demonstrationen und Blockaden am Bauzaun des S21-Projekts gab es mit bestimmten Themenschwerpunkten immer wieder: Wir erinnern uns an die Promiblockade, die Frauenblockade, die Unternehmerblockade, die Christenblockade und das Aus-Sitzen. Legendär war eine Geburtstagsblockade vor drei Jahren, bei dem der ahnungslose Demonstrant Gerhard W. sich am Morgen seines Ehrentages vor dem GWM-Zaun einfand und von den anderen Demonstranten mit einem grandiosen Banner und Frühstück überrascht wurde.
Geburtstagsblockaden sind keine Stuttgarter Erfindung, auch im Rahmen z.B. der Gorleben365- Initiative gab es Geburtstagsblockaden.
Am vergangenen Dienstag, 28. Oktober, und zwei Wochen davor hatten zwei Mitstreiterinnen der Blockadegruppe Geburtstag und da lag es nahe, den Ehrentag mit einem opulenten „Frühstück am Bauzaun“ zu beginnen. Beide Geburtstagskinder hatten dazu eingeladen: Ursel B. und Ernestine R. Beide gehören zu den konsequentesten MitstreiterInnen der Blockadegruppe und beide wollten genau an der Stelle ihren Geburtstag feiern, wo sie immer noch ihren Hauptprotest sehen: am Bauzaun nahe des ehemaligen Südflügels.
Schauen wir uns die demografischen Gegebenheiten des S21-Protests an, so sollen laut einer Umfrage 62 % der DemonstantInnen zwischen 40 und 64 Jahre alt sein, 23 % unter 40 Jahre. Bleiben also 15 % für „Ü64“. Ursel Bs. Geburtstag fällt in die „breite Masse“ mit ihren 60 Jahren, während Ernestine R. mit ihren 83 Jahren zu den sogenannten „Altersdemonstrantinnen“ gehört. Hut ab!
Bevor hier von diesen ganz besonderen Frühstücksereignissen berichtet werden soll, sei ein kurzer Rückblick auf die sogen. Blockadegruppe gestattet. Denn das „Frühstück am Bauzaun“ wird – nicht nur, aber auch - von der Blockadegruppe getragen. Dies insofern, als es eine kontinuierliche Versammlung ist (lt. Urteil des Verwaltungsgerichts Stgt. vom 13.06.2014 eine verfassungsrechtlich geschützte Versammlung), seitdem der erste Bauzaun am ehemaligen Nordflügel im Juli 2010 aufgestellt wurde. Der Grund der Versammlung ist seit mehr als vier Jahren der gleiche: Widerstand und Protest gegen das Bauprojekt S21, oftmals aufgrund von aktuellen Anlässen. „Baustellenblockaden sind sichtbarer Protest gegen das Milliardenprojekt und dienen dazu, öffentliche Aufmerksamkeit herzustellen“, urteilte das Verwaltungsgericht. Anlässe zu Protesten gab und gibt es viele. Damals – im Juli 2010 – hatten sich die ersten Demonstranten, die auch schon am Bauzaun übernachtet hatten, zu einer Gruppe Gleichgesinnter zusammengefunden. Sie zeigten ihren Widerstand genau an der Stelle, wo sich das Unrecht manifestierte. Seitdem hat die Gruppe demonstriert, protestiert, Workshops durchgeführt, informiert und diskutiert … oftmals dienstags beim „Frühstück am Bauzaun“.
Auf zwei Montagsdemos im Oktober dieses Jahres, am Abend vor den jeweiligen Geburtstagsfrühstücken, war auf der Bühne angekündigt worden, dass Ursel bzw. Ernestine ihre Geburtstage im Rahmen einer Demonstration am Bauzaun feiern wollen. Und so kamen am Morgen des 14. bzw. des 28. Oktober gegen 6:30 Uhr etwa 35 bzw. 20 gratulierende Demonstranten (oder demonstrierende Gratulanten) zum Bautor am Südausgang des Hauptbahnhofs. Schnell waren Tische aufgestellt, Kaffee und Kuchen darauf, mit Sekt wurde angestoßen.
Ursel B. bedankte sich am Dienstag, 14. Oktober, in einer Ansprache für „die solidarische und konstruktive Zusammenarbeit“. Und „Es macht großen Spaß, sich mit euch zusammen zu widersetzen und zu widerstehen“, betonte sie in ihrem politischen Statement und hob den ungebrochenen Kampf gegen S21 hervor. Sie erklärte nochmals, dass genau an dieser Stelle, wo sich das Unrecht so deutlich zeigt – am ehemaligen Mittleren Schlossgarten, am Grundwassermanagement, am ehemaligen denkmalgeschützten Südflügel, am Schauplatz des Schwarzen Donnerstag -, der Protest wichtig ist. „Hier nämlich, an der Straße am Schlossgarten, ist der Kristallisierungspunkt für geballtes Unrecht: Denkmalschutz, Naturschutz, Baurecht, Demonstrationsrecht, Menschenrechte … alles wurde in diesem engen Umkreis missachtet und geschändet. Das Unrecht aufdecken und anprangern, informieren, den Finger in die Wunde legen, mahnen, Sand im Getriebe sein, am Bauzaun stehen und immer wieder sagen, dass dies eine illegale Baustelle ist, die in Teilen weder geplant noch genehmigt ist … das ist extrem wichtig. Darum sind wir hier. Jeden Dienstag!“, rief sie.
Am Bauzaun hingen zwei aussagekräftige Banner: „Schluss mit Stadt- und Naturzerstörung“ und „Baustopp selber machen. Wir wi(e)der-setzen uns“ , beide von Rosanna erstellt, die für den Widerstand gegen S21 bereits 93 Banner in Handarbeit hergestellt hat (auch ihr Jubiläum beim 100. Banner gilt es demnächst zu würdigen!).
Sinnvolle Geschenke wurden übergeben, so eine gelbe Rose („… für dich soll´s gelbe Rosen regnen“, wurde gesungen), die Autobiografie des Friedensaktivisten Sternstein - der auch Mitglied in der Blockadegruppe ist und an diesem Morgen anwesend - , eine Sammlung von „Stärkungsmitteln“ inform von Müsliriegeln und einem Granatapfel (nicht zu verwechseln mit der militärischen Version).
Was die Sperrung der Baustellenzufahrt anging, so wurde diese einseitig vorgenommen, d.h. PKWs und LKWs konnten zwischen 6:30 und 9:30 Uhr weder rein- noch rausfahren, sie mussten den hinteren Eingang in Richtung Wolframstraße nehmen. Da die Baustelle also zumindest eine offene Zufahrt hatte, leitete auch die Polizei die Fahrzeuge in diese Richtung.
Gleichermaßen entspannt und fröhlich zeigte sich der lebendige Widerstand auch am vergangenen Dienstag, 28. Oktober. Wieder stand ein Tisch mit drei Kuchen, Saft, Kaffee und Sekt quer zur Fahrbahn vor dem Bautor. Ernestine mit ihren 83 Jahren wurde von ihrem Sohn begleitet. „Natürlich unterstütze ich meine Mutter, ich bin stolz auf sie,“ bestätigte dieser das bürgerschaftliche Engagement der unentwegten, ungebrochenen, ganz und gar nicht frustrierten oder entmutigten Demonstrantin.
Sie, die die Adenauer-Zeit in den 1950er Jahren miterlebt hatte, bestätigte mit ihrer Haltung im S21-Protest den Ausspruch des damaligen Kanzlers: „Wenn die anderen glauben, man sei am Ende, muss man erst recht anfangen.“ Und wer Ernestine kennt, weiß, dass sie es damit ernst meint. „Meine Mutter ist nie zu Hause“, sagte der Sohn lachend. Zwar ist Ernestine nicht die Älteste im Widerstand gegen S21, aber die Älteste in der Blockadegruppe. „Dich in der Gruppe zu haben, bedeutet Spaß“, wurde sie in einer Ansprache gelobt. „Du bist so positiv, so witzig, so humorvoll und pfiffig. Du hat eine ganz besondere Art, deine Weisheiten auch an Polizisten zu bringen. Und die hören dir zu, weil du eine Kombination aus großmütterlicher Herzlichkeit und offensiver Mission ausstrahlst“, hieß es weiter. Damit wurde auf ihr unverkrampftes Verhältnis zur Polizei angesprochen. Ein Beispiel gab Ernestine vor zwei Jahren, als sie kurz vor ihrer Personalienfeststellung bei einer Blockade noch den Polizisten liebevoll Hanuta statt ihres Personalausweises anbot. Als Bestechung wurde das nicht gesehen, wohl aber als humorvolle „Entwaffnung“ bei gleichzeitigem bewusstem Einsatz für die gerechte Sache. Typisch Ernestine!
„ Deine Argumente sind so umwerfend einfach und überzeugend, dass man dir nicht widersprechen kann“, hieß es im Hinblick auf Ernestines immer wiederkehrende Argumentation: „Stuttgart 21 ist schädlich für die Stadt und die Menschen. Stuttgart 21 ist schädlich für unsere Enkel.“
Die Laudatio endete mit den Sätzen:
„Es heißt, ein Mensch ist so jung wie seine Träume. Ernestine, du hast noch viele Träume, du bist nicht 83, du bist jung! Dein Traum ist, dass S21 nicht zu Ende gebaut wird, dass wir den Kopfbahnhof behalten. Und du bleibst jung, solange du mit anderen Menschen dafür kämpfst, dass dieser Traum Wirklichkeit wird. Dann – wenn es den ultimativen, finalen Baustopp gibt – dann kannst du alt werden!“
Auch am 28. Oktober mussten die ankommenden Fahrzeuge, PKWs wie LKWs, umkehren und die hintere Zufahrt von der Wolframstraße zur Baustelle nehmen. Polizei zeigte sich an diesem Morgen keine. Vielleicht wollte sie nicht in die Versuchung kommen, von der ansteckenden Fröhlichkeit und den sachbezogenen Demoreden ergriffen zu werden. Manchmal ist es eben doch besser, dem Artikel 8 des Grundgesetzes Vorrang zu geben und eine Versammlung dort abhalten zu lassen, wo sie hingehört: an den Ort, wo das Unrecht geschieht. In diesem Sinne: Happy Birthday!
(Petra Brixel)
Ihr habt meine volle Bewunderung. Euer Durchhaltevermögen ist grandios.
Ich danke Euch